Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Gideon Levy und Alex Leva 6.11. 15
Haartez
Die Erfahrung eines B’tselem Mitarbeiters beginnt in großer Furcht und endet mit seltenem Dialog
Es war
lang nach Mitternacht. Der letzte Wagen war
vor drei Stunden durchgefahren und
seitdem war die Straße leer gewesen. Weder Siedler noch Palästinenser wagten, zu
dieser Stunde durchzufahren. Es ist
als wäre freiwillige nächtliche Ausgangssperre. Es ist dunkel hier und
unheimlich.
Plötzlich nähert sich ein Wagen. Die drei Soldaten am Checkpoint stehen auf.
Infanteriesoldaten und drei israelische Zivilisten wurden hier bei der letzten
Intifada von einem
palästinensischen Heckenschützen getötet, der sie vom Hügel jenseits des Weges
erwischte. Die Soldaten, die jetzt hier sind, waren damals noch Kinder, aber sie
wissen, dass es in diesen Tagen an der Schnellstraße 60
für jeden gefährlich ist.
Die
Schnellstraße läuft durch das ganze Zentrum der Westbank, und dieser
Haramiya-Checkpoint teilt sie hier in zwei Teile. Er war
einige Jahre lang nicht besetzt. Aber jetzt ist die Armee zurück am
Checkpoint, der direkt an der Hauptstraße zwischen
Ramallah und Nablus liegt – zwischen den Siedlungen
Ofra und Shilo. Der Wagen nähert sich langsam. Die Soldaten machen ihre
Waffen zurecht. Der Fahrer hatte Angst, auch die
Soldaten – so schien es.
Abed
Al-Karim a-Saadi ist Mitarbeiter
von B’tselem der nördlichen Westbank: dem israelischen Informationszentrum für
Menschenrechte in den besetzten Gebieten.
Ein 52Jähriger Vater von vier Kindern lebt noch im selben Dorf – Atil,
nördlich von Tul Karem - wo er geboren wurde. Er hat ein Diplom in Psychologie
von der An-Najah-National-Universität in Nablus und ist einfühlsam und
sozial. Seine berufliche Karriere wird durch Zusammenarbeit mit Israelis
und Palästinensern gekennzeichnet. Er arbeitete für die palästinensische Behörde
im Distrikt –Büro als Verbindungsmann mit Israel an der Allenby-Brücke in
palästinensischen und internationalen Menschenrechts-Organisationen und in den
letzten zehn Jahren hat er
mit B’tselem zusammengearbeitet.
Saadi
ist einer der seltenen und gefährdeten: ein Palästinenser, der noch nie
verhaftet gewesen war. Letzte Woche
entschied er sich, nach Ramallah zu gehen, um ein Theater-Stück anzusehen. Die
Ereignisse dieser Nacht, die er – noch immer sehr bewegt -
uns lebendig erzählte, sind eine kleine Geschichte der Westbank-Routine,
ohne Blut oder Gewalt, doch mit einer Moral .
Am
Dienstagmorgen untersuchte Saadi Klagen über Siedlergewalt im Raum Tulkarem. Als
er am Nachmittag nach Hause kam, rief ihn ein Freund, ein deutscher Photograph
und Journalist an und sagte ihm, dass er und seine Frau
an diesem Abend in Ramallah sich Hamlet ansehen wolle und zwar in einer
lokalen Produktion auf Englisch, und dass sie dazu Saadis Sohn Osama, einen
Bau-Ingenieur der Stadt einladen
wollen.
Saadi hatte eine Idee. Er würde sie
überraschen und sich ihnen anschließen- „ Ich dachte, ich könne damit zwei Vögel
mit einem Stein treffen,“ sagte er. Denn die letzten paar Wochen hatten ihn aus
Angst, auf der Straße zu fahren, daran gehindert, den Sohn zu besuchen, und er
wollte nicht unnötig nach Ramallah fahren.
Er
duschte, wechselte die Kleidung, verabschiedete sich von seiner Frau und fuhr
nach Ramallah. „Es ist das 1. Mal in meinen 29 Jahren Arbeit, dass ich Angst
habe, auf den Hauptstraßen zu fahren,“
gab er zu. „Ich hatte nie so
viel Angst - vor den Siedlern und
der Armee. Es ist jetzt so leicht zu töten. Aber ich sagte zu mir selbst: „Hab
keine Angst“.
Nachdem
er sich bei einem Taxifahrer erkundigt hat, welches die sicherste Straße sei,
entschloss er sich für die Schnellstraße 60. Er kam gegen Abend nach Ramallah,
traf seinen Sohn und dessen Freund und ging mit ihnen ins Theater und danach in
ein Restaurant, das Ziryab. Er und das deutsche Paar waren dort bis nach
Mitternacht, als die Besucher in ihr Hotel gingen. Sein Sohn war früher
gegangen.
Und was
sollte er jetzt tun. Saadi wollte seinem Sohn keine Umstände machen und ihn
fragen, ob er bei ihm schlafen könne. Und Osama hatte auch kein übriges Bett.
Saadis Freund in der Stadt antwortete nicht am Telefon. Sie müssen schon ins
Bett gegangen sein. Er dachte daran, im Wagen zu schlafen, aber er fürchtete die
palästinensische Polizei. Schließlich entschloss er sich, allen Mut zusammen zu
nehmen und nach Hause zu fahren, nach Atil. Um sicher zu gehen, rief er noch
einen Freund in Turmus Aya an, das auf halbem Weg liegt und bat ihn, mit ihm in
Kontakt zu bleiben, um sicher zu gehen, dass alles gut gehen wird.
Er
verließ Ramallah etwas nach 12 Uhr30. Die Straße war leer und bedrohlich.“ Nicht
mal Hunde waren draußen – nur ich allein“ Bald kam er nach
Wadi Haramiya, wo der bemannte Checkpoint war. Er fuhr sofort sehr
langsam und entdeckte aus einiger Entfernung
drei Soldaten. Die ihm mit Taschenlampen signalisierten, anzuhalten Er
fuhr auf die rechte Seite der Straße . Ihre Gewehre waren auf ihn gerichtet. Sie
befahlen ihm, auf die andere Straßenseite zu kommen, den Motor aus zu machen und
raus zu kommen.
Die
nächsten 7-10 Sekunden waren die längsten in seinem Leben, sagte Saadi jetzt:
„Ich sagte zu mir selbst: Dies ist der Moment, in dem sie mich töten werden. Sie
werden einen Grund finden, mich zu erschießen. Es sind drei. Es gibt keine
Augenzeugen; sie können immer sagen, dass ich versucht hätte, sie anzugreifen
und sogar ein Messer zeigen. Keiner wird je wissen, was geschehen ist.
Dann war
er aber glücklich“, fügte er hinzu.
Er stieg
aus dem Wagen aus und grüßte die Soldaten mit dem freundlichsten „guten Abend!“,
was er unter diesen Umständen sagen konnte – er machte es uns vor. Sie sagten
ihm, er solle seinen Gepäckraum öffnen. Er fühlte Erleichterung. Sie sprachen
mit ihm. Das erleichterte ihn, weil es ihm gelungen war, sie zu
beruhigen.“Jeder, der die Angst an den Checkpoints schon erfahren hat, weiß,
dass der gefürchtetste Augenblick
der ist, bevor man zu reden beginnt.
Der
Verdacht der Soldaten tauchte auf, als sie eine Gasmaske im Kofferraum fanden.
„Was ist das?“ fragten sie. Er zeigte seinen B’tselem-Ausweis und erklärte, dass
die Außenarbeiter der Organisation
zum Schutz mit einer Gasmaske fahren würden. Er erzählte den Soldaten,
dass B’tselem eine Menschenrechtsorganisation sei, indem er das hebräische Wort
für „Menschenrechte“ benützte. Das Gespräch wurde
in drei gebrochenen Sprachen
geführt: Hebräisch, Arabisch und Englisch.
Was
bedeutet Menschenrechte, fragte der Offizier. „Das war für mich eine
Gelegenheit, so viel wie möglich zu reden,“ erzählte Saadi. Dann begann ein
Dialog, der bis tief in die Nacht ging. Ein IDF-Offizier und zwei Soldaten auf
der einen Seite und ein palästinensischer Zivilist auf der anderen. Die Soldaten
versuchten, ihre Langeweile zu überwinden, er versuchte, seine Angst zu
zerstreuen. Er wusste, dass solche Gelegenheiten wie diese fast nie kommen.
Saadi
erklärte dem Offizier die Bedeutung des Ausdrucks „Menschenrechte“ und
erzählte ihm von der Genfer Konvention
und über das Völkerrecht und das Israelische Recht. Er sagte, er sei selbst ein
unpolitischer Beobachter. Die beiden Soldaten
kamen näher, um zu lauschen. Sie hätten seine Söhne sein können. Zuerst
sahen sie ihn ausdruckslos, ja drohend an. Aber ihr Ausdruck
wurde langsam weicher. Er spürte, dass sie anfingen, Interesse zu
bekommen. Dann fragte einer von ihnen, was es bedeutet, ein Shahid, ein Märtyrer
zu sein.
„Das war
eine schwierige Frage für mich,“
sagt Saadi. Ich fragte sie, ob sie
die kurze Antwort haben wollen oder die lange. Beide, sagten sie. Die kurze
Antwort war: „Wenn ihr mich jetzt erschießt, wird morgen
ein Plakat erscheinen, auf dem steht: „ Abed Al-Karim a-Saadi – Shahid“
Die lange Antwort: Mein Gott und euer Gott und der Gott der Christen ist
derselbe Gott. Ich glaube, dass er uns geschaffen hat und dass nur er dem Leben
ein Ende setzen kann. Deshalb kann nur er allein bestimmen, wer ein Shahid ist.
Die
Soldaten schienen die Antwort zu mögen, dachte er. Sie fingen an, ihn mit Herr
Saadi anzusprechen. Aber die nächste Frage war nicht leichter: Warum
gehen eure Leute mit Messer auf uns los?
Ich
fragte sie , ob sie wollen, dass ich ehrlich mit ihnen sei und sagte: „Ich
möchte meine Leute nicht verteidigen, die Zivilisten oder Soldaten mit Messer
angreifen; aber aus demselben Grund, kann ich euch nicht verteidigen, die ihr
Palästinenser tötet; zuweilen sogar, nachdem ihr sie unterworfen habt. Aber ich
würde euch gerne
in die Schuhe eines Palästinensers eures Alters versetzen. Stellt euch
vor, ihr wäret Mohammed: Ihr wäret
arbeitslos, es gäbe keine Möglichkeit, Arbeit zu finden, ihr hättet keine
Hoffnung, Soldaten sprühten euch mit Tränengas an , manchmal sogar ins Haus“
„Was
würdet ihr tun – die Soldaten küssen?
Sie lieben? Gestern wurde einer
getötet, der vor zwei Tagen an einer Beerdigung eines andern jungen Mannes
teilgenommen hat und er sah, wie er geehrt wurde. Und der wahrscheinlich heute
getötet wurde, wird morgen beerdigt. Was erwartet ihr von einer jungen Person
wie dieser, die nichts hat?“
Sie
sagten ihm, dass seit 9 Uhr kein Wagen durch den
Checkpoint durchgefahren sei
und fragten ihn, wie er es gewagt hätte, hier durchzufahren: „Du bist nicht der
einzige, der Angst hat – auch wir haben Angst“, gaben sie zu. Das Gespräch ging
noch bis halb drei. Dann geschah etwas Ungewöhnliches: Saadi sagt etwas, das nie
vorher geschehen war. Die Soldaten verabschiedeten sich mit Händedruck.
Ich
hatte das Gefühl, als hätte ich in ihnen etwas zerbrochen. Es war ein starkes
Händeschütteln. Ich sagte ihnen, dass sie genauso wie ich Opfer seien: Ich bin
ein Opfer der Besatzung und sie seien Opfer ihrer Regierung, dass der
Trennungszaun nicht nur dafür da
sei, uns physisch zu trennen, sondern auch unsere und ihre Gemüter.
Sie
wussten das erste nicht von uns – nur dass wir Leute mit Messern stechen und uns
selbst in die Luft jagen.“
Danach
entschied Saadi, nicht in sein Dorf zu gehen, weil man nicht zweimal
in einer Nacht glücklich sein kann. Er rief seinen Freund in Turmus Aya
an und ging zu ihm. Sie gingen auf das Dach, tranken eine Tasse
Kaffee, rauchten Zigaretten und sprachen und sprachen
über den seltsamen Vorfall,
den Abed al-Karim a-Saadi am Haramiya-Checkpoint mitten in der Nacht hatte.
(dt.
Ellen Rohlfs)