Im Anschluss an eine Rede des israelischen
Botschafters Yoram Ben-Zeev in der Evangelischen Akademie Bad Boll (Tagung
"60 Jahre Staat Israel") richtete ich einen Brief an ihn. Der
Botschafter beantwortete den Brief höflich und in freundschaftlichem Ton, ohne
allerdings auf die von mir geäußerte Sorge konkret einzugehen. Unter dem Eindruck der israelischen
Luftangriffe ab 27.12.2008 auf Gaza mit Hunderten von Toten und der Reaktionen
der Bundeskanzlerin und des Außenministers habe ich mich entschlossen, mein
Schreiben zu aktualisieren und es als Offenen
Brief zu veröffentlichen.
Sehr geehrter Herr Botschafter,
zur Vermeidung etwaiger Missverständnisse möchte ich Ihnen ein paar
Informationen zu meiner Person geben. Ich bin 1942 in Landsberg am Lech geboren.
Es ist die Stadt, in der Hitler 1923 in Festungshaft war und sein Buch
"Mein Kampf" geschrieben hat. Wenige Tage nach meiner Geburt ist mein
Vater im Krieg gefallen. In der Umgebung meiner Geburtsstadt entstanden ab
Sommer 1944 mehrere “KZ-Außenstellen“, in die - wie ich später erfuhr - ca.
30.000 Häftlinge aus Auschwitz (vorwiegend Juden) verbracht worden sind. Im
Winter 1944/45 starben von diesen Zwangsarbeitern mehr als die
Hälfte infolge von Hunger, Entkräftung und Kälte ("Vernichtung durch
Arbeit"). Die Erwachsenen sprachen nach Kriegsende wenig über die Lager
und über das Schicksal ihrer Bewohner, weshalb die teilweise verfallenen
Baracken zu Abenteuerspielplätzen für uns Kinder wurden.
Im Frühsommer 1967 – ich stand damals unmittelbar
vor meinem juristischen Staatsexamen - beunruhigten mich Meldungen, wonach
Israels arabische Nachbarn beabsichtigten, "die Juden ins Meer zu
treiben". Unter dem Eindruck der zivilisatorischen Katastrophe des
Holocaust und der verbliebenen Zeitzeugnisse in meiner Heimat, spürte ich
spontan Verantwortung für die Überlebenden der Shoah und für die Juden, die in
Palästina ihre Heimstätte gefunden hatten. Ich trug mich deshalb mit dem
Gedanken, mein Examen zurückzustellen und dem in seiner Existenz bedrohten
Staat Israel zu Hilfe zu eilen. Es kam nicht dazu, weil mich meine allein
stehende Mutter beschwor, nicht wegzugehen ("Ich habe bereits
meinen Mann im Krieg verloren, ich möchte nicht auch noch meinen Sohn im Krieg
verlieren").
Sprung in die Gegenwart: Kürzlich planten Neonazis
einen "Gedenkmarsch" durch meine Heimatstadt. Aufgrund vieler
empörter öffentlicher Meinungsäußerungen verging den braunen Marschierern
offensichtlich die Lust und es kamen nur ca. 50 Verblendete, die von mehr als
2.000 Menschen mit ohrenbetäubendem Lärm "empfangen" wurden. Dies
nährt die Hoffnung, dass wir Deutsche aus dem Niedergang des Dritten Reichs
gelernt haben.
Doch was ist für mich ganz persönlich geblieben von
1944/45 und von 1967?
Es sind dies neben der
Anteilnahme am langen Leidensweg des jüdischen Volkes insbesondere
Was bedeutet die Lehre der Geschichte hier und
heute?
Nichts, wozu Mut erforderlich ist. Gefragt ist
allein die Bereitschaft, hinzuschauen und das Gesehene beim Namen zu nennen
auch auf die Gefahr, dass man - vielleicht bewusst - missverstanden wird.
Nach meiner Wahrnehmung ist Israel vom rechten Weg
abgekommen (Vertreibungen, Besatzung, Verweigerung angemessener Lösungen für
Rückkehrer und für den Status von Jerusalem, Mauerbau, Siedlungspolitik,
Grenzregime, Absperrungen, Land- und Wasserraub, Boykottmaßnahmen, militärische
Vergeltungsmaßnahmen mit Häuserzerstörungen, Freiheitsentziehungen, Tötung
Unschuldiger, Sippenhaft, Missachtung des Völkerrechts). Manches, aber bei
weitem nicht alles, ist mit den legitimen Sicherheitsbedürfnissen Israels zu
rechtfertigen.
Das ist mir in den letzten paar Tagen wieder
bewusst geworden. Bei allem Verständnis für das historisch begründbare Gefühl
der Bedrohung des Staates Israel und seiner Bewohner gibt es keine
Rechtfertigung für die israelischen Militärschläge in Gaza. Angesichts der
Hunderten von Toten und Verwundeten ist es müßig, darüber zu rechten, wer die
Ursache gesetzt hat und wer "nur" reagiert hat. Selbst wenn man die
Luftangriffe des israelischen Militärs als Vergeltungsschläge bewerten würde,
bliebe der Tatbestand einer unverantwortlichen und völkerrechtswidrigen
Übermaßreaktion. Weder Steine werfende Jugendliche in den besetzten Gebieten,
noch die sinnlosen Qassamraketen und auch nicht die latente Bedrohung
israelischer Menschen durch palästinensische Selbstmorddesperados vermögen das
angerichtete Blutbad im Gazastreifen zu rechtfertigen. Die Auseinandersetzung
gleicht dem Kampf zwischen David und Goliath, jedoch mit der Besonderheit, dass
der palästinensische David mit seinen
Steinschleudern und Mörsergranaten absolut chancenlos ist gegen die Jagdbomber,
Kampfhubschrauber und Panzer der Militärmacht Israel. Das zeigt sich auch an
der dramatisch unterschiedlichen Zahl der Opfer.
Vor diesem Hintergrund sind die Reaktionen der
deutschen Bundesregierung Zeichen von bedrückender Einseitigkeit und letztlich
auch Ausdruck einer perspektivlosen Palästina-Politik. Weder die Einschätzung,
dass die Verantwortung für den Konflikt "eindeutig und
ausschließlich" bei der Hamas liege (Merkel), noch die Behauptung, die
Waffenruhe sei "einseitig" durch die Hamas aufgekündigt worden
(Steinmeier), sind in dieser schlichten Vereinfachung haltbar. Breite öffentliche
Kritik zeigt, dass sich viele Deutsche durch solche zwanghaften Bewertungen
ihrer politischen Führung nicht angemessen vertreten fühlen.
Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Botschafter,
ausdrücklich bitten, in Ihren Berichten an die israelische Regierung auch
diesem Gesichtspunkt Raum zu geben.
Im Übrigen hoffe
ich, dass Sie der Verweis auf meine Biografie erkennen lässt, dass ich Ihrem
Land nicht übel gesonnen bin. Ich habe vielmehr Sorge, dass sich Israel auf
einem verhängnisvollen Irrweg befindet, der letztlich sogar seine Existenz in
Gefahr bringen kann. Israel wird - wie Sie selbst in Bad Boll betont haben -
zunehmend zu einer Insel in einem "Meer aus Hass". Und dieser Hass
wurde in den letzten Tagen sicher nicht geringer.
Die militärische Überlegenheit Israels ist kein
Schutzschild für die Zukunft. Was würde geschehen, wenn Amerika seinen
schützenden Arm zurückzieht? Das ist heute nicht mehr undenkbar. Die
Vereinigten Staaten sind nämlich in den letzten Jahren selbst in große
wirtschaftliche, soziale und militärische Schwierigkeiten geraten. Sie sind
heute ihrerseits massiven Bedrohungen ausgesetzt, was die eigenen Kräfte
zusehends bindet. Auch in der EU mehren sich Stimmen, die eine weitere
Unterstützung Israels an die Beachtung humanitärer Mindeststandards knüpfen.
Das Europäische Parlament verschob deshalb kürzlich den Beschluss über ein
geplantes Assoziierungsabkommen mit Israel bis zur Beendigung der israelischen
Siedlungsbauaktivitäten und bis zur Aufgabe der Belagerung des Gazastreifens.
Es bleibt die unausweichliche Frage: Sind Deutsche
berechtigt, Kritik an Israel zu üben oder gar Empfehlungen abzugeben?
Ich bin mir sicher, dass Israel meiner Ratschläge
nicht bedarf. Ich glaube allerdings auch, dass echte Freunde Israels nicht nur
berechtigt, sondern sogar verpflichtet sind zu warnen, wenn sie Zeugen
folgenschwerer Fehlentwicklungen werden. Das gilt selbst dann, wenn abzusehen
ist, dass der andere die Mahnung nicht hören will.
Ich will es klar aussprechen: Wenn die deutsche
Politik fortfährt, angesichts von unübersehbaren Menschenrechtsverletzungen
wegzuschauen, zu schweigen oder einseitige Erklärungen abzugeben, dann
verringert sich hierdurch die historische deutsche Schuld gegenüber den Juden
nicht im Geringsten, aber Deutschland fügt dieser Schuld weitere Versäumnisse
hinzu. Denn es erweist sich gegenüber Israel als bequemer (schlechter) Freund.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine solche liebedienerische Haltung die vitalen
Interessen des palästinensischen Volkes missachtet.
Schlussbemerkung:
Israel ist zwar ein kleines Land, aber es
beherbergt ein großes Volk.
Auch Deutschland hat eine große
Geschichte. Dessen ungeachtet hat Deutschland der Welt bewiesen, dass auch
große Völker verhängnisvolle Fehler machen können.
Möge Israel das erspart bleiben!
Mit freundlichen Grüßen
Peter Vonnahme
Richter am Bayer.
Verwaltungsgerichtshof (a.D.)
Maximilianstr. 6
86916 Kaufering
Tel: 08191-6110
Mail:peter.vonnahme@onlinehome.de