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Israel belügt sich selbst über das „vereinigte Jerusalem“

 

Gideon Levy, Haaretz, 29.11.09

 

Solche Typen gibt  es immer auf  Großstadtstraßen; sie reden mit sich selbst, fragen und antworten, schreien, sprechen mit leiser Stimme, laut nachdenkend und  dozierend.  Als Kinder hatten wir Angst vor ihnen. Sie sind „verrückt“. Genau das ist der  öffentliche israelische Diskurs. Wir reden mit uns selbst,  erfinden falsche Axiome und halten an ihnen fest, als ob sie von oben verordnet worden wären und  davon überzeugt, das die ganze Welt sie akzeptiert. Aber wir reden nur mit uns selbst. Keiner akzeptiert sie. Das israelische Kollektiv redet nicht nur zu sich selbst, es täuscht sich vollkommen.

 

Jerusalem ist ein perfektes Beispiel dafür. Es ist eine vernachlässigte Stadt, schmutzig und in manchen Teilen fürchterlich hässlich, mit Armut und Ignoranz geschlagen. Nationalistisch, religiös und  soziale  Spannungen reißen es auseinander; und ein Teil der Stadt leidet unter der Bürde der Besatzung  mit allen gewalttätigen Charakteristiken. Angebliche Bildung, Kultur, Offenheit und  Wohlstand – weit entfernt von der aktuellen Situation – sind der Ort unserer nationalen Aspirationen.

 

Es ist die Hauptstadt, die von keinem einzigen Land der Welt anerkannt wird, aber es ist „unsere  ewige Hauptstadt“  mit den Worten des Ministerpräsidenten.  Es ist eine ziemlich marginale Stadt,  verglichen mit Tel Aviv. Von vielen Standpunkten aus ist es eine Stadt am Rande, in die säkulare Israelis seit einiger Zeit nicht mehr häufig kommen. Es ist eine Stadt, über die sogar der Ministerpräsident predigt – aber er praktiziert nicht, was er predigt, denn zum Wochenende flieht er die Stadt, wenn immer er kann. Es ist das „Herz der Nation“ aber eine Stadt, die nach und nach zu einer Stadt der ultra-orthodoxen und der Araber geworden ist, der ärmsten Minderheiten der Gesellschaft.

Es ist der „Felsen unserer Existenz“ aber eine geteilte und zersplitterte Stadt, die mit unsern irreführenden Worten zum „vereinigten Jerusalem“ wurde. Es ist eine Stadt, deren politische Zukunft mehr in Unsicherheit eingehüllt ist als irgend eine andere Stadt in Israel „Aber sie ist unsere Stadt auf immer“. Dieser Diskurs, der von viel Selbsttäuschung begleitet wird,  wird unter uns geführt und zwar nur unter uns. Das Jerusalem-Syndrom hat uns fest im Griff.

 

Jerusalems Grenzen sind auch  irreführend. Wenn man religiöse und nationale Gefühle gegenüber der Altstadt berücksichtigt, da sollte es keine Verbindung zwischen Religion und Herrschaft geben, so wie Uman in der Ukraine, das  auch für viele Juden heilig ist. Keiner redet dort über israelische Herrschaft über diesen Ort. Deshalb ist es schwer zu verstehen, welche nationalen und religiösen Gefühle hier mitten in der ständig  nach allen Seiten sich ausdehnenden Stadt angesprochen werden – sie ist kaum wieder zu erkennen.

 

Welche Verbindung gibt es zwischen der Stadt und dem Stadtteil Gilo, der näher an Bethlehems Geburtskirche als an der Klagemauer liegt und dem Heiligtum Jerusalem. Und wie ist es mit Pisgat Ze’ev und dem ewigen Jerusalem? Welche Verbindung gibt es zwischen dem jüdischen Jerusalem und dem Shoafat-Flüchtlingslager? Und wie kann Ministerpräsident Benjamin Netanyahu eine Verbindung knüpfen zwischen dem Bau in Gilo und Har Homa, die innerhalb Jerusalems augenblicklichen Grenzen liegen und Ma’aleh Adumin, das außerhalb der Stadtgrenze in der Westbank liegt? Warum ist es nicht möglich, den Bau in Gilo  zu stoppen, aber den  in Maale Adumin? Warum nicht Jerusalems Grenzen bis Hebron, bis zum Toten Meer, Ramallah und Ramleh ausdehnen? Warum dort nicht rücksichtslos bauen und alles zu unserer Hauptstadt erklären?

 

Der Ministerpräsident hat uns noch andere Lügen erzählt, wie die „unserer Verpflichtung, allen Religionen  in Jerusalem den Schutz der Freiheit des Gottesdienstes  angedeihen zu lassen und  faire und gleiche Behandlung allen Bürgern der Stadt zu gewähren, Juden genau so wie Arabern.“  Freiheit des Gottesdienstes. Das ist ein trauriger Witz. In keiner anderen Stadt  richtet sich der Zugang zu  Heiligen Orten nach dem Alter des Gläubigen, wie Muslimen, die in der al-Aqsa-Moschee zu beten versuchen. Faire und gleiche Behandlung? Wann hat Netanyahu die palästinensischen Vororte der geliebten Stadt besucht?

Israel kann natürlich weiter so zu sich reden und sich selbst belügen und entscheiden, dass nicht nur Jerusalem, sondern auch das Jordantal und die Golanhöhen für immer zu Israel gehören. Es kann beschließen, dass seine Bewohner nicht „Siedler“, sondern „Bewohner“ sind, wie sie sich schon immer nennen und dass dies alles gar keine besetzten Gebiete sind. Es kann beschließen, dass die „Siedlungsblöcke“ - noch eine israelische Neuschöpfung - „im Herzen des nationalen Konsens liegen, so wie sie jetzt ohne Grundlage  definiert werden. Es kann beschließen, dass die augenblickliche Route des Trennungszaunes die wirkliche internationale Grenze darstellt. Wir können darüber mit uns selbst reden, wie die Verrückten, die auf den Straßen unserer Kindheit herumgingen und vor denen wir Angst hatten.

 

(dt. Ellen Rohlfs)