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Kommentar
zur Stuttgarter Konferenz und Stuttgarter Erklärung
Ilan Pappe,
12.1.11
Vor kurzem
wurden die Organisatoren der Stuttgarter Konferenz und besonders jene, die die
Stuttgarter Erklärung unterschrieben haben, von mehreren deutschen Autoren und
Politikern heftig kritisiert, auch in dem für Deutsche aus der linken Mitte so
typischen aggressiven Ton.
Abgesehen
von den unwichtigen Aspekten des Streits – wie dem Stil und die eigenartige
Fokussierung auf irgendeine Person, die die Erklärung unterschrieben hat –
sollten die wesentlichen Fragen und Gesichtspunkte hervorgehoben werden, mit der
diese Konferenz einen so wichtigen Beitrag für den palästinensischen Kampf
geleistet hat.
Unter den
Aktiven im Kampf um Palästina gibt es auf der einen Seite das orthodoxe
Herangehen und auf der anderen eine neue herausfordernde Bewegung. Das orthodoxe
Herangehen gründet seine Friedensvision auf eine Zwei-Staaten-Lösung und auf der
tiefen Überzeugung, dass eine Veränderung der israelischen Gesellschaft durch
das dortige Friedenslager eine gerechte Lösung bringen wird. Zwei völlig
souveräne Staaten würden nebeneinander existieren, sie würden sich einig werden
in der Frage der palästinensischen Flüchtlinge und gemeinsam über die Zukunft
Jerusalems entscheiden. Dies schließt auch den Wunsch mit ein, Israel als einen
Staat all seiner Bürger zu sehen und nicht nur als einen jüdischen Staat – der
jedoch seinen jüdischen Charakter behalten soll.
Diese Vision
gründete sich einerseits auf den Wunsch, den Palästinensern zu helfen und
andererseits auf realpolitische Überlegungen. Sie nährt sich aus einer
Überempfindlichkeit gegenüber den Wünschen und Ambitionen der mächtigen
israelischen Seite und aus einer übertriebenen Rücksichtnahme auf das
internationale Kräfteverhältnis und sie will vor allem auch der amerikanischen
Grundposition und Haltung zu diesem Problem entgegenkommen. Es ist dennoch eine
aufrichtige Position und in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der
Position der politischen Eliten des Westens. Diese waren viel zynischer als sie
ihre sanftere Version der orthodoxen Sicht ins Spiel brachten. Diese Politiker
wussten und wissen sehr wohl, dass ihr Diskurs und Plan Israel erlaubt, die
Enteignung Palästinas und der Palästinenser ohne Unterbrechung fortzusetzen. Es
ist kein glaubwürdiges Rezept zur Beendigung der Kolonisierung Palästinas.
Bei den
Aktivisten hat die orthodoxe Sicht allmählich an Bedeutung verloren. Sie wird
noch immer hochgehalten vom offiziellen Friedenslager in Israel und von den
liberalen zionistischen Organisationen weltweit, ebenso wie von den linkeren
Politikern in Deutschland und Europa. Im Namen der Realpolitik und der Effizienz
wird sie auch in gewisser Weise immer noch von guten Freunden, wie Norman
Finkelstein und Noam Chomsky, vertreten.
Doch die
große Mehrheit der Aktivisten wollen sie nicht mehr. Die BDS-Bewegung, die durch
die palästinensische Zivilgesellschaft innerhalb und außerhalb Palästinas
initiiert wurde, das wachsende Interesse und die Unterstützung für eine
Ein-Staaten-Lösung und die Entstehung eines entschiedeneren, wenn auch kleinen,
antizionistischen Friedenslagers in Israel haben zu alternativem Denken geführt.
Die neue
Bewegung, die von Aktivisten in aller Welt, in Israel und in Palästina,
unterstützt wird, folgt dem Beispiel der Anti-Apartheid-Solidaritätsbewegung.
Das gesamte Palästina war und ist ein Gebiet, das kolonisiert wurde und noch
immer kolonisiert und durch Israel in der einen oder anderen Weise besetzt wird
und die Palästinenser leben unter diversen legalen und repressiven
Herrschaftsformen. Es ist deshalb notwendig, die Realität vor Ort fundamental zu
ändern, bevor es zu spät ist.
Mit anderen
Worten, wir sind Zeugen eines Paradigmenwechsels, der von diesem neuen
Aktivismus vertreten wird. (Er hat natürlich viele Elemente alter Ideen aus der
PLO-Charta von 1968 und von Aktivistengruppen wie der Abna al-Balad, Matzpen,
der PFLP und PDFLP übernommen und der heutigen Realität angepasst, Ideen die
1993 im Namen der Realpolitik fallengelassen wurden.) Das neue Paradigma besteht
auf der Analyse Israels als einen kolonialen Siedlerstaat des 21. Jahrhunderts,
dessen Ideologie das Haupthindernis für Frieden darstellt. Es sucht friedliche
Mittel zur Veränderung dieses Regimes für alle, die dort leben und für jene, die
von dort vertrieben wurden.
Aktivismus
um des Aktivismus willen ist sinnlos. Aktivismus muss sich auf eine Analyse
gründen und eine Prognose vorschlagen. Zionismus war und ist eine koloniale
Siedlerbewegung und Israel ist ein kolonialer Siedlerstaat. So lange dies so
bleibt, wird selbst ein Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen und die
Schaffung eines Bantustans, die Enteignung und die ethnische Säuberung, die 1948
begann, nicht beenden. Die Bantustans haben die Apartheid in Südafrika nicht
beseitigt.
Die neue
Bewegung, die mit der Konferenz in Stuttgart ein bedeutendes Zeichen setzte,
gibt der Unterstützung für Palästina und den Palästinensern von außerhalb neuen
Auftrieb. Sie kann sich aber nicht mit der Frage der palästinensischen
Vertretung befassen – dieses Problem kann nur von den Palästinensern selbst
gelöst werden – auch nicht mit der Frage, wie die israelischen Juden am besten
die Verantwortung für die ethnische Säuberung Palästinas übernehmen sollten und
wie eine andere Zukunft erreicht werden kann, in der Araber und Juden
zusammenleben können. Aber in Stuttgart waren beide, Palästinenser und Israelis,
vor allem auf dem Podium zahlreich vertreten. Die Stuttgarter Erklärung
beschreibt sehr gut die Hoffnung beider Seiten, die von anderen moralisch
unterstützt wird. Sie enthält Vorschläge für Aktionen in Europa, um die
Enteignung von Palästina – nicht nur in kleinen Bereichen – zu beenden.
Es ist nicht
töricht, auf einen Regimewechsel in Israel zu hoffen, es ist nicht naiv, sich
einen Staat vorzustellen, in dem alle gleich sind, und es ist nicht
unrealistisch, sich für die bedingungslose Rückkehr der palästinensischen
Flüchtlinge in ihre Heimat einzusetzen. Diese Sehnsüchte behindern nicht den
Kampf gegen die täglichen israelischen Übergriffe in Palästina. Im Gegenteil,
sie geben uns die einzig mögliche rationale Erklärung, warum wir mit demselben
Engagement und mit der gleichen moralischen Kraft gegen die Zerstörung von
Häusern in Jerusalem, im Negev und im Gazastreifen Widerstand leisten müssen.
Stuttgart
war eine Station. Der Zug fährt jetzt woanders weiter, zu Universitäten in
Amerika, Kirchen in England und Versammlungsräumen von Gewerkschaften in Europa.
Hoffen wir, dass er auch Synagogen erreicht. Der Kampf gegen den Zionismus
sollte mit nichts anderem verwechselt werden. Der Zionismus ist eine
außergewöhnliche Ideologie, eine Ideologie mit einem Staat und einer Armee. Sie
schadet nicht nur den Palästinensern, sondern auch den Juden, wo immer sie sind
– auch den Juden in Israel.
Wir sollten
den Organisatoren danken, die Erklärung unterzeichnen und vorwärts gehen.
Palästina kann nicht auf deutsche Bedenken und Skrupel Rücksicht nehmen. Wir
sollten Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen
praktizieren. Dies ist der einzige Weg, der von außen beschritten werden kann,
damit beide Völker in Palästina künftig eine faire Chance haben, eine bessere
Zukunft zu bauen.
(dt. Ellen Rohlfs/ Doris Pumphry)