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Die Hirten im Jordangraben vertreiben

 

Gideon Levy,  Ha’aretz, 9.7.09

 

Die Daramafamilie war letzten Sonntag verzweifelt. Etwa um die Mittagszeit an jenem heißen Tag kamen zwei Jeeps, von denen eines der IDF gehörte, das andere der Zivilen Verwaltung. Einige Offiziere stiegen aus den Fahrzeugen und informierten die Familie, dass sie innerhalb weniger Stunden ihre Hütte verlassen müssen und erst am nächsten Morgen wieder zurückkehren können. Der Grund: eine Militärübung soll in diesem Gebiet abgehalten werden. Es kam heraus, dass noch 40 andere palästinensische Familien dieselbe Order erhalten haben – die Bewohner der nahen jüd. Siedlung natürlich nicht.

 

Obwohl Kassem Dararma schon früher viele Evakuierungen und Zerstörungen erlebt hat, war er äußerst beunruhigt. Wo soll er seine Frau und die vier Kinder und Dutzende von Enkelkindern unterbringen? Was würde aus seinen 120 Schafen und Ziegen, seine einzige Einnahmequelle? Es würde unmöglich sein, so schnell einen Pferch zu bauen, um sein Vieh vor den wilden Tieren der Wüste zu schützen. Er würde die ganze Nacht hier bleiben, um sie zu bewachen.

Etwa 500 Menschen leben in der Nähe. Auch sie erhielten die vorübergehende Massenvertreibungs-order. Einige haben den Verdacht, dass ein „Manöver“ ausgeführt wird, aber nicht unbedingt ein militärisches; am nächsten Morgen werden sie nicht zu ihren Herden und Behausungen zurückkommen dürfen. So etwas geschah 1948 in vielen Dörfern – in der Tat sind einige der lokalen Bewohner Flüchtlinge aus jener Zeit. Sie fürchten, dass sich die Kalamität von damals vielleicht wiederholt. Aber gegen Abend kommen gute Nachrichten. Dank der Intervention mehrerer Offizieller –  die bis zum palästinensischen Ministerpräsidenten gingen – wurde die Order zunächst einmal zurückgenommen. Die zivile Verwaltung sagte am nächsten Tag, das Ganze sei ein Missverständnis gewesen. Die Daramas konnten in ihrem Haus schlafen – so könnte man es nennen. Ihr „Haus“ ist nämlich tatsächlich eine Ruine – Reste eines türkischen Gasthofes, der über den Hamam-Al Maliah-Quellen gebaut wurde, die einmal Mineralwasser produzierte, aber seit langem ausgetrocknet ist. Es blieben nur Matchpfützen übrig, mit denen magere Kühe ihren Durst zu löschen versuchen. Reste von bunten Balkonen und ein paar Eukalyptusbäumen und Palmen sind ein Zeugnis aus besseren Zeiten. Leute kamen hier her, um Ferien zu machen, aber in den letzten 10 Jahren ist es das Zuhause der Daramafamilie.

 

Das Grundstück gehört der katholischen Kirche, die  schon seit langem keine Miete mehr einsammelt. Die großen Räume sind leer, wenn man von einem Haufen Matratzen absieht, die nachts auf dem Zementfußboden verteilt werden – und einem Schwarm von nervtötenden Fliegen. Es gibt kein fließendes Wasser und keinen Strom. In der brennenden Mittagshitze klettert ein Esel die Stufen hinunter in einen Hof, wo er verzweifelt nach ein wenig Schatten sucht. Eines der Kinder liegt ausgestreckt im Sand und schläft. Es ist heiß im Jordangraben.

Fast jede der hundert Beduinenfamilien, die hier in einigen Fällen seit Generationen leben, hat irgendwann einen Evakuierungs- oder eine Zerstörungsorder erhalten. Diese „Evakuierung der Außenposten“ geht schon seit einigen Jahren, aber nun scheint sie hoch aktuell zu werden – zur Hölle mit „dem natürlichen Wachstum“ (der Siedler).

 

Vor ein paar Jahren baute Israel ein System von Gräben zwischen den Talstraßen und den Hütten der Beduinen und verhindert so rücksichtslos, dass diese die Apartheidstraßen benützen. Während der letzten zwei Wochen hat die IDF Dutzende von Betonblöcken entlang der Allon-Straße gesetzt, die von Jerusalem bis zum niedrigsten Platz der Erde, zum Toten Meer führt. Auf Warnschildern kann man lesen: „Achtung Schießzone! Gefahr! Zutritt verboten!“ Diese Würfel – ein neuer Typ von Skulpturen blockiert den Zugang zu den schmutzigen Pfaden, die zu Hunderten von Zeltlagern führen, die das Zuhause von etwa 15 000 Hirten und ihren Familien sind. Dutzend weitere solcher Blöcke kann man vor dem Hauptquartier der Kfir Brigade liegen sehen. Ihre Zeit wird auch kommen. Unterdessen führen die Hirten ihre traditionelle Lebensweise hinter den Warnschildern fort. Sie können nirgendwo anders hingehen. Beabsichtigt Israel im nächste Stadium, all diese Pfade zu blockieren und all den Hirten hier die Lebensgrundlage zu nehmen? Plant Israel alle 15 000 Leute aus ihren Hütten und Zelten zu evakuieren. Ist dies ein Teil des Planes der ethnischen Säuberung im Zusammenhang mit den Reden über die Zukunft des Jordangrabens?

 

Es ist eine biblische Landschaft und ein paar verlassene Lehmhütten erinnern an Afrika – 90 Minuten von Tel Aviv und zehn Minuten von Maaleh Ephraim entfernt. Zuweilen ist die kahle Wüstenlandschaft unterbrochen von etwas Grün. Da gibt es Fischteiche in der Siedlung Roi, gepflegte Weinstöcke bei Bekaot, Gewächshäuser in Mekhora. Aber die ursprünglichen Bewohner des Tales haben kein Wasser. Nicht einen Tropfen. Keiner der Tausende Hirten ist ans Wassersystem angeschlossen, geschweige denn ans Stromnetz.

 

Was denken die Siedler im Jordangraben … wenn sie ihre mit Stacheldraht, eisernen Toren und mit Elektroniksystemen ausgestatteten Siedlungen verlassen? Kommt es ihnen in den Sinn, dass ihre Fische Wasser haben, aber die Kinder der „Einheimischen“ nicht? Haben die Bewohner von Roi z.B. jemals bemerkt, wie ihre Nachbarn jenseits des Zaunes leben?

 

Einer dieser Nachbarn, ein 59 jähriger Hirte mit Namen Abed al-Rahim Bashrath hat drei Frauen und 27 Kinder. Seine Familie lebt wie in einem Gefängnis, durstig und arm – genau wie die anderen 180 Seelen im Zelt-Kompound von Al-Haddidja. Nur dreimal in der Woche (sonntags, dienstags, donnerstags) geruht die IDF, für eine Stunde am Morgen und eine am Abend das eiserne Tor aufzumachen, und hindert die Menschen, nach Tubas zu fahren, das Zentrum ihres Lebens. Seit 2002 sind sie schon viermal vertrieben worden, und jedes Mal wurde ihr armseliger Besitz zerstört  und sie wurden in eine andere Gegend vertrieben.

Am letzten Tag der Evakuierung und der Zerstörung 2007 wurde Bashraths jüngste Tochter geboren. Er nannte sie Tsumud, was verzweifeltes und standhaftes Festhalten am Land bedeutet. Die letzte Zerstörungsorder erhielt er vor ein paar Wochen. Darin steht, dass ihre „Konstruktionen“ illegal seien. Doch die einzige „Konstruktion“ hier ist eine Metallstange, an der  in „Uganda hergestellte Säcke“ als Dach befestigt sind. Dies ist sein „Uganda-Plan“: am Land festzuhalten.

„Ist das eine Konstruktion, die genehmigt werden muss?“ fragt er. „Überall in der Welt braucht man Baugenehmigungen für Gebäude, aber doch nicht für Säcke, die mit dem ersten Wind wegfliegen.“ Wir sitzen im Schatten der Säcke und trinken Tapuzina, einen israelischen Orangensaft.

Weil das Tor verschlossen ist, können die Kinder nicht mit Bussen zu ihren Schulen gebracht werden. Sie leben also mit ihren Müttern in einer gemieteten Wohnung in Tubas, weit weg von den Männern, die bei den Schafen bleiben. Sie müssen das Wasser  mit Tanks, die von Traktoren gezogen werden, aus 32 km Entfernung holen dh, wenn das Tor geöffnet ist.

Das tuk-tuk der Wasserpumpen ist deutlich zu hören. In der Nähe von Bashraths Zelt, gar nicht weit weg - aber abgesperrt  - gibt es einen moderner Brunnen, von dem ein dickes Rohr auftaucht. Das ist das Wasser der Siedlungen. Süß, fließend, reines Wasser des Lebens. Es ist für die Siedler, um ihre Felder zu bewässern, ihre Fischteiche und Swimmingpools zu füllen und für ihre dekorativen Gärten. Bashrath hat darum gebeten, dass es ihm erlaubt werde, eine Wasserleitung anzuschließen, natürlich gegen Bezahlung, damit seine Familie und seine Schafe Wasser haben. Man verweigerte es ihm. Nirgendwo ist die Ungerechtigkeit deutlicher als hier neben dem Brunnen. Nirgendwo wird die Apartheid deutlicher als hier im Jordangraben.

 

Bashrath sagt: Ihre Wasserröhren liegen über unseren Feldern. Man kann das Wasser sprudeln hören und die Pumpgeräusche – aber man bekommt keinen Tropfen davon ab. Wir sind bereit, jeden Preis zu zahlen. Ich bin kein Politiker, ich bin ein Hirte. Aber die Politiker sagen, dass nach dem Oslo-Abkommen dies die Zone C sei. Wenn es so ist, hätte Israel die Verpflichtung, die elementaren humanitären Dienste hier anzubieten: Wasser Strom, Gesundheitswesen und Bildungseinrichtungen. Warum verdienen wir kein Trinkwasser? Manchmal zerbersten die Wasserleitungen der Siedler, und das Wasser läuft in die Gegend. Fünf % des verlorenen Wassers könnten unsere Bedürfnisse ein Jahr lang decken. Wenn wir in den Siedlungen arbeiten, dann sind sie freundlich zu uns. Aber wenn wir uns mit der Schafherde dem Zaune nähern, dann greifen sie uns und unsere Herde an.

 

In den letzten paar Wochen wurden weitere 32 Vertreibungsorder an 300 weitere Personen verteilt. Nach Fathi Hadirath, dem Koordinator in der Jordangraben-Solidaritätsorganisation, hat  sich Israels Politik zum Schlimmeren hin gewendet. Seit Januar 2006 ist der Jordangraben vom Rest der Besatzungszone Westbank abgeschnitten. Es wird nur registrierten Bewohnern des Gebietes der Zutritt gewährt. Selbst Landbesitzern, die aber keine ständige Wohnung im Tal haben, wird der Zugang zu ihrem Land verwehrt. Bauern haben große Schwierigkeiten, ihre Produkte rauszubringen. Tausende von Dunum Land sind aus militärischen Gründen (Schießzonen) abgesperrt worden.

Die Dutzende von Betonklötzen, die während der letzten zwei Wochen im Tal  abgestellt wurden, lassen auf Schlimmeres schließen. Hadirath ist davon überzeugt, dass den Betonklötzen Checkpoints folgen, die den Zugang zu und den Ausgang von den Zelt-Kompounds vollkommen behindern. Israels Politik ziele dahin, alle Hirten in fünf Dörfern,  - wenn man will - fünf „Siedlungsblocks“ zusammenzufassen. Abgesehen davon, dass die Bevölkerungsdichte in diesen Dörfern schon unerträglich ist. Seit 1967 hat Israel dort keinen einzigen Neubau genehmigt.

 

Ein Fall ist Bardalla, das größte der fünf Dörfer, wo 2300 Leute auf nur 500 Dunum leben. In Zabidath, in der Nähe der Siedlung Argaman, wollten die Bewohner einen Kinderspielplatz für die 500 Kinder des Dorfes bauen – Israel hat den Bau des Spielplatzes nicht genehmigt. Es gibt keinen Platz in diesen Dörfern für die neuen Flüchtlinge, die Israel zu schaffen versucht, und die Vertreibung von 15 000 Hirten von ihrem Land wird sie jedenfalls auf Dauer von ihrer einzigen Einnahmequelle trennen. Hadirath glaubt, dass der Evakuierung ein ehrgeiziger politischer Plan zu Grunde liegt: die ethnische Säuberung des Jordangrabens, der ein Drittel des Westbankgebietes ausmacht und Heimat von 56 000 Palästinensern ist. Dies wird leichter sein, als die Außenposten der jüdischen Siedler zu evakuieren.

 

Der IDF-Sprecher antwortete: „Das Zentralkommando stellt fest, dass diese Gebiete anerkannte Schießzonen sind, die nicht fürs Wohnen bestimmt sind, und in der Vergangenheit mit Warnschildern  gekennzeichnet waren. Im Laufe der Jahre wurden die Schilder gestohlen und deshalb blieben die Schießzonen unbezeichnet. So waren die Gebiete für den Zutritt von Zivilisten offen aber voll Risiken für sie. Als Folge davon setzte die IDF in den letzten zwei Wochen im Jordangraben entlang der Allon -Straße Dutzende von Betonklötzen mit Warnschildern vor den Schießzonen.

Von der Zivilverwaltung kam bis jetzt keine Antwort.

Vor zwei Wochen zerstörte die IDF die armseligen Schafpferche der Familie Rehail, die aus 30 Personen besteht. Die Reste des Pferchs blieben auf dem gelben Boden liegen. Die Daramafamilie lebt direkt hinter einem neuen Betonklotz, der vor den Eingang ihres Zelt-Kompounds gegenüber der Siedlung Mashkiyot. gesetzt wurde. Auf der andern Straßenseite im Tal steht ein alter Brunnen, doch wenn die Kinder versuchen, ihn zu erreichen, kommen die Siedler mit ihren Geländewagen und vertreiben sie. Er gehört allein ihnen, nur ihnen.

 

(dt. Ellen Rohlfs)