Rory McCarthy, The Guardian,
1.April 2008-04-16
Freitag 13 – 28.3.2008
Yonatan Mendel
Wir sind unschuldig, wenn wir töten
DOKUMENT DER
WOCHE
Yonatan
Mendel über israelischen Journalismus
In Israels Medien
ist es heute verpönt, von Gaza oder der Westbank als "den besetzten
Gebieten" zu sprechen. Stattdessen ist lediglich von "den
Gebieten" die Rede. Yonatan Mendel, ehemaliger
Korrespondent der Nachrichtenagentur Walla, beschreibt in einem Artikel für die Zeitschrift London Review of Books
(Ausgabe vom 6. März 2008), wie israelische Zeitungen und TV-Kanäle nicht nur
auf viele Euphemismen zurückgreifen, sondern dank Disziplin und Selbstzensur
eine Realität widerspiegeln, die es so nicht gibt. Derzeit schreibt Mendel am
Queens College in Cambridge seine Dissertation. Wir dokumentieren eine
komprimierte Fassung seines Textes.
Vor einem Jahr bewarb ich mich bei Ma´ariv, einer israelischen
Zeitung, als Korrespondent für die besetzten Gebiete. Ich spreche arabisch,
habe an palästinensischen Schulen unterrichtet und war an vielen
jüdisch-palästinensischen Projekten beteiligt. Beim Einstellungsgespräch fragte
mich der Boss, wie ich überhaupt objektiv sein könne. Ich hätte doch zu viel
Zeit mit Palästinensern verbracht und sei vermutlich zu ihren Gunsten
ausgerichtet. Ich erhielt den Job nicht. Bald jedoch kam ich bei Walla,
einer israelischen Nachrichtenagentur, unter und wurde deren
Nahostkorrespondent.
Ich lernte während der Arbeit verstehen, was Tamar
Liebes, die Direktorin des Smart Institute
of Communication an der Hebräischen
Universität meinte, als sie sagte: "Journalisten und Verleger sehen sich
als Schauspieler innerhalb der zionistischen Bewegung, nicht als kritische
Außenseiter."
Das heißt keineswegs, dass israelische Reporter unprofessionell arbeiten.
Korruption und sozialer Verfall werden mit lobenswerter Entschlossenheit von
Zeitungen, TV und Hörfunk verfolgt. Dass Israel erfuhr, was der frühere
Präsident Moshe Katsav mit seinen Sekretärinnen tat
oder nicht tat, beweist: Die Medien spielen ihren Part als Aufpasser, selbst
wenn es Politiker in Verlegenheit bringt. Ehud Olmerts zweifelhafte Immobilien-Geschäfte, Benjamin Netanyahus Liebesaffären, Yitzhak Rabins geheime US-Konten
- alles wird in den Medien offen diskutiert.
Dreht es sich aber um "Sicherheit", gibt es keine solche Freiheit.
Man spricht von "uns" und - von "ihnen", der Armee (IDF)
und dem Feind; militärischer Diskurs ist der einzig erlaubte Diskurs, er
übertrumpft jedes andere Narrativ. Nicht, dass israelische Journalisten
Befehlen gehorchen oder einem festgelegten Code folgen: Sie denken nur gut über
ihre Sicherheitskräfte.
Wenn beispielsweise über eine Gewalttat berichtet wird, bestätigt dies die
Armee oder sagt: "Die Palästinenser behaupten ..." - "Die Palästinenser
behaupten, dass ein Säugling durch die Armee schwer verletzt wurde." Ist
das Schwindelei? "Die Palästinenser behaupten, dass israelische Siedler
sie bedrohten." Wer aber sind "die Palästinenser"? Ist das ganze
palästinensische Volk - als Bürger Israels, als Bewohner der Westbank und des
Gaza-Streifens, der Flüchtlingslager und der arabischen Nachbarstaaten - Quelle
dieser Behauptung? Warum wird in israelischen Medien so selten ein Name, ein
Ressort oder eine Organisation als Quelle genannt? Weil dies eine Information
vertrauenswürdiger erscheinen ließe?
Ein Zustand, auf den jede andere Armee neidisch wäre
Keshev, das Zentrum zum Schutz der Demokratie in
Israel, untersuchte die Art und Weise, wie Israels TV-Kanäle über
palästinensische Todesfälle in irgend einem Monat - etwa im Dezember 2006 -
berichteten. Keshev fand 48 Nachrichten, die über 22
palästinensische Todesfälle berichteten. Doch nur nach acht dieser Berichte
folgte auf die Version der Armee eine palästinensische Reaktion. Bei 40 Nachrichten
wurde allein vom Standpunkt der IDF her informiert.
Ein anderes Beispiel: Im Juni 2006 wurden vier Tage nachdem der israelische
Soldat Gilad Shalit am
Sicherheitszaun zum Gaza-Streifen gekidnappt wurde laut israelischer Medien 60
Mitglieder der Hamas verhaftet, darunter 30 gewählte Mitglieder des Parlamentes
und acht Minister der palästinensischen Regierung: der Ressortchef für
Jerusalem, der Finanzminister, der Minister für Erziehung und Bildung, für
religiöse Angelegenheiten, für Inneres, für Wohnungsbau, für Justiz und für den
Strafvollzug. Dazu kamen der Parlamentspräsident sowie die Bürgermeister von
Bethlehem, Jenin und Qalqilia.
Dass diese Leute mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt und auf
israelisches Gebiet gebracht wurden, um vermutlich gegen Gilad
Shalit ausgetauscht zu werden, machte aus dieser
Operation in unseren Medien keine Entführung. Israel entführt nie - Israel
verhaftet.
Die israelische Armee tötet auch nie absichtlich, geschweige denn ermordet sie
jemanden - ein Zustand auf den jede Armee neidisch wäre. Selbst wenn eine
Ein-Tonnen-Bombe auf ein dicht bevölkertes Wohngebiet im Gazastreifen fällt und
ein Bewaffneter sowie 14 unschuldige Zivilisten, darunter neun Kinder, ums
Leben kommen, ist das kein absichtliches Töten oder vorsätzlicher Mord. Ein
israelischer Journalist kann sagen: "IDF-Soldaten
haben Palästinenser tödlich getroffen." Oder: "15 Palästinenser haben
den Tod gefunden" (als ob sie danach gesucht hätten). Aber Mord kommt
nicht in Frage.
Zu einer Zeit als es viele Überfälle auf den Gazastreifen gab, stellte ich
meinen Agentur-Kollegen folgende Frage: "Wenn ein bewaffneter
Palästinenser die Grenze überquert und israelischen Boden betritt, nach Tel
Aviv fährt und dort auf Leute schießt, dann ist er doch ein Terrorist, und wir
sind die Opfer, nicht wahr? Doch wenn die israelische Armee die Grenze
überquert, meilenweit in den Gaza-Streifen eindringt und anfängt, auf
Bewaffnete zu schießen, wer ist dann der Terrorist und wer der Verteidiger? Wie
kommt es, dass die Palästinenser, die in den besetzten Gebieten leben, nie zur
Selbstverteidigung handeln können, während die israelische Armee stets der
Verteidiger ist?" Mein Freund Shay von der
Grafikabteilung machte mir die Sache klar: "Wenn du nach Gaza gehst und
dort auf Leute schießt, dann bist du ein Terrorist. Aber wenn die Armee dies
tut, dann ist es eine Operation, die Israel sicherer macht. Sie führt eine
Regierungsentscheidung aus."
Aber nicht solche "mit Blut an den Händen"
Eine andere aufschlussreiche Unterscheidung zwischen uns und ihnen wurde
deutlich, als Hamas im Sommer 2006 die Freilassung von 450 Gefangenen im
Austausch für Gilad Shalit
verlangte. Israel verkündete, man werde wohl Gefangene entlassen, aber nicht
solche "mit Blut an den Händen". Es sind immer die Palästinenser,
niemals die Israelis, die Blut an ihren Händen haben. Das heißt nicht, dass
Juden keine Araber töten, aber sie haben danach kein Blut an ihren Händen. Ganz
zu schweigen von denen, die Blut an ihren Händen hatten und Ministerpräsident
wurden.
Wir sind nicht nur unschuldiger, wenn wir töten, sondern auch
schmerzempfindlicher, wenn wir verletzt werden. Die Beschreibung einer Qassam-Rakete, die Sderot trifft,
wird gewöhnlich so aussehen: "Eine Qassam schlug
in die Nähe eines Wohnhauses ein, drei Israelis erlitten leichte Verletzungen
und zehn andere einen Schock." Man sollte seelische Verletzungen gewiss
nicht leicht nehmen: Wenn eine Granate mitten in der Nacht ein Haus trifft,
kann das wirklich einen großen Schock verursachen. Doch leiden nur Juden
darunter, weil die Palästinenser ein sehr strapazierfähiges Volk sind?
Im Übrigen tötet die Armee stets nur die wichtigsten Leute. Wieder dürften sie
alle anderen Armeen beneiden. "Ein hochrangiges Mitglied der Hamas wurde
getötet", skandieren die israelischen Medien im Chor. Hamas-Mitglieder
niederen Ranges werden offenbar nie gefunden und nie getötet. Shlomi Eldar, ein
TV-Korrespondent im Gaza-Streifen schrieb vor zwei Jahren über dieses Phänomen
in seinem Buch Blind in Gaza:
"Als Riad Abu Zaid 2003 ermordet wurde,
wiederholte die israelische Presse die IDF-Meldung,
der Mann sei Chef des militärischen Flügels von Hamas in Gaza gewesen. Shlomi Eldar entdeckte, der Mann
war lediglich Sekretär für die Betreuung der Familien gefangener Hamas-Mitglieder.
Einer von vielen Fällen, "in denen Israel einen palästinensischen
Aktivisten aufgewertet hat", schreibt Eldar.
Als Maßnahme gegen den Abschuss von Qassam-Raketen
entschied die Regierung Olmert im Februar 2008, die Zufuhr von Strom für den
Gaza-Streifen täglich für Stunden zu sperren, obwohl das bedeutete: Hospitäler
blieben ohne Strom, Ärzte konnten nicht operieren. Zur Begründung hieß es:
"Israel hat sich zu diesem Schritt entschlossen, weil ein solches Embargo
keine tödliche Waffe ist."
"Eine Gesellschaft, die eine Krise durchläuft, schafft sich ein neues
Vokabular", schreibt David Grossman in seinem
Buch Der gelbe Wind. "Nach
und nach taucht eine neue Sprache auf, deren Wörter nicht mehr die Realität
beschreiben, sondern sie verbergen." Diese "neue Sprache" wird
von den Medien ebenso freiwillig übernommen wie die offiziellen Richtlinien,
die von der Rundfunkbehörde zusammengestellt wurden und seit 1972 dreimal
aktualisiert wurden. Zu diesen Regeln gehört die Festlegung, dass der Terminus
"Ost-Jerusalem" nicht mehr gebraucht werden darf.
Da zugleich die Begriffe "Besatzung", "Apartheid" und
"Rassismus", ganz zu schweigen von "palästinensischen Bürgern
Israels", "ethnische Säuberung" und "Nakba"*
im medialen Diskurs nicht vorkommen, können Israelis ihr ganzes Leben
verbringen, ohne zu wissen, in welchem Umfeld sie leben. Man nehme zum Beispiel
Rassismus: Wenn die Knesset ein Gesetz verabschiedet, wonach 13 Prozent des
Landes nur an Juden verkauft werden dürfen, dann ist dies ein "rassistisches
Parlament". Wenn in 60 Jahren das Land nur einen einzigen arabischen
Minister hatte, dann hat Israel "rassistische Regierungen". Wenn 60
Jahre lang bei Demonstrationen gummiummantelte Kugeln und tödliche Munition nur
gegen arabische Demonstranten verwendet werden, dann hat Israel eine
"rassistische Polizei". Wenn 75 Prozent der Israelis zugeben, dass
sie sich weigern würden, einen arabischen Nachbarn zu haben, dann ist die
Gesellschaft "rassistisch". Indem man nicht anerkennt, dass Israel
ein Ort ist, wo Rassismus die Beziehungen zwischen Juden und Arabern bestimmt,
ist es den israelischen Juden unmöglich, sich mit der Realität ihres eigenen
Lebens auseinander zu setzen.
Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass es in Israel keine "besetzten
Gebiete" gibt. Der Terminus wird gelegentlich nur von linken Politikern
oder Journalisten gebraucht. Bei der Nachrichtenagentur gibt es ihn nicht.
Zunächst war von "verwalteten Gebieten" die Rede, um die Besatzung zu
verschleiern. Dann wurde von "Judäa und Samaria"
gesprochen. Zwischenzeitlich hat sich in unseren Massenmedien "die
Gebiete" eingebürgert. Der Terminus hilft, die Vorstellung zu bewahren,
dass Israelis die Opfer sind und stets in Selbstverteidigung handeln, während
Palästinenser die Angreifer und grundlos aggressiv sind. Das einfachste
Beispiel in unseren Zeitungen erklärt es so: "Ein Bewohner ›der Gebiete‹
wurde geschnappt, als er illegal Waffen schmuggelte." Denn es ergibt einen
Sinn, wenn Bewohner eines "besetzten Gebietes" versuchen, gegen den
Besatzer mit Waffen Widerstand zu leisten - aber es ergibt keinen Sinn, wenn es
Bewohner aus "den Gebieten" sind.
Eine Mehrheit hat das Gefühl, die Medien seien zu links
Israelische Journalisten sind nicht im Sicherheitsestablishment eingebettet.
Sie sind auch nie darum gebeten worden, ihrem Publikum Israels Militärpolitik
angenehm darzustellen. Die Beschränkungen halten sie freiwillig, fast unbewusst
ein, was ihre Praxis um so gefährlicher macht. Dennoch
hat eine Mehrheit in Israel das Gefühl, die Medien seien zu links und nicht
wirklich patriotisch, auch wenn ausländische Medien noch schlimmer sind.
Während der Intifada im Jahr 2000 verlangte Finanzminister Avraham
Hirschson, der US-Kanal CNN müsse für Israel gesperrt
werden, weil der Sender tendenziöse Programme verbreite - Hetzkampagnen gegen
Israel.
Israelische Männer sind verpflichtet, bis zum Alter von 50 einen Monat pro Jahr
Militärdienst zu leisten. Yigal Yadin,
ein früherer Generalstabschef, meint: "Ein Zivilist ist ein Soldat der
jährlich elf Monate Urlaub hat." - Israels Medien haben nie Urlaub.
Zwischentitel von der Redaktion,
Übersetzung: Ellen Rohlfs *) arabisch für
"Unglück", "Katastrophe"; bezeichnet im palästinensischen
Sprachgebrauch die Gründung Israels im Mai 1948