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Über Medienzensur im Nahostkonflikt   --- Interview mit  Gideon Levy 

 

 Mario Vargas Llosa,  2.6.10

 

Diesel Artikel ist Teil einer Sonderausgabe von Haaretz zur israelischen Buchwoche.

 

Ich traf Gideon Levy vor fünf Jahren in Hebron, wohin wir aus demselben Grund gingen: um gewisse arabische  Familien ausfindig zu machen, die von israelischen Siedlern schikaniert wurden. Er ist ein sehr engagierter Journalist, der in seinen Artikeln, Reportagen und Kolumnen seine Ansichten – gewöhnlich kritisch gegenüber dem Establishment und der Regierung  - klar, ehrlich mit Talent und Mut ausdrückt. Ich wollte, dass Gideon mir hilft, die  widersprüchlichste und faszinierendste „passion“ (?)  in der Welt zu verstehen – die israelische Gesellschaft.

 

Meine 1. Frage Gideon: glaubst du, dass trotz der Tatsache, dass Deine Ansichten gewöhnlich gegen die Strömung gehen, du als Journalist deine Meinung frei äußern kannst?

 

GL: „absolut ja. Ich will  nicht übertreiben, auf Grund der Tatsache, dass ich  frei sprechen kann,  dies sollte eigentlich selbstverständlich sein. Das sollte kein Problem sein, weil wir doch behaupten, wir seien eine Demokratie. … Und viele Male benütze ich die Redefreiheit, um hier und im Ausland zu erklären, dass meine Stimme wichtig ist, und auch um zu zeigen, dass es in Israel  alternative Stimmen gibt. Dass Israelis nicht mit einer Stimme,  nicht in einem Chor sprechen und dass nach all dem Gerede über mich,  ich würde Israel Schaden zufügen  (was in Israel sehr üblich ist),  und dass ich der große Feind des Volkes sei. Dabei wird vergessen, dass ein Tag mit schwerem Bombardement auf Gaza viel mehr Schaden anrichtet als alle Gideon Levys Artikel zusammen. Doch, ich fühle mich frei zu schreiben und alles  zu sagen, was geschieht.“

 

Würden Sie dann sagen, dass es in Israel totale Redefreiheit gibt und dass die Medien ohne Zensuren  täglich genau das wiedergeben, was geschieht ?

 

GL „Absolut nicht. Die Medien sind die größten Kollaborateure. Die Medien in Israel – die meisten von ihnen – sind die größten Kollaborateure der Besatzung. Es gibt keine Zensur in Israel, fast keine. Aber da ist etwas, das  viel schlimmer als Zensur ist, die Selbst-Zensur, weil es bei Selbst-Zensur keinen Widerstand gibt. Wäre es Regierungszensur, würde es Widerstand geben. Dies ist Selbst-Zensur. Es handelt sich um eine Tyrannei der Einschaltquoten,  um die Tyrannei jener, die dem Leser gefallen wollen, um  die Tyrannei des Zeitungsverkaufs, um ja den Zeitungsleser nicht mit Dingen zu belästigen, die er nicht lesen will. Viele Journalisten  und viele Zeitungen und TV-Stationen in Israel vergessen oder wussten nie, welches die Rolle von Journalisten ist. Es geht nicht nur darum, dem Leser zu gefallen. Ich denke, wenn eines Tages ein  Historiker durch die Archive geht und die israelischen  Medien liest z.B. über die Operation Cast Lead oder über die Besatzung als Ganzes – dann wird er nichts davon verstehen. Er wird nicht verstehen, was hier geschehen ist, weil er dann z.B. einen israelischen Hund, der  während Cast Lead getötet wurde,  auf der ersten Seite der verbreitetsten Tageszeitung in Israel  sehen wird – und  am selben Tag auf S. 16  in zwei Zeilen, dass zig Palästinenser getötet wurden. Und das ist systematisch; die israelischen Medien entmenschlichen und dämonisieren die Palästinenser. Und während sie dies tun, sind sie wirklich die größten Kollaborateure der Besatzung.

 

Was Sie sagen gilt nicht nur für Israel, sondern wahrscheinlich für alle modernen Demokratien im Westen, die Banalisierung und Trivialisierung der Medien. Ich habe dies täglich in Israel gesehen und in jeder möglichen Art in den USA, Frankreich, Britannien, Spanien. Seltsamerweise sind  die Medien womöglich nur  in den Dritte-Welt-Ländern seriöser; sie neigen weniger dazu, den Leser zu unterhalten, als ihn objektiv zu unterrichten.

 

Aber ich denke, es wäre viel wichtiger in Israel, weil die zur Debatte stehenden  Probleme viel wichtiger  für die Zukunft sind. …

 

„Eine allgemeinere Frage ..

Israel ist  aus einer sozialen und wirtschaftlichen Perspektive eine sehr große Errungenschaft. Vor 60 Jahren war hier nichts und jetzt haben wir eine Kultur, die funktioniert, sehr reich, florierend, modern. Trotz der Kriege und all der sozialen Probleme ist Israel gewachsen und hat sich in außerordentlicher Weise verbessert. Es hat Menschen aus aller Welt in eine sehr komplexe und unterschiedliche Gesellschaft integriert. Aber dieselbe Gesellschaft, die dieses Wunder vollbrachte, ist nicht in der Lage, das Palästinaproblem zu lösen. Das ist das größte Rätsel.

GL: „So viel Talent, so viele Errungenschaften, so viel Mut würde ich sagen. Und doch, wenn   man zur offiziellen Religion Israels – der Sicherheit – kommt, sind wir alle Gefangene des Gewissens, das wir nie wirklich prüfen. Vielleicht sollten wir hier beginnen…. Es geht nicht mehr darum, einen Staat zu bauen. Es geht darum, ihn gerechter zu machen…Es geht nicht um die Existenz, es geht um  Gerechtigkeit…. Wir denken noch immer, wir bauen diese Außenposten wie  zu Beginn des Zionismus.“

 

Warum denken Sie, dass die israelische Gesellschaft  sich nach Rechts entwickelt oder sich zurück entwickelt hat – je nachdem wie Sie wollen – und die Linke systematisch in den letzten 10-15 Jahren geschrumpft ist?

 

GL: „Ich denke da vor allem, dass dies etwas darüber sagt, wie wenig solide die Linke vorher war, dass sie so leicht zusammenstürzen konnte, ja dass vor 10 Jahren nicht mehr viel übrig geblieben war. Es war sehr leicht, nach Oslo gewählt zu werden , als es all die romantischen Versprechen gab. Es gibt zwei Gründe, warum die Linke kollabierte: 1. Ehud Barak gelang es, die Lüge zu verbreiten, dass es keinen palästinensischen Partner gibt. Und 2. die explodierenden Busse und Selbstmordattentäter 2002 und 2003.

Der Terrorismus hat wirklich das linke Lager zerschlagen. Bei ihrem ersten wirklichen Test hat die Linke total versagt.“

 

Wenn Sie sagen sollten, welches der Probleme und Herausforderungen, denen Israel gegenüber steht, ist  am schwierigsten zu lösen, was würden Sie dann sagen?

 

„Die Einstellung der Leute zu ändern, ihnen verständlich machen, dass die Palästinenser Menschen sind genau wie wir. Solange  an dieser Stelle nichts geschieht, wird sich nichts ändern.

Und dies ist das Schwierigste, weil wir  40, wenn nicht 60,  oder gar 100 Jahre Gehirnwäsche, Entmenschlichung, Dämonisierung hinter uns haben. Das ist das Komplizierteste, das wir verändern müssen.“

Und nun die letzte Frage:

„Bitte beschreiben Sie das Israel, wie Sie es in 20 Jahren sehen wollen.

 

GL ( lacht) : „Mich als Ministerpräsident, und Sie als Präsident von Peru. Wir treffen uns in der Schweiz und diskutieren dort über Literatur. Könnte es besser sein?“  Nein.

„Also nichts wie ran!“ „Abgemacht!“      ( dt. und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs)