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Ilan Pappe: Wie Israel Palästina in das größte Gefängnis der Welt verwandelt

 

www.middleeasteye.net/news/interview-ilan-Pappe-44144233

 

22. Dezember 2017

(Auszug eines Interviews mit Middleeasteye.net MEE)

 

MEE: Wie passt dieses Buch zu ihrem vorherigen „Die ethnische Säuberung der Palästinenser  im 1948-Krieg?

IP: Es ist tatsächlich eine Fortsetzung meines früheren Buches „Die Ethnische Säuberung“.   Ich sehe das ganze Projekt des Zionismus als eine Struktur und nicht als ein Ereignis. Eine Struktur der Siedler-Kolonisierung , durch die eine Bewegung von Siedlern ein homeland kolonisiert. So lang wie die Kolonisierung nicht vollkommen ist, und die einheimische Bevölkerung Widerstand durch eine nationale Befreiungsbewegung leistet, ist jede dieser Perioden, die ich ansehe, eine Phase innerhalb derselben Struktur.

Auch wenn „Das größte Gefängnis..“  ein historisches Buch ist, befinden wir uns noch innerhalb desselben historischen Kapitels. Es ist noch nicht vorbei. In dieser Hinsicht sollte es später wahrscheinlich ein drittes Buch geben, das auf die Ereignisse des 21.Jahrhunderts schaut und wie dieselbe  Ideologie der ethnischen Säuberung und Enteignung in der neuen Ära erfüllt werden wird, und wie die  Palästinenser Widerstand leisten.

MEE: Sie sprechen über die ethnische Säuberung, die im Juni 1967 stattfand. Was geschah  den Palästinensern damals auf der Westbank und im Gazastreifen? Wie war dies anders von der ethnischen Säuberung im 1948-Krieg?

IP: 1948 gab es einen sehr klaren Plan (Plan Dalet): man wollte so viele Palästinenser wie möglich aus so viel Palästina wie möglich vertreiben. Das koloniale Siedlerprojekt war davon überzeugt, es hätte die Macht, einen jüdischen Raum in Palästina zu schaffen, der total ohne Palästinenser ist. Das funktionierte nicht wirklich, doch war es erfolgreich, wie man weiß. 80% der Palästinenser, die in dem lebten, das der Staat Israel wurde, wurden zu Flüchtlingen.

Wie ich in dem Buch aufzeige, gab es einige israelische Politiker, die dachten, wir könnten 1967 dasselbe tun wie 1948. Aber die Mehrheit von ihnen verstand, dass der 1967-Krieg ein sehr kurzer Krieg war, nur 6 Tage. Und es gab  schon Fernsehen. Und ein paar der Leute, von denen sie wünschten, dass sie vertrieben werden, waren schon Flüchtlinge von 1948.

Deshalb denke ich, dass die Strategie nicht ethnisches Säubern in derselben Weise war, wie sie 1948 durchgeführt wurde. Es war eher eine schrittweise ethnische Säuberung. In einigen Fällen vertrieben sie aus bestimmten Gebieten wie Jericho, die Altstadt Jerusalem und rund um Qalqilja Scharen von Leuten. Aber in den meisten Fällen entschieden sie, dass militärische  Herrschaft und eine Belagerung die Palästinenser in ihren eigenen Gebieten einschließt – das würde genau so förderlich sein, wie das Vertreiben.

Von 1967 bis heute gibt es eine sehr langsame  ethnische Säuberung, die sich wahrscheinlich  über eine Periode von 50 Jahren erstreckt und sie ist so langsam, dass es manchmal nur eine Person pro Tag betrifft. Aber wenn man auf das ganze Bild von 1967 bis heute schaut, sind es hundert Tausende Palästinenser, denen es nicht erlaubt ist, auf die Westbank  oder auf den Gazastreifen zurückzukehren.

MEE:  Sie unterscheiden zwischen zwei militärischen Modellen, die Israel  benützt: Das offene  Gefängnis-Modell in der Westbank und das höchste Sicherheitsmodell im Gazastreifen. Wie definieren Sie diese beiden Modelle. Gibt es da militärische Begriffe dafür?

IP: Ich verwende diese Ausdrücke als Metapher, um die beiden Modelle, die Israel den Palästinensern in den besetzten Gebieten anbietet. Ich bestehe darauf, diese Ausdrücke anzuwenden, weil ich denke, die Zwei-Staaten-Lösung ist tatsächlich das offene Gefängnismodell.

Die Israelis kontrollieren die besetzten Gebiete direkt oder indirekt; sie versuchen nicht, in die dicht bewohnten  Städte und Dörfer einzudringen. Sie  trennten den Gazastreifen 2005 ab und heute trennen sie die Westbank ab . Es gibt eine jüdische Westbank und eine palästinensische Westbank, die nicht mehr ein zusammenhängendes territoriales Gebiet ist.

Im Gazastreifen sind die Israelis die Aufseher, die die Palästinenser von außen beobachten, aber sie mischen sich nicht in das ein, was sie drinnen tun.

Die Westbank ist wie ein Freiluft-Gefängnis, in das man geringfügige Kriminelle schickt, denen es erlaubt ist, nach draußen zu gehen und außerhalb zu arbeiten.  Und innerhalb ist kein strenges Regime – aber es ist noch ein Gefängnis. Selbst der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas braucht die Israelis, wenn er von Zone B in die Zone C gehen will, um für ihn das Tor zu öffnen. Dies ist für mich sehr symbolisch, dass selbst der Präsident nicht  ohne den israelischen Gefängniswärter nach Zone C gehen kann.

Darauf gibt es natürlich immer eine palästinensische Reaktion – sie sind nicht passiv und sie akzeptieren dies nicht. Wir erlebten die 1. Und die 2. Intifada und vielleicht erleben wir noch eine 3. Intifada. Die Israelis  sagen den Palästinensern in der Mentalität der Gefängnisregie: wenn ihr Widerstand leistet, werden wir euch alle Privilegien nehmen, wie wir das im Gefängnis tun. Ihr werdet nicht mehr außerhalb arbeiten können. Ihr könnt euch nicht mehr frei bewegen und ihr werden kollektiv bestraft.

MEE: Die internationale Gemeinschaft verurteilt nur scheu das Bauen und Erweitern der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Sie betrachten es nicht als einen größeren Teil von Israels kolonialer Struktur, wie Sie es in dem Buch beschreiben. Wie begannen die israelischen Siedlungen und welches war die Grundlage davon, rational oder religiös?

IP: Nach 1967 gab es zwei Karten über Siedlungen oder die Kolonisierung: eine strategische Karte, die von der Linken in Israel entworfen wurde. Der Vater dieser Karte war der verstorbene Yigal Allon, der Hauptstratege, der mit Moshe Dayan 1967  einen Plan erarbeitete, um die Westbank und den Gazastreifen zu kontrollieren. Ihr Prinzip war strategisch, nicht so sehr ideologisch, obwohl sie davon überzeugt waren, dass die Westbank zu Israel gehört.

Sie waren mehr daran interessiert, sicher zu gehen, dass Juden nicht in den dicht bevölkerten arabischen Gebieten siedeln. Sie sagten, dass überall dort, wo Palästinenser nicht  in konzentrierter Weise leben, wir siedeln können. Sie fingen  also mit dem Jordantal an, in dem nur kleine Dörfer liegen und wo es nicht so dicht bewohnt war, wie in andern Teilen.

Das Problem für sie war, dass, als sie  ihre strategische Karte  zeichneten, eine neue messianisch religiöse Bewegung auftauchte, Gush Emunim, eine religiöse, nationale Bewegung von Juden, die nicht nach der strategischen Karte  siedeln wollten. Sie wollten nach der biblischen Karte siedeln. Sie hatten die Idee, dass die Bibel ein Buch ist, das ihnen genau sagt, wo die alten jüdischen Städte sind. So geschah es, dass diese Karte zeigte, dass Juden mitten in Nablus, Hebron und Bethlehem mitten in den palästinensischen Gebieten siedeln sollten.  

Als erstes versuchte die israelische Regierung, diese biblische Bewegung zu kontrollieren, dass sie strategischer siedeln würde. Aber mehrere israelische Journalisten haben gezeigt, dass Shimon Peres, der Minister für Verteidigung, in den frühen 70ern  entschied, in den biblischen Siedlungen zu siedeln. Die Palästinenser in der Westbank waren zwei Karten der Kolonisierung ausgesetzt, der strategischen und der biblischen.

Die Internationale Gemeinschaft versteht, dass nach dem Völkerrecht es nichts ausmacht, ob es eine strategische oder biblische Siedlung ist  - sie sind alle illegal.

 Bedauerlich ist aber, dass die internationale Gemeinschaft von 1967 die israelische Formel akzeptierte, die besagt „Die Siedlungen sind illegal, aber vorübergehend: wenn es erst mal zum Frieden kommt, werden wir versichern, dass alles legal wird. Aber solange es keinen Frieden gibt, benötigen wir die Siedlungen, weil wir immer noch mit den Palästinensern im Krieg sind.

MEE: Sie sagen, dass „Besatzung“ nicht das akkurate Wort ist, um die Realität in Israel  die Westbank und den Gazastreifen zu beschreiben. Und in einem Dialog mit Noam Chomsky was Palästina betrifft, kritisieren  Sie  den Terminus „Friedensprozess“. Der ist umstritten. Warum sind die Ausdrücke nicht akkurat?

IP: Ich denke, dass die Sprache sehr wichtig ist. Die Art und Weise, wie man eine Situation beschreibt, können die Chancen  beeinflussen, sie zu ändern.

Wir haben die Situation in der Westbank und im Gazastreifen und innerhalb Israel mit den falschen Wörtern festgelegt: Besatzung bedeutet immer eine vorübergehende Situation.

Die Lösung für Besatzung ist das Ende der Besatzung. Das eingedrungene Militär zieht sich in sein Land zurück. Doch dies ist weder in der Westbank, noch in Israel oder im Gazastreifen der Fall. Dies ist Kolonisierung, obwohl es wie ein anachronistischer Terminus  im 21. Jahrhundert klingt. Ich denke, wir sollten verstehen, dass Israel Palästina kolonisiert. Es begann damit Ende des 19. Jahrhunderts und kolonisiert es bis heute.

Es gibt ein koloniales Siedler-Regime, das ganz Palästina auf verschiedene Weise kontrolliert. Den Gazastreifen kontrolliert es von außen. Die Westbank kontrolliert es in den Zonen A, B und C verschieden. Es hat verschiedene Methoden gegenüber den Palästinensern in den Flüchtlingslagern. Es erlaubt den Flüchtlingen nicht, zurückzukommen. Das ist eine andere Art, die Kolonisierung aufrecht zu erhalten, indem man den vertriebenen Leuten nicht erlaubt, zurückzukehren. Das ist alles ein Teil derselben Ideologie.

Ich denke also, dass die Wörter Friedensprozess und Besatzung, wenn man sie  gemeinsam benützt, einen falschen Eindruck schaffen. Dass es nur nötig sei, dass das israelische Militär aus  der Westbank und dem Gazastreifen abziehen müssen – und dann ist Frieden zwischen Israel und dem zukünftigen Palästina.

Jetzt ist das israelische Militär nicht im Gazastreifen und nicht in Zone A und kaum in Zone B, wo es nicht sein muss. Aber es gibt keinen Frieden. Dort ist eine Situation, die bei weitem schlimmer ist, als sie vor dem Oslo-Abkommen 1993 war.

Der sog. Friedensprozess ermöglicht es, dass Israel noch mehr Kolonisierung treibt – dieses Mal aber mit internationaler Unterstützung. Deshalb rege ich an, über Entkolonialisierung und nicht über Frieden zu reden.  Ich schlage vor, über den Wechsel des legalen  Regimes zu reden, das das Leben der Israelis und der Palästinenser regiert.

Ich denke, wir sollten über einen Apartheid-Staat reden  und über ethnische  Säuberung. Wir sollten herausfinden, was die Apartheid ersetzt. Wir haben mit Süd-Afrika ein gutes Beispiel. Die einzige Art und Weise, die Apartheid zu ersetzen, ist ein demokratisches System: eine Person, eine Stimme oder wenigstens ein bi-nationaler Staat. Ich denke, es sind diese Art von Wörtern, die wir zu benützen beginnen sollen; denn wenn wir weiter die alten Wörter benützen, verschwenden wir nur Zeit und  Bemühungen und wir werden die Realität vor Ort nicht verändern.  …..

(dt. und stark gekürzt:  Ellen  Rohlfs)