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Schandfleck
in Den Haag
Gideon Levy, 17.9. 2009, Haaretz http://www.haaretz.com/hasen/spages/1115240.html
Auf
jeder Kugel ist ein Name und für jedes Verbrechen ist jemand verantwortlich.
Der Deckmantel, den sich Israel seit der Operation „Geschmolzenes Blei“
umgelegt hat, ist ein für alle Mal
heruntergerissen worden, und es muss sich nun allen schwierigen Fragen stellen.
Die Frage ist überflüssig geworden, ob im Gazastreifen Kriegsverbrechen
begangen wurden, weil maßgebliche und klare Antworten schon gegeben worden
sind. Also muss die weiterführende Frage gestellt werden: wem muss die Schuld
gegeben werden? Wenn im Gazastreifen Kriegsverbrechen begangen wurden, folgt
daraus, dass unter uns Kriegsverbrecher sind. Sie müssen zur Verantwortung
gezogen und bestraft werden. Das ist die harte Schlussfolgerung, die aus dem
UN-Bericht gezogen werden muss.
Fast
ein Jahr lang hat Israel versucht, zu behaupten, dass das Blut, das im
Gazastreifen vergossen wurde, nur Wasser war. Ein Bericht folgte dem anderen
mit entsetzlichen identischen Ergebnissen: Belagerung, Weißer Phosphor, Leid
gegenüber unschuldigen Zivilisten, zerstörte Infrastruktur – Kriegsverbrechen
in jedem einzelnen Bericht. Jetzt nach der Veröffentlichung des bedeutendsten
und vernichtendsten Berichtes, zusammengestellt von
der vom Richter Richard Goldstone
angeführten Kommission, sehen Israels Versuche, den Bericht in Diskredit zu
bringen, grotesk aus, und das hohle Geschrei seiner Sprecher klingt pathetisch.
Bis
jetzt haben sie sich auf die Botschafter konzentriert, nicht auf ihre
Botschaften: Der Human RightsWatch-Mitarbeiter
sammele Nazi-Memorabilien, Breaking the Silence sei ein Geschäft und Amnesty International sei
antisemitisch. Alles billige Propaganda. Dieses Mal
jedoch ist der Botschafter ein Propagandabeweis. Keiner kann ernsthaft
beweisen, dass Goldstone, ein aktiver und begeisterter Zionist mit tiefen
Verbindungen zu Israel, ein Antisemit sei. Es wäre lächerlich. Trotzdem gab es
einige Propagandisten, die tatsächlich versuchten, die Antisemitismuskeule
gegen ihn zu schwingen, selbst wenn es absurd ist. Man hätte gestern das
bewegende Interview mit Goldstones Tochter Nicole mit Razi
Barkei im Armeeradio hören müssen, um zu verstehen,
dass er tatsächlich Israel liebt und ein wahrer Freund Israels ist. Sie sprach auf Hebräisch von den
Qualen, die ihr Vater durchgemacht hat und von seiner Überzeugung, dass wenn er
nicht dabei gewesen wäre, dann wäre der Bericht noch viel schlimmer
ausgefallen. Alles was er wünscht, ist ein Israel das gerechter ist, erklärte
sie.
Keiner
kann seine juristischen Referenzen, als internationaler Topjurist mit tadellosem Ruf anzweifeln. Der Mann, der die
Wahrheit über Ruanda und Jugoslawien herausfand, hat jetzt dasselbe im
Gazastreifen getan. Der frühere Hauptankläger beim Internationalen
Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag ist nicht nur eine juristische Autorität, er
ist auch eine moralische Autorität; deshalb sind Klagen über den Richter
belanglos. Stattdessen ist es an der Zeit,
die Angeklagten sich näher in Augenschein zu nehmen. Diese
Verantwortlichen sind in erster Linie Ehud Olmert, Ehud Barak und Gabi Ashkenazi. Bis jetzt
hat keiner - unglaublicherweise
– einen Preis für seine Untaten bezahlt.
Die
Operation „Gegossenes Blei“ war ein hemmungsloser Angriff auf eine belagerte,
total ungeschützte zivile Bevölkerung, die
während dieser Operation fast keine Anzeichen von Widerstand zeigte. Es hätte sofort ein unmittelbarer
Protest in Israel aufkommen müssen. Es war ein Sabra
und Shatila – dieses Mal von uns ausgeführt. Nach Sabra und Shatila 1982 gab es
einen Sturm des Protestes in diesem Land , wogegen
nach „Gegossenes Blei“ nur
Vorladungen ausgeteilt wurden.
Es
sollte eigentlich ausgereicht haben, nur auf den entsetzlichen Unterschied der Anzahl der
Todesfälle zu sehen – 100 Palästinenser auf einen Israeli – um die ganze
israelische Gesellschaft aufzurütteln. Man hätte nicht erst auf Goldstone warten
müssen, um zu verstehen, dass hier eine schreckliche Sache zwischen dem
palästinensischen David und dem israelischen Goliath geschehen ist. Aber die
Israelis zogen vor, wegzusehen oder mit ihren Kindern auf den Hügeln rund um den Gazastreifen zu
stehen und beim Blutbad verursachenden Bombardieren zu jubeln.
Unter
dem Deckmantel der beteiligten Medien und kriminell voreingenommener Analysten
und Experten, die dafür sorgten, dass keine wirklichen Nachrichten herauskamen,
und mit gehirngewaschener und selbstzufriedener
öffentlicher Meinung benahm sich Israel, als wäre nichts geschehen. Goldstone
hat dem ein Ende gesetzt, wofür wir ihm danken sollten. Nachdem er seinen Job
getan hat, müssen die offensichtlich praktischen Schritte unternommen werden.
Es
würde für Israel besser sein, nun allen
Mut zusammen zu nehmen, seinen Kurs zu ändern, solange es noch Zeit dafür ist: die Sache authentisch
zu untersuchen und zwar nicht in der Weise wie IDFs groteske Nachforschungen,
ohne auf Goldstone zu warten. Olmert und Zipi Livni müssen für ihre skandalöse Entscheidung, nicht mit
Goldstone zusammen zu arbeiten, zahlen, obwohl das jetzt nicht mehr viel Sinn
hat. Nun, wo der Bericht auf seinem Weg zum ICC ist und Haftbefehle bald
veröffentlich werden, bleibt nur noch eine
sofortige staatliche Untersuchungskommission aufzustellen, um einen Schandfleck
in DEN Haag abzuwenden.
Wenn
wir das nächste Mal noch einen unnötigen und elenden Krieg zu führen
beabsichtigen, werden wir vielleicht nicht nur die Zahl der wahrscheinlichen Todesfälle berücksichtigen,
sondern auch den schweren politischen Schaden, den solch ein Krieg verursacht.
Am
Vorabend zum jüdischen Neuen Jahr ist Israel verdientermaßen ein ausgestoßenes
und gehasstes Land geworden. Wir sollten dies nicht eine Minute lang vergessen.
(dt.
Ellen Rohlfs)