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Angst treibt die Israelis dazu, einen ausländischen Pass zu erlangen

 

Gideon Levy, Haaretz, 2.6.11

 

Die Anzahl  steigt rasant und das Phänomen ist interessant: viele Israelis sehnen sich nach einem zweiten Pass. Falls Shimon Peres ( jetzt Präsident) einst „ ein Auto für jeden Arbeiter“ versprochen, wird heute ein zweiter Pass das Wunschobjekt. Wenn unsere Vorfahren von einem israelischen Pass träumten, so gibt es heute Leute unter uns, die von einem ausländischen Pass träumen.

Eine Studie der Bar-Ilan-Universität, die in der Zeitung Eretz Acheret veröffentlich wurde, hat herausgefunden, dass  nahezu 100 000 Israelis schon einen deutschen Pass haben. Während der letzten zehn Jahre hat sich der Trend verstärkt, und etwa 7000 mehr Israelis schließen sich ihnen pro Jahr an. Diesen sollten die Tausenden Israelis angeschlossen werden, die schon einen ausländischen Pass haben, meistens von europäischern Ländern. Die Gründe sind seltsam und verschieden, doch wurzeln alle irgend wie im persönlichen und nationalen Unbehagen und in Ängsten. Der ausländische Pass ist zu einer  Art Versicherung für einen schlechten Tag geworden. Es wird deutlich, dass immer mehr Israelis daran denken, dass dieser Tag schließlich kommen wird.

In den letzten Jahren ist der israelische Pass immer nützlicher geworden. Er öffnet die Türen der meisten Länder der Welt, außer für Teile der arabischen  und muslimischen Welt. Man kann kaum glauben, dass jene, die einen zweiten Pass beantragen, dies tun, um Ferien in Teheran oder eine Tour in Benghazi oder Sana machen wollen. Das Alibi, dass ein europäischer Pass die Einreise in die USA erleichtert, kann das Phänomen, das in anderen entwickelten Ländern nicht gibt, nicht ganz erklären.

Es sollte jedoch nicht verurteilt werden. Es reflektiert eine Stimmung, eine natürliche und verständliche Konsequenz realer und eingebildeter Ängste, die hier verbreitet wurden. Als sich Avrum Burg vor ein paar Jahren seines französischen Passes rühmte, erhob sich ein öffentlicher Aufschrei – aber umsonst. Vermutlich schrieen einige von ihnen auf, weil sie keine Möglichkeit haben - wie er – einen zusätzlichen Pass für sich zu bekommen. Die anderen könnten sich inzwischen an der einen oder anderen Botschaft angestellt haben.

 

Die Tatsache, dass Deutschland der bevorzugte Passlieferant ist, sollte nicht weiter Gefühle der Wut und Scham auslösen. Für viele Israelis ist Deutschland schon seit langem ein Land wie jedes andere geworden: unsere Kabinettsminister fahren Audis und die Waschmaschinen, die wir von dort importieren, zeichnen sich durch ihre deutsche Qualität aus. Die Angst machenden Kampagnen sind wirksam geworden, und die Passantragsteller antworten auf eine intelligente und sensible Weise. Es kommt heraus, dass sie viel rationaler als ihre Führer sind. Wenn uns die Führer mit der iranischen Bombe, den Muslimbrüdern in Ägypten und den Hooligans in Gaza Schrecken einjagen wollen, wenn alles droht ein „Holocaust“ zu werden, dann macht es wirklich Sinn, sich mit entsprechenden Mitteln als Schutz auszurüsten. Z.B. einem zusätzlichen Pass.

 

Jeder, der glaubt, ein zusätzlicher Pass sei eine nationale Schande und ein sozialer Schandfleck, wird eingeladen, einen Blick darauf zu werfen, warum Israelis ihn wünschen. Wenn wir eine Führung hätten, die den Namen verdient, eine, die statt Ängste zu verbreiten, etwas tun würde, um diese zu verringern, und anstatt uns zu erschrecken, Hoffnung sät, dann würden die Schlangen vor der deutschen Botschaft längst kürzer geworden sein. Statt diejenigen zu verurteilen, die einen Pass wünschen, lasst uns ehrlich und mutig fragen: Warum tun sie das? Sie tun dies, weil irgend einer sie in Schrecken versetzt und  weil es jemanden gibt, der unsere Zukunft hier gefährdet,

Pässe? Falls das palästinensische Volk schon einen wirklichen Pass hätte, dann bräuchten die Israelis keine zwei. Falls Israel versuchen sollte, endlich in seiner Region akzeptiert zu werden, mit allem was erforderlich ist, dann würde sich die Region vielleicht mittels eines einzigen, blau-weißen Passes öffnen. Falls Israel den Rat seiner Freunde in der Welt, besonders in den Ländern Europas, annehmen würde, dann würden wir ihre Pässe nicht benötigen.

 

Israel ist stark und etabliert, und angeblich sollte sein Pass seinen Bürgern genügen. Die Tatsache, dass er für viele nicht ausreicht, zeugt davon, dass hier irgend etwas sehr falsch läuft. Israel ist schließlich für das jüdische Volk – nach den Schrecken in Europa - ein sicherer Hafen geworden. Doch wird Europa – eine Ironie der Geschichte –  nun ein sicherer Hafen für Israelis.

Jeder, der einen zusätzlichen Pass erhalten kann, ist natürlich eingeladen, dies zu tun; er sollte  sich aber auf dem Rückweg von der Botschaft fragen, ob sein Land alles in seiner Macht tut, um sicher zu gehen, dass er ihn nicht benötigt. Die Antwort darauf ist ein lautes Nein.

Ich persönlich habe nicht die Absicht, mir einen zweiten Pass zuzulegen.

 

(dt. Ellen Rohlfs)