Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Wenn ein Volk, das vor noch 
nicht langer Zeit solch unaussprechliche Unmenschlichkeiten erfahren hat, 
die Ungerechtigkeit und das Leiden nicht verstehen kann, die seine 
territorialen Ambitionen verursachen, wie viel Hoffnung bleibt uns dann noch?
Nach Israels blutigem 
Überfall auf die Gaza -Flotilla rief ich einen Freund in Israel an, mit dem ich 
schon ein Leben lang befreundet bin und fragte ihn nach der Stimmung im Lande. 
Er ist ein Intellektueller, ein freundlicher und 
großzügiger Mann, stand aber trotzdem lange auf Seiten der israelischen 
Hardliner. Doch  auf seine Antwort 
war ich völlig unvorbereitet. Er sagte mir – mit vor Erregung zitternder Stimme 
– so wie die Welt jetzt Israel verurteilt, erinnert ihn das an die dunklen 
Zeiten der Hitler-Ära.
Er sagte mir, dass fast 
alle in Israel so denken würden – mit der Ausnahme von Merez, einer kleinen 
israelischen  Friedenspartei. „ Aber 
sie sind doch Araber.“
So wie ich hat auch mein 
Freund persönlich diese dunklen Hitlerjahre durchgemacht, lebte unter 
Nazi-Besatzung wie so viele israelisch jüdische Bürger. Deshalb war ich über die 
Analogie fassungslos. Er sagte weiter, dass die sog. Menschenrechtsaktivisten 
auf dem türkischen Schiff tatsächlich Terroristen 
und bezahlte Schlägertypen gewesen seien, um die israelischen Behörden 
mit einem Vorfall zu provozieren, damit der jüdische Staat diskreditiert werde. 
Der Beweis dafür wäre  - so sagte er 
– dass bei vielen dieser Aktivisten von den israelischen Behörden 
10 000 Dollar gefunden worden wären, „genau dieselbe Summe“.
Als ich mich nach dem 
Schreck dieses Wortwechsels  erholt 
hatte, kam mir in den Sinn, dass die Beschwörung der Hitler-Ära tatsächlich eine 
erschreckend passende Analogie ist, allerdings nicht im Sinne meines Freundes. 
1.5 Millionen Zivilisten werden seit drei Jahren gezwungen, in einem 
Open-air-Gefängnis unter unmenschlichen Bedingungen zu leben, aber dieses Mal 
sind es nicht Juden, sondern Palästinenser. Ihre Gefängniswärter sind – kaum zu 
glauben  - die Überlebenden des 
Holocaust oder deren Nachkommen. Den Insassen des Gazagefängnisses stehen 
natürlich keine Gaskammern bevor wie den Juden damals; aber sie sind auf eine 
minderwertige und hoffnungslose Existenz reduziert worden.
Ganze 80% von Gazas 
Bevölkerung lebt am Rande von Unterernährung und hängt von internationalen 
Hilfslieferungen für die tägliche Ernährung ab. Nach der UN und den 
Weltgesundheitsbehörden (WHO)  
leiden Gazas Kinder dramatisch unter zunehmender Morbidität, die sich auf ihr 
Leben auswirken und das Leben vieler verkürzen wird. Diese Obszönität ist eine 
Folge absichtlicher und sorgfältig berechneter israelischer Politik zur 
Rückentwicklung des Gazastreifens, in dem man nicht nur seine Wirtschaft 
zerstört, sondern auch seine physische und soziale Infrastruktur, während man 
ihn hermetisch von der Außenwelt absperrt. 
Ganz besonders erschreckend 
ist, dass diese Politik  für einige 
israelische Führer  die Quelle von 
Belustigung war; nach einigen Presseberichten 
wurde beschrieben, wie man die Palästinenser „auf Diät setzt“. Auch das 
erinnert an die Hitlerjahre, als das jüdische Leiden die Nazis amüsierte. 
Ein anderer Charakterzug 
aus dieser dunklen Ära waren absurde Verschwörungen, die man den Juden zumutete 
durch ansonsten intelligente und kultivierte Deutsche. Leider sind 
auch intelligente Juden nicht immun gegen solch eine Krankheit. Ist es 
wirklich denkbar, dass türkische Aktivisten, denen angeblich zehntausend Dollar 
gezahlt wurden, soviel Geld  mit an 
Bord nehmen, wenn sie wissen, dass sie von den israelischen Behörden gefangen 
genommen werden?
Dass intelligente und 
moralische Leute – ob Deutsche oder Israelis - 
einander  mit solchen 
Absurditäten überzeugen können, das ist ein Rätsel, das bis ins Innerste des 
Mysteriums geht, wie sogar  
zivilisierteste Gesellschaften so schnell ihre höchsten Werte beiseite lassen 
und zu den primitivsten Impulsen gegenüber dem anderen 
zurückkehren, ohne dass ihnen bewusst wird, dies zu tun. Es muss etwas 
mit einer absichtlichen Unterdrückung der moralischen Vorstellungskraft zu tun 
haben, die sonst Leute befähigt, sich mit dem Elend des anderen zu 
identifizieren. Pirkey Avot, eine Sammlung 
ethischer  Ermahnungen, die 
ein Teil des Talmuds ist, drängt: „Verurteile Deinen Nächsten nicht, bis du dir 
vorstellen kannst, in seiner Lage zu sein.“
Natürlich wird selbst die 
anstößigste israelische Politik nicht mit Hitlers Politik verglichen. Aber die 
wesentlichen moralischen Themen sind dieselben. Wie würden wohl Juden gegenüber 
ihren  Quälern reagiert haben, wäre 
ihnen so eine Art Existenz bestimmt gewesen, wie sie Israel über Gazas 
Bevölkerung verhängt hat? Würden sie nicht die 
Menschenrechtsaktivisten, die ihr Leben riskieren, um die Welt 
auf ihr Elend aufmerksam zu machen, 
als Helden sehen, auch wenn sie die Soldaten geschlagen hatten, die ihre 
Bemühungen zu verhindern versuchen?  
Haben denn Juden die britischen Kommandos bewundert, die (damals z.B.) an Bord 
der Exodus kamen  und die Schiffe 
umleiten wollten, die nach dem 2. Weltkrieg illegale jüdische Immigranten nach 
Palästina brachten, so wie jetzt Israelis die israelische Marinekommandos 
bewunderten.
Wer würde geglaubt haben, 
dass eine israelische Regierung und ihre jüdischen Bürger versucht haben würden, 
israelische Menschenrechtsorganisationen zu dämonisieren und still zu legen, 
weil sie zu wenig „Patriotismus“ hätten und jüdische Landsleute entlassen, die 
den Angriff auf die Gazaflotille kritisieren und sie alle als „Araber“ 
kennzeichnen, verbunden mit allen hasserfüllten Assoziationen, die das Wort in 
Israel in sich trägt, nicht viel anders als die Deutschen, die ihre Landsleute 
brandmarkten, die sich für Juden  
als „Juden“ einsetzten. Die deutschen Aktivisten der „Weißen Rose“, Studenten 
der Universität München, die wagten, die deutsche Verfolgung der Juden zu 
verurteilen ( lange bevor die Vernichtung durch die KZs begann) wurden 
von ihren Landsleuten auch als „Verräter“ angesehen, die die Todesstrafe 
dieser Aktivisten durch die Gestapo nicht betrauerten. 
Deshalb gibt es für 
Israelis und  allgemein für Juden 
einen Grund, lang und gründlich in dieser besonderen Zeit über die dunkle 
Hitlerära nachzudenken. Denn die Bedeutung des Vorfalls mit der Gaza-Flotille 
liegt nicht in den Fragen über Verletzungen des Internationalen Rechts auf hoher 
See oder  darüber „wer hat wen 
zuerst“ auf dem türkischen Schiff Mavi Marmara angegriffen, sondern in der 
größeren Frage über unseren allgemeinen menschlichen Zustand durch Israels 
Besatzungspolitik und seiner Zerstörung der zivilen Bevölkerung 
des Gazastreifens. 
Wenn ein Volk, das am 
eigenen Leib vor noch nicht langer Zeit unbeschreibbare Unmenschlichkeiten 
erfahren hat,  nicht die moralische 
Vorstellungskraft aufbringen kann, um die Ungerechtigkeit und das Leiden zu 
verstehen, das seine territorialen  
Ambitionen und selbst seine legitimen Sicherheitsbelange bei einem anderen Volk 
verursacht , was für  Hoffnung 
bleibt da für den Rest von uns? 
Henry Siegman, Direktor des US/Nahostprojektes ist ein Gastprofessor des Sir-Joseph-Hotung-Nahost-Programmes, Schule für Orientalische und Afrikanische Studien, Universität London. Er ist ein früherer Seniormitarbeiter über den Nahen Osten am Council on Foreign Relations. Vorher war er nationaler Direktor des US-jüdischen Kongresses von 1978 bis 1994.
(dt. Ellen Rohlfs)