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Ja, Du kannst es!
Uri Avnery, 8.11.08
IM JULI 2004 stand
der Parteitag der Demokratischen Partei
an, auf dem John Kerry zum
nächsten
Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte. Das
Organisationskomitee musste entscheiden, wer die Schlüsselrede halten sollte.
Nach der amerikanischen Tradition gibt diese Rede den Grundton für den gesamten
Parteitag an.
„Vielleicht sollten
wir dieses Mal einen schwarzen Redner haben?“ fragte jemand.
„Eine gute Idee,“ antwortete der Vorsitzende. „Aber wen?“
Mit zögerlicher
Stimme sagte jemand, er habe neulich in Chicago einen jungen Burschen mit einem
komischen Namen getroffen: „Er ist schwarz und ein ausgezeichneter Redner.
Vielleicht sollten wir es mit ihm versuchen?“
Ich weiß nicht, wer
diese Person war und ob solch ein Gespräch
stattgefunden hat. Wenn es so war, dann hat dieser Jemand Geschichte
gemacht.
„GEBT MIR Generäle,
die Glück haben!“ rief Napoleon einmal aus.
Es gibt Leute,
die Glück haben, weil sie wissen, wie
man das Glück mit beiden Händen packt und damit losrennt. Es ist eine Sache des
Talentes. Barack Obama ist
solch eine Person.
Seine Rede bei jenem
Parteitag vor nur vier Jahren war eine
Sensation. Sie inspirierte seine bedrängte Partei und ganz Amerika. Er brachte
eine ermutigende Botschaft, eine Botschaft der Hoffnung und vor allem eine
einigende Botschaft. Ihr Hauptmotiv war:
Lasst uns Amerika wieder vereinigen!
Es schien, dass von
den Hunderten von möglichen Botschaften dies die eine war, die das Herz der
zerrissenen amerikanischen Nation berührte. Zwischen dem Redner und der
Hörerschaft kam es zu einer Verbindung – zu der mystischen Verbindung, um die
jeder Redner kämpft, und die nur wenige erlangen. Es ist die Verbindung mit der Geheimnis umwitterten Sache, die ein deutscher Philosoph
„den Zeitgeist“ nannte.
Obama fühlte, dass er die Verbindung zur
amerikanischen Seele geknüpft hatte. Von diesem Moment an ließ er von dieser
Botschaft nicht mehr ab. Er hielt während der langen Wahlkampagne daran
fest. Sie brachte ihm den Sieg.
DAS WAR nicht
einfach. Als jemand, der mehrere unendlich viel kleinere Wahlkampagnen gemanagt hat, weiß ich, wie schwierig es ist,
ein festes Thema zu bestimmen und noch
schwieriger, selbst dran zu bleiben.
Im Lauf der
Wahlkampagne gibt es unzählige Versuchungen, von der zentralen Botschaft
abzuweichen, um auf Dinge zu reagieren, die gerade geschehen, vorübergehende
Gelegenheiten zu ergreifen oder auf Angriffe von Gegnern zu reagieren. Es ist
schwierig, sich zu beherrschen und den Kurs zu halten.
In der vergangenen
Woche rühmten viele Leute Obamas Kampagne. Ich bin
mir nicht sicher, ob sie alle begriffen haben, wie recht sie hatten. Er blieb cool,
als er hätte zornig werden können; er hätte
auf Diffamierungen und Beleidigungen
scharf antworten und mit
derselben Münze heimzahlen können. Er tat es nicht. Er blieb bis zum Ende fest
wie ein Felsen. John McCain andrerseits
wollte sich als Vorbild präsentieren – er ein Kriegsheld, ein netter
Kerl, ein Symbol von Anstand. Aber mehrere Male ließ er sich herab und
diffamierte. Er brachte diese vulgäre Lieferantin von Schmähungen mit sich, Sarah Palin. Im allerletzten Augenblick erlaubte er seinen
Anhängern, in Florida ein ekelhaftes Inserat zu veröffentlichen, das Obama anklagte, ein Freund
Fidel Castros zu sein und heimlich zu planen, die US in ein zweites Cuba
zu verwandeln. Allein dafür hat er es
verdient, zu verlieren – und das war es dann auch, was geschah.
Obama jagte nicht dem Glück hinterher. Das Glück
verfolgte ihn. Das Palin-Phänomen, ein unglaublich
dummer Akt seines Opponenten, brachte ihm die Stimmen der Frauen ein. Der
wirtschaftliche Kollaps, der sich auf der Höhe der Wahlkampagne ereignete, sicherte ihm den Sieg. Alle Teile
der amerikanischen Gesellschaft schrieen nach einer ermutigenden Botschaft,
einer Botschaft der Rettung.
AN HUNDERTEN von
Orten rund um die Welt lief die jubelnde Menge auf die Straße, um ihrer Freude
über die Wahlergebnisse Ausdruck zu verleihen. In jenen Momenten wurde der
Kontakt mit der Welt, den die groben Hände von Bush abgeschnitten hatte, wieder hergestellt.
In Tel Aviv fand
keine solche Feier statt. In ganz Israel herrschte bedrückte Stimmung. Das
offizielle Israel war wegen des neuen
Mannes beunruhigt.
Wenn es auf dem
zentralen Platz in Tel Aviv ein Fest gegeben hätte, wäre ich sicher dabei
gewesen. Aber meine Freude wäre nicht
ungetrübt gewesen, weil ich mich an das erinnert hätte, was auf demselben
Platz neun Jahre zuvor geschehen war. Zu
dieser Zeit hatte unser Barak - Ehud Barak
- die Wahlen gerade gewonnen. Das Land tat einen Seufzer
der Erleichterung, so wie in dieser Woche in den USA. Es schien wie ein Tag der
Erlösung. Binyamin Netanyahus
Amtszeit war eine vollkommene Katastrophe, ein Alptraum
von Korruption, Polarisierung und schlimmstem Versagen. Barak
erschien wie ein Retter. Hunderttausende jubelnder Menschen strömten zum
Rabinplatz, ohne dass jemand dazu aufgerufen hätte. Sie tanzten, sangen,
freuten sich und hörten der Rede Baraks, des Erlösers, zu.
Jeder weiß, was
danach geschah. Innerhalb weniger Monate brachte Barak
die Bevölkerung dazu, ihn zu verabscheuen.
Er versagte auf der ganzen Linie und begrub alles, was Yitzhak Rabin
aufgebaut hatte. Das Volk wandte sich von ihm ab und reichte die Krone an Ariel Sharon weiter. Die ganze Episode
dauerte weniger als zwei Jahre.
Ich hoffe aus ganzem
Herzen, dass so etwas dem amerikanischen Barack nicht
geschieht. Aber viele Leute werden sich in dieser Woche an dieses Kapitel
erinnern. Heute Abend werden viele Menschen wieder auf den Platz - auf
denselben Platz - strömen, um an der
jährlichen Gedenkfeier für Yitzhak Rabin, den Ministerpräsidenten, der auf
diesem Platz ermordet wurde, teilzunehmen. Dieser Platz trägt inzwischen seinen
Namen. Der Hauptredner ist - man mag es
kaum glauben - Ehud Barak.
IN DREI Monaten werden
in Israel allgemeine Wahlen stattfinden. Einen Barack
Obama wird es bei uns nicht geben.
Obama ist ein großer Politiker. Nach meiner
Definition ist ein großer Politiker ein Politiker, der nicht nach einem
Politiker aussieht. Wie Abe Lincoln, wie Mahatma
Gandhi, wie Franklin Delano Roosevelt, wie David Ben Gurion - sie alle sind große Spieler auf der
politischen Bühne gewesen, Politiker von Kopf bis Fuß. Aber sie sahen nicht so
aus. Ich denke, Obama ist einer von ihnen.
Der Mann, der sich
in Israel bei den nächsten Wahlen gute Chancen auf den Sieg ausrechnen kann
- Binyamin Netanyahu - ist
genau das Gegenteil. Aus jeder Pore strömt schäbige Politik. Während seiner
letzten Amtszeit als Ministerpräsident
war er ein hoffnungsloser Misserfolg. Falls er gewinnen sollte, wird sich
nichts zum Besseren verändern.
Ehud Barak ist eine weitere Antithese des amerikanischen Barack. Wie Netanyahu und Zipi Livni gehört er zur „weißen“
Ashkenazi-Elite. Er hat keine emotionale oder andere
Verbindungen mit den Minderheiten. Er ist ein Militarist durch und durch. Er
nützte z.B. die Nacht von Obamas Wahl – als die ganze Welt gebannt auf Amerika
blickte - dazu aus, die Waffenruhe zu
verletzen und eine provokative Militäraktion im Gazastreifen durchzuführen.
Es bleibt noch Zipi Livni. Ist etwas von Obamas Ausstrahlung an ihr hängen geblieben? Kaum zu sagen.
Sie ist keine große Rednerin. Sie ist überhaupt keine Rednerin und manche
Israelis sehen darin einen Vorteil. Aber sie verspricht „neue Politik“. Sie war
nie in Korruptionsskandale verwickelt wie der amtierende Ministerpräsident
und Netanyahu
und Barak. Sie hat keine militärische Aura. Ihre
Amtszeit als Außenministerin hat ihr einige Glaubwürdigkeit als Diplomatin
eingebracht.
Das einzige, was
fast alle Israelis vereint, ist die große Bedeutung, die guten Beziehungen mit
den USA aufrecht zu erhalten. Jeder
weiß, dass die augenblickliche Politik nur so lange möglich ist, solange es unbegrenzte
amerikanische Unterstützung gibt. Unter den drei Kandidaten scheint Zipi Livni diejenige zu sein, die
am ehesten in der Lage ist, mit dem neuen Präsidenten zusammen zu arbeiten. Die
Wahl Obamas kann ihr bei ihrer eigenen Wahl
behilflich sein, wenn sie es versteht, diese Gelegenheit recht auszunützen .
DIE FRAGE ist:
welche Politik wird Obama gegenüber Israel führen?
Jerusalem ist
besorgt, aber die Sprecher beruhigen sich selbst und die Öffentlichkeit mit dem
hebräischen Sprichwort, dass „der Dämon nicht so schrecklich ist.“. Der neue
Kongress ist anders als der letzte, was das Gleichgewicht der Kräfte betrifft,
aber seine Furcht vor der Pro-Israel-Lobby wird
unverändert sein. Der Einfluss der zionistischen Evangelikalen wird zwar viel
geringer sein, aber die AIPAC ist „alive and kicking“, und ihre Tritte werden wie immer schmerzhaft
sein.
Wer auch immer der
neue Staatssekretär und die anderen Minister
sein werden, der israelische Ministerpräsident wird direkten Zugang zum
Büro des US-Präsidenten haben. Der neue Türhüter, der den wohlklingenden israelischen Namen Ram Immanuel trägt ( Ram
bedeutet hoch, Immanuel „Gott mit uns“) ist der Sohn eines Irgun-Veteranen,
einem israelischen Untergrundkämpfer. Ram wuchs in
einer jüdischen Familie auf, spricht hebräisch und eilte der israelischen Armee während des Golfkriegs
zu Hilfe. Ich kenne seine Ansichten über
den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht, aber sicher wird er den Weg des israelischen Ministerpräsidenten
zum US-Präsidenten nicht blockieren.
Falls es einen
Wandel geben wird, wird er
wahrscheinlich langsam und schrittweise vor sich gehen. Aber selbst dies wäre
schon bedeutsam.
Chancen für Fortschritt in Richtung eines
israelisch-palästinensischen Friedens wird es ohne amerikanischen Druck auf die
israelische Regierung nicht geben. Das
hat Jahrzehnte lang gegolten und gilt
auch heute noch.
Alle amerikanischen
Präsidenten nach Dwight Eisenhower fürchteten sich, solch einen Druck
auszuüben. Diejenigen, die es versuchten wie Richard Nixon zu Beginn seiner
Amtszeit, zogen diesen schnell wieder zurück. Die einzige Ausnahme war Bush
Senior oder vielmehr sein Staatssekretär James Baker, aber dessen Druck (auf
den Geldbeutel) dauerte auch nicht lange.
Effektiver
amerikanischer Druck muss nicht
notwendigerweise brutal sein. Er sollte sanft sein, aber entschieden und
fest. Dies würde zu Obamas Temperament passen.
Wenn die neue
amerikanische Regierung sich entscheidet, die amerikanischen nationalen
Interessen im Nahen Osten neu zu überdenken,
und zu dem Schluss kommt, dass der israelisch-arabische Friede ein wesentliches
Erfordernis der Nach-Bush-Ära
ist, dann muss der neue Präsident den
neuen Ministerpräsidenten von dieser Tatsache informieren und
höflich, aber eindeutig darum bitten,
den Siedlungsbau einzufrieren und
mit neuen Verhandlungen zu beginnen - und dieses Mal nicht nur,
um die Zeit zu vertreiben, sondern um noch 2009
ein endgültiges Abkommen zu erreichen.
Viele Israelis
würden ihm dafür danken. Es ist sogar möglich, dass auch unser nächster
Ministerpräsident/ unsere nächste Ministerpräsidentin ihm in einem verborgenen Winkel seines/ihres
Herzens danken wird.
Wird der neue
amerikanische Präsident dies tun? Ist Barack Obama dazu in der Lage?
Es gibt nur eine
mögliche Antwort darauf: ja, Du kannst es!
(Aus dem Englischen, Ellen Rohlfs und
Christoph Glanz vom Verfasser
autorisiert)
International Herald Tribune bat unmittelbar nach Obamas
Sieg zehn Leute rund um den Globus um
einen Kommentar; einer von diesen war Uri Avnery 6.11. 2008
Gut
für Israel?
Die Israelis
fragen natürlich: Ist er „gut für Israel“? nach alter jüdischer Weise muss
diese Frage mit einer anderen Frage beantwortet werden: „Für welches Israel?“
Ich wage zu hoffen, dass Obama sich als Freund des
„anderen Israel“ erweisen wird, des Israels, das den Frieden sucht.
So
weit es die nationalen Interessen der USA betreffen, ist der „weitere Nahe
Osten“ kein sekundäres Theater. Es ist eines der wichtigsten, und die neue
Regierung wird sich von Anfang an mit ihm befassen müssen. Hier ist auch die
Theaterbühne, auf der die katastrophalen Fehlschläge von Bush am offensichtlichsten
sind. Es wäre im amerikanischen
Interesse, für unsere Region eine neue Seite aufzuschlagen und wirklich für einen
israelisch-palästinensischen, israelisch-syrischen, israelisch-all-arabischen
und vielleicht sogar für einen israelisch-iranischen Frieden zu arbeiten.
Ich
hoffe von ganzem Herzen, dass Obama Israel weiter
unterstützen wird – nicht das Israel der Tyrannen und der Heuchler, die
behaupten, Friedensverhandlungen zu führen, während sie Siedlungen vergrößern,
die Schraube der Besatzung in den besetzten Gebieten noch enger anziehen und
über das Bombardieren des Iran plappern, sondern das Israel der stillen
Mehrheit, die für Frieden bereit ist und nach einer amerikanischen Regierung
schreit, die für eine reale Friedensinitiative den entscheidenden Anstoß
gibt. ( dt. Ellen Rohlfs)