Uri Avnery, 26.1.08
ES SAH AUS wie der Fall der
Berliner Mauer. Und es sah nicht nur so aus. Einen Augenblick lang war der Rafah-Übergang das Brandenburger Tor.
Es ist unmöglich, nicht die
Hochstimmung mitzuempfinden, als die Massen der unterdrückten und hungrigen
Leute die Mauer durchbrachen und mit strahlenden Augen jeden, den sie trafen,
umarmten – dies mitzufühlen, auch wenn es die eigene Regierung ist, die die
Mauer überhaupt errichtet hat.
Der Gazastreifen ist das
größte Gefängnis der Erde. Der Durchbruch der Rafahmauer
war ein Befreiungsschlag. Er beweist, dass eine unmenschliche Politik immer
eine dumme Politik ist: Keine Macht der Welt kann eine Masse Menschen
aufhalten, die die Grenze der
Verzweiflung überschritten hat.
Das ist die Lektion von Gaza
im Januar 2008.
MAN KÖNNTE den berühmten
Ausspruch des französischen Staatsmannes Boulay de la
Meurthe leicht
verändert wiederholen: „Es ist schlimmer als ein Kriegsverbrechen, es ist ein
törichter Fehler !“
Vor Monaten verhängten die
beiden Ehuds – Barak und Olmert – eine Blockade über den Gazastreifen und brüsteten sich damit auch noch. In
letzter Zeit haben sie die tödliche Schlinge noch enger gezogen, so dass kaum
mehr etwas in den Gazastreifen gelangen konnte. Letzte Woche wurde die Blockade
absolut gemacht – keine Lebensmittel und keine Medikamente. Sie erreichte ihren
Höhepunkt, als man auch die Brennstofflieferungen aussetzte. Große Teile des
Gazastreifens blieben ohne Strom – Brutkästen für die Frühgeburten,
Dialysemaschinen, Wasserpumpen und Pumpen für die Abwässer. Hunderttausende
blieben bei strenger Kälte ohne Heizung; sie waren nicht in der Lage zu kochen, die Lebensmittel
gingen zu Ende.
Immer wieder sandte Al-Jazeera die Bilder in Millionen Häuser
der arabischen Welt. TV-Stationen in aller Welt zeigten sie ebenfalls.
Von Casablanca bis Amman brachen wütende
Massenproteste aus und erschreckten die arabischen Regime. In Panik rief Hosny Mubarak Ehud Barak an. An jenem
Abend war Barak gezwungen, wenigstens vorübergehend
die Brennstoffblockade aufzuheben, die er am Morgen verhängt hatte. Abgesehen
davon, blieb die Blockade total.
Man kann sich kaum eine
dümmere Aktion vorstellen.
DER GRUND für das Aushungern
und Frieren-lassen von anderthalb Millionen Menschen,
die auf einem Gebiet von 365 qkm zusammen gedrängt leben, ist die andauernde Beschießung der
Stadt Sderot und der umliegenden Ortschaften.
Das ist ein gut ausgewählter Grund. Er vereinigt die einfacheren und armen Teile der israelischen Gesellschaft. Er macht die Kritik der UN und der Regierungen in aller Welt unwirksam, die sich sonst gegen die Kollektivstrafen ausgesprochen hätten, die zweifellos nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen sind.
Der Welt wird ein klares Bild
präsentiert: das Hamas-Terrorregime in Gaza feuert Raketen auf unschuldige
israelische Zivilisten. Keine Regierung der Welt kann es dulden, dass
seine Bürger von jenseits der Grenze bombardiert
werden. Das israelische Militär hat keine militärische Antwort auf die Qassam-Raketen gefunden. Also gibt es keinen anderen Weg,
als auf die Bevölkerung von Gaza einen solch starken Druck auszuüben, dass
sie sich gegen die Hamas erhebt und sie
zwingt, das Abfeuern von Raketen zu stoppen.
An dem Tag, an dem das
Kraftwerk in Gaza aufhörte, Strom zu liefern, waren unsere
Militärkorrespondenten voller Freude: es wurden nur zwei Qassams
vom Gazastreifen abgeschossen.. Das funktioniert also!
Ehud ist ein Genie!
Aber am Tag danach, als 17 Qassams landeten, war die Freude verpufft. Politiker und
Generäle waren (buchstäblich) verrückt geworden: ein Politiker schlug vor „
noch wahnsinniger als sie zu handeln“,
ein anderer schlug vor „ für jede Qassam das urbane Gaza wahllos zu bombardieren“, ein
berühmter Professor (der ein bisschen verwirrt ist), schlug vor, das „äußerste
Böse“ anzuwenden.
Das Regierungsszenario war
eine Wiederholung des 2. Libanonkrieges (Der Bericht der Untersuchungskommission
wird in ein paar Tagen veröffentlicht). Damals nahm die Hisbollah auf der
israelischen Seite der Grenze zwei Soldaten gefangen; jetzt feuerte die
Hamas auf Städte und Dörfer auf der israelischen Seite der Grenze. Damals
entschied die Regierung übereilt, einen Krieg anzufangen; jetzt entschied die
Regierung übereilt, eine totale Blockade zu verhängen. Damals befahl die Regierung, eine massive
Bombardierung der zivilen Bevölkerung, um sie dahin zu bringen, Druck auf die
Hisbollah auszuüben; jetzt entschied die Regierung, das Leben der zivilen
Bevölkerung im Gazastreifen unerträglich zu machen, um sie dahin zu bringen,
auf die Hamas Druck auszuüben.
Die Folgen waren in beiden Fällen dieselben: die libanesische
Bevölkerung erhob sich nicht gegen die Hisbollah, im Gegenteil, die Menschen
aller religiösen Richtungen vereinigten sich hinter der schiitischen
Organisation, Hassan Nasrallah wurde der Held der ganzen arabischen Welt. Und jetzt vereinigt sich die Bevölkerung in Gaza hinter der Hamas und
beschuldigt Mahmoud Abba der Zusammenarbeit mit dem grausamen Feind. Eine
Mutter, die ihren Kindern nichts zu essen geben kann, verflucht nicht Ismail Hanijeh, - sie verflucht Olmert,
Abbas und Mubarak.
WAS ALSO tun? Schließlich ist
es unmöglich, das Leiden der Bevölkerung von Sderot,
die unter ständigem Beschuss liegt, zu tolerieren.
Was vor der verbitterten Öffentlichkeit verborgen blieb, ist , dass das Abfeuern der Qassams
schon morgen früh gestoppt werden könnte.
Schon vor mehreren Monaten
hatte die Hamas einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Sie wiederholte dieses
Angebot in dieser Woche.
Ein Waffenstillstand bedeutet
nach Ansicht der Hamas: die Palästinenser werden aufhören, Qassams
und Mörsergranaten abzufeuern, die Israelis werden aufhören, in den
Gazastreifen einzufallen, mit dem gezielten Töten aufhören und die Blockade beenden.
Warum nimmt unsere Regierung
diesen Vorschlag nicht an?
Sehr einfach: um solch einen
Deal auszuhandeln, müsste man mit der Hamas sprechen - direkt oder indirekt. Und genau das weigert
sich, unsere Regierung zu tun.
Warum? Wieder sehr einfach. Sderot dient nur als Vorwand – so wie die beiden gefangenen
Soldaten ein Vorwand für etwas ganz anderes waren. Der wirkliche Zweck der ganzen Übung ist, das
Hamasregime im Gazastreifen zu Fall zu
bringen und so zu verhindern, das sie die Westbank
übernimmt.
Einfach und unverblümt
gesagt: die Regierung opfert das Schicksal der Sderotbewohner
auf dem Altar eines hoffnungslosen Prinzips. Für die Regierung ist es
wichtiger, Hamas zu boykottieren – weil sie jetzt die Speerspitze des
palästinensischen Widerstandes ist - als
das Leiden von Sderot zu beenden. Alle Medien
wiederholen diese Lüge.
ES IST schon früher einmal
gesagt worden, dass es in unserm Land gefährlich sei, eine Satire zu schreiben
– zu oft wird die Satire Wirklichkeit. Der ein oder andere Leser mag sich
vielleicht an einen satirischen Artikel erinnern, den ich vor Monaten schrieb.
In ihm beschrieb ich die Situation im Gazastreifen als wissenschaftliches Experiment, das
herausfinden sollte, wie lange man eine
zivile Bevölkerung aushungern und ihr Leben zur Hölle machen kann, bis sie ihre Hände
erhebt und sich ergibt.
In dieser Woche ist diese
Satire offizielle Politik geworden. Anerkannte Kommentatoren erklärten
explizit, dass Ehud Barak
und die Armeechefs nach dem Prinzip der „empirischen Lösung“ vorgehen und
ihre Methoden täglich nach den Ergebnissen verändern. Sie unterbrechen
die Brennstofflieferung zum Gazastreifen, beobachten, wie dies funktioniert,
und machen einen Rückzieher, wenn die internationale Reaktion zu negativ ist.
Sie stoppen die Lieferung von Medikamenten, beobachten, wie das funktioniert
etc. Das wissenschaftliche Ziel rechtfertigt die Mittel.
Der Mann, der das Experiment
durchführt, ist Verteidigungsminister Ehud Barak, ein Mann
vieler Ideen und wenig Skrupel,
ein Mann, dessen Neigung grundsätzlich unmenschlich ist. Er ist jetzt
vielleicht die gefährlichste Person in Israel, gefährlicher als Ehud Olmert und Binyamin Netanyahu, auf die Dauer
gefährlich für die pure Existenz
Israels.
Der für die Ausführung
verantwortliche Mann ist der Generalstabschef. In dieser Woche hatten wir Gelegenheit, die Reden von zweien seiner
Vorgänger, General Moshe Ya’alon und Shaul Mofaz zu hören. Es war ein Forum mit übertrieben intellektuellem Anspruch. Bei beiden entdeckte man Ansichten, die sie
irgendwo zwischen die extreme Rechte und die
Ultra-Rechte platzierten. Beide haben eine erschreckend primitive
Gesinnung. Man muss kein Wort über die
moralischen und intellektuellen Qualitäten ihres direkten Nachfolgers Dan Halutz
verlieren. Wenn dies die Stimmen der drei letzten Generalstabschefs sind, wie
steht es dann um den augenblicklich Amtierenden, der nicht so offen wie sie
reden kann? Ist dieser Apfel weiter weg
vom Stamm gefallen?
Bis vor drei Tagen konnten die Generäle der Meinung sein, das Experiment habe Erfolg gehabt. Das Elend im Gazastreifen
hatte seinen Höhepunkt erreicht. Hundert Tausende sind von aktuellem Hunger
bedroht. Der Chef der UNWRA warnte vor einer unmittelbar bevorstehenden menschlichen Katastrophe. Nur die Reichen
konnten noch mit einem Auto fahren, ihre Wohnung heizen und sich satt essen.
Die Welt stand daneben und rührte ihre
kollektive Zunge. Die führenden Köpfe der arabischen Staaten geben nichtssagende Phrasen des Mitleids von sich, ohne einen
Finger zu rühren.
Barak, der mathematisch nicht unbegabt ist, konnte sich
ausrechnen, wann die Bevölkerung schließlich zusammenbricht.
UND DANN geschah etwas, was
keiner von ihnen voraussah, obwohl es das am ehesten voraussehbare Ereignis auf
der Erde war.
Wenn man anderthalb Millionen
Menschen in einen Dampfkochtopf steckt und ihn weiter anheizt, dann wird er
explodieren. Genau das ist an der Grenze zu Ägypten geschehen.
Zunächst gab es eine kleine
Explosion. Eine Menge stürmte das Tor, ägyptische Polizisten eröffneten das
Feuer, Dutzende wurden verwundet. Das war eine Warnung.
Am nächsten Tag kam der große
Angriff. Palästinensische Kämpfer sprengten die Mauer an mehreren Stellen in
die Luft. Hunderttausende brachen auf
ägyptisches Gebiet durch und holten tiefen Luft.
Die Blockade war gebrochen.
Mubarak war in eine
unmögliche Situation geraten. Hundert Millionen Araber, eine Milliarde von
Muslimen hatten gesehen, wie die israelische Armee den Gazastreifen von drei
Seiten abgesperrt hat, vom Norden, vom Osten und vom Meer her. Die vierte Seite
der Blockade wurde von der ägyptischen Armee ausgeführt.
Der ägyptische Präsident, der
die Führung der ganzen arabischen Welt
beansprucht, wurde als Kollaborateur bei einer unmenschlichen Operation
eines grausamen Feindes angesehen – um
die Gunst (und das Geld) der Amerikaner zu gewinnen. Seine internen Feinde, die
Muslimbrüder, nützten die Situation aus, um ihn vor den Augen seines eigenen
Volkes anzuprangern.
Es ist zweifelhaft, ob
Mubarak in dieser Position hat stand halten können.
Aber die palästinensischen Massen erleichterten ihm die Entscheidung. Sie
entschieden für ihn. Sie brachen aus wie eine riesige Tsunami-Welle.
Nun muss er sich entscheiden, ob er sich Israel beugt, um die Blockade über die
arabischen Brüder wieder zu verhängen.
Und wie ist es mit Baraks Experiment? Wie
sieht der nächste Schritt aus? Es gibt nur wenige Optionen.
(a)
Den Gazastreifen
wieder zu besetzen. Die Armee liebt diese Idee gar nicht. Sie begreift, dass
dies Tausende von Soldaten einem grausamen Guerillakrieg aussetzen würde, der
nicht wie eine Intifada verlaufen würde.
(b)
Die Blockade
wieder enger ziehen und extremen Druck auf Mubarak ausüben, einschließlich der
Anwendung des israelischen Einflusses auf den US-Kongress, um ihm die zwei oder
mehr Milliarden vorzuenthalten, die er jedes Jahr für seine Dienste bekommt.
(c)
Aus der Not eine
Tugend machen, indem er den Streifen Mubarak überlässt unter dem Vorwand, dass
dies schon immer Baraks verborgener Wunschgedanke
war. Ägypten müsste für Israels Sicherheit sorgen und den Abschuss der Qassams verhindern und seine eigenen Soldaten dem
palästinensischen Guerillakrieg aussetzen
-- als es dachte, endlich die
Bürde dieses armen und unfruchtbaren Gebietes los zu sein, nachdem die
Infrastruktur durch die israelische Besatzung zerstört worden war.
Wahrscheinlich wird Mubarak sagen: Danke, das ist sehr freundlich von
euch, aber nein danke!
Die brutale Blockade war ein
Kriegsverbrechen. Und was noch schlimmer
ist: sie war ein törichter Fehler.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)