Israel Palästina Nahost Konflikt Infos

Am Jahrestag des Gazakrieges erinnern wir uns an die IDF-Soldaten, die palästinensische Familien zerstörten

 

Amira Hass, 2.1.12

 

Am dritten Jahrestag des Cast Lead-Mordens erinnern wir uns an die anonymen Soldaten, die auf einen roten Wagen feuerten, in dem ein Vater, Muhammed Shurrab, und seine beiden Söhne saßen, die von ihrem Land heimkehrten. Es ist nicht fair, dass der Offizier, der damals als GOC Kommandeur der IDF im Süden diente, Generalmajor Yoav Galant der einzige ist, an den man sich an diesem Jahrestag erinnert. In Wirklichkeit ist die Liste der Kämpfer, die erwähnt werden und an die man sich erinnern sollte, lang.

Wir werden uns an den Piloten erinnern, der eine Bombe abwarf, die Mahmoud al-Ghoul, einen Hochschulstudenten, und seinen Onkel Akram, einen Anwalt, in seinem Haus im nördlichen Gaza tötete. Wir erinnern uns an die Soldaten, die von Dronen aufgenommene Photos analysierten und die  danach entschieden, dass ein LKW, der Oxyacetylen-Behälter  zum Schweißen transportierte und der Ahmad Samur gehörte, Raketen beförderte. Dies führte zu der Entscheidung und dem Befehl, das Fahrzeug aus der Luft zu bombardieren, was zum Tod von acht Personen führte, vier von ihnen waren Minderjährige.

 

Wir werden  uns an die Soldaten erinnern, die aus dem Haus der Abu Eida-Familie im östlichen Jabalya eine Militärbasis und  einen Schießplatz machten und einen alten Invaliden, eine blinde Frau und zwei alte Frauen in einen Raum sperrten. Wir erinnern uns, wie diese Soldaten diesen vier Personen neun Tage lang nicht erlaubten, auf die Toilette zu gehen. Wir werden uns an die Soldaten erinnern, die die Mitglieder der Samounifamilie in ein Haus zusammentrieben und selbst 80 m davon positioniert waren, als es mit all seinen Bewohnern   mit Granaten beschossen wurde – auf Befehl des Brigadekommandeurs Ilan Malka – jemand, an den wir uns natürlich auch noch erinnern werden.

 

Die Liste geht noch weiter, und wir bitten die um Verzeihung, die wir aus Mangel an Platz nicht genannt haben. Doch bei dieser Gelegenheit werden wir uns besonders an die Soldaten an einem bestimmten Posten  östlich von Khan Yunis erinnern.

 

Am Samstag, den 17. Januar 2009 um 8 Uhr 46 ( einen Tag vor Ende des Angriffs) erhielt ich folgende Nachricht aus den USA: „Mein Vater und meine beiden Brüder wurden gestern angegriffen, als sie von ihrer Farm nach Hause fuhren. Ein Bruder – Kassab, 27 – starb, aber der Vater – Mohammed Shurrab, 64 – und der andere Bruder – Ibrahim,17 – sind  verletzt und liegen in einem von der IDF kontrollierten Gebiet. Sie wurden zwischen 1 Uhr und 1 Uhr 30 angegriffen während einer Feuerpause, und  Notdienstwagen können sie nicht erreichen.“

 

Die IDF erlaubt keinem Ambulanzwagen sich diesem Gebiet zu nähern; der dies schrieb, Amer Shurrab, glaubte, dass Druck von den Medien helfen würde, um die Genehmigung zu erhalten. „Wir sind sehr verzweifelt und versuchen schon  so viel wie möglich, damit Hilfe zu ihnen gelangen kann.“ …..

Shurrab  wusste nicht,  dass, während er diesen verzweifelten Hilferuf an jemanden schrieb, den er nicht kannte, sein zweiter Bruder auch schon  tot war, nachdem er in den Armen seines Vaters nach 10 Stunden verblutete. Der trauernde Bruder wusste auch nicht,  dass ab 6 Uhr morgens Tom, ein Mitarbeiter der Ärzte für Menschenrechte (PHR), mit mir in Kontakt war.

Dies war ein Todesfall mit Direktübertragung: Bis die Batterie des Mobiltelefons des Vaters  zu ende war. Shurrab telefonierte mit den Verwandten in Gaza und in den USA, mit dem Roten Halbmond und dem Roten Kreuz, mit Tom von den PRH und mit lokalen Journalisten.

 

Die humanitäre Feuerpause – wie sie von der IDF genannt wurde – hatte am Freitag von 10 Uhr früh  bis 14 Uhr gedauert. Der Vater, der am Steuer saß passierte mit seinen beiden Söhnen einen IDF-Kontrollpunkt. Es wurde ihnen erlaubt, weiter zu fahren. Etwa um 13 Uhr erreichten sie  den Abu Zeidan-Supermarkt im Stadtteil al-Fuhary im östlichen Khan Yunis, dessen Bewohner zu Beginn der Bodenoffensive flohen. Das Nachbarhaus, das größte Gebäude in der Straße, wurde schon im voraus in eine Armeebasis verwandelt. Von dort wurde auf den Wagen der Shurrabs geschossen. In die Brust geschossen, konnte Kassab noch aus dem Wagen gelangen, kollabierte und starb. Ibrahim sprang aus dem Fahrzeug und wurde dann durch unablässiges Schießen ins Bein getroffen.

Der Vater wurde in den Arm getroffen. Er schaffte es aber, seinen überlebenden Sohn an eine nahe Mauer zu ziehen. Er sah einen Panzer vorbeifahren und Soldaten kommen und gehen. Die Soldaten konnten ihn sehen. Um 11 Uhr 10 Stunden nach dem Beschuss und noch immer an die Wand gelehnt, bemerkte der Vater, dass sein blutender Sohn kalt geworden ist und dass sein Atmen mühsam wurde. Er schaffte es, seinen Sohn zurück zu dem von Schusslöchern durchsiebten Fahrzeug zu tragen, in der Hoffnung, dass es dort wärmer wäre. Aber eine halbe Stunde nach Mitternacht zwischen Freitag und Samstag tat sein Sohn in seinen Armen den letzten Atemzug.

All dies geschah 50 oder 100 Meter von den Soldaten entfernt. Regelmäßig sprach der Vater übers Telefon mit Tom, der in seiner Wohnung in Tel Aviv  die ganze Nacht hindurch versuchte, das Rote Kreuz  dahin zu bekommen, die Armee davon zu überzeugen, einem Ambulanzwagen zu erlauben, unmittelbar vor Ort zu gelangen. Das europäische Gaza-Krankenhaus liegt nur  zwei Kilometer entfernt bzw. eine ein bis zwei Fahrt-Minuten.

 

Etwa um halbzehn am Samstagmorgen wurde Tom informiert, dass die IDF die Genehmigung für den Ambulanzwagen erhalten hat, am Mittag dieses Tages zu fahren.

Zu der Zeit, als der IDF-Sprecher  weiterleitete, dass „im allgemeinen während der Feuerpause nur dann das Feuer eröffnet wird, wenn Raketen auf Israel abgefeuert  oder Schüsse auf die IDF abgeschossen werden. Wir sind nicht in der Lage, die Fakten jedes Vorfalles zu untersuchen oder jede Notiz einer Information, die uns zugeht, zu bestätigen oder abzustreiten“. Die Zufahrt des Ambulanzwagens wurde erst nach einer Abschätzung der Situation vor Ort genehmigt, als eine Entscheidung getroffen wurde, dass die einsatzbereiten Bedingungen solche Zufahrt erlaubten.  Die verwundeten (!!) Personen wurden vom palästinensischen Gesundheitsministerium evakuiert und ins Krankenhaus nach Rafah gebracht.

Ich erinnere mich noch gut an die anonymen Soldaten, die die Shurrabfamilie zerstörte. Als ich am 24. Januar dort ankam, entdeckte ich, dass sie nicht nur das übliche Bild der Zerstörung hinterließen und den üblichen Abfall; in der palästinensischen  Wohnung, von der sie die Schüsse auf die Familie abfeuerten, ließen sie auch ein an die Wand geschmiertes  Wort zurück: „Kahane hatte Recht..“

 

(dt. Ellen Rohlfs)