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Israels Recht auf Selbstverteidigung       

 

  - Ein überragender Propagandasieg

 

Amira Hass

 

Haaretz

Dienstag, 20. November 2012

 

Einer der überragenden israelischen Propagandasiege  besteht darin, dass man Israel als  Opfer der Palästinenser akzeptiert hat, sowohl aus der Sichtweise der israelischen Öffentlichkeit, als auch aus der westlicher Führer, die eilen, um über Israels Recht auf Selbstverteidigung zu sprechen. Die Propaganda ist so wirksam, dass man nur die palästinensischen Raketen im Süden Israels und nun auch in Tel Aviv zu den Kampfhandlungen zählt. Die Raketen oder der Schaden, der - dem Allerheiligsten – einem Militärjeep – zugefügt wird, wird jeweils als Auslöser angesehen und mit den erschreckenden Sirenen, die einem Film über den Zweiten Weltkrieg entnommen zu sein scheinen, wurde die Meta-Narrative des Opfers, das sich selbst verteidigen darf, untermauert.

 

Tagtäglich, tatsächlich in jedem Augenblick, ermöglicht diese Meta-Narrative Israel, ein weiteres Glied der These der Enteignung einer Nation, die so alt ist wie der Staat selbst, hinzuzufügen, wohingegen man es in der selben Zeit schafft, die Tatsache zu verbergen, dass die fortgesetzte Bedrohung seit 1948 aufgrund der Weigerung besteht, den palästinensischen Flüchtlingen eine Rückkehr zu ihrer Heimat zu ermöglichen, sowie aufgrund der Vertreibung der Beduinen aus dem Negev zu Beginn der 1950-er Jahren, aufgrund der derzeitigen Vertreibung der Beduinen aus dem Jordantal, aufgrund von Farmen für Juden im Negev, aufgrund der Ungleichbehandlung im Hinblick auf die Budgets in Israel und aufgrund der Gewehrattacken auf die Fischer von Gaza, um ihnen den Verdienst eines ehrbaren Lebens zu verwehren. Millionen solch permanenter Bedrohungen verknüpfen die von 1948 mit den gegenwärtigen. Sie bilden die Lebensstruktur der palästinensischen Nation, die so getrennt ist, wie es in isolierten Enklaven sein mag. Sie sind die Lebensstruktur der palästinensischen Bürger Israels und derer, die in ihren Exilgebieten leben.

 

Aber diese Bedrohungen sind nicht die gesamte Struktur des Lebens. Der Widerstand gegen die Fäden, die wir Israelis endlos "spinnen", ist für die Palästinenser auch Teil ihrer Lebensstruktur. Das Wort Widerstand wurde auf die Bedeutung des sehr maskulinen Wettstreites, wessen Raketen am weitesten entfernt explodieren (ein Wettstreit zwischen den palästinensischen Organisationen untereinander und zwischen ihnen und der etablierten israelischen Armee) reduziert. Es hebt nicht die Tatsache auf, dass im Wesentlichen der Widerstand gegen die Ungerechtigkeit, die in der Vorherrschaft Israels wurzelt und für jeden Palästinenser ein unzertrennbarer Teil des Lebens ist.

 

Die Außenministerien und internationalen Entwicklungsministerien im Westen und in den Vereinigten Staaten kollaborieren mit der verlogenen Darstellung von Israel als Opfer, wenn auch nur, weil sie jede Woche Berichte von ihren Vertretern in der West Bank und im Gazastreifen über ein weiteres Glied, das Israel seiner Kette von Enteignung und Unterdrückung hinzugefügt hat, erhalten oder weil das Geld ihrer eigenen Steuerzahler einige der humanitären großen oder kleinen Desaster, die durch Israel verursacht werden, ausgleicht.

 

Am 8. November, zwei Tage vor dem Angriff auf das Allerheiligste – Soldaten in einem Militärjeep – hätten sie lesen können, dass IDF-Soldaten den 13 Jahre alten Ahmad Abu Dagga getötet haben, während er mit Freunden in dem Dorf Abassan, im Osten von Khan Yunis, Fußball gespielt hat. Die Soldaten waren im Gazastreifen, 1,5 km von den Kindern entfernt, mit der "Freilegung" (ein beschönigtes Wort für "Zerstören") von Agrarland beschäftigt. Weshalb sollten sie das Aggressionskonto nicht mit einem Kind beginnen? Am 10. November, nach dem Angriff auf den Jeep, tötete die IDF weitere vier Zivilpersonen, im Alter von 16 – 19.

 

In Ignoranz ertrinken

 

Die Führer des Westens hätten wissen können, dass letzte Woche vor dem Training der IDF im Jordantal Dutzende von Beduinenfamilien aufgefordert worden waren, ihre Häuser zu räumen. Wie eigenartig, dass das IDF-Training immer dort stattfindet, wo Beduinen leben, aber nicht dort, wo Siedler wohnen, und dass das Training ein Grund ist, sie zu vertreiben. Ein weiterer Grund. Eine weitere Vertreibung. Die Führer des Westens könnten ebenso, basierend auf farbigen Hochglanzpapier-Berichten, die ihre Länder finanzieren, davon Kenntnis haben, dass Israel 569 palästinensische Gebäude und Strukturen, einschließlich Brunnen und 178 Wohnhäuser seit Anfang 2012 zerstört hat. Insgesamt wurden 1.014 Menschen von diesen Zerstörungen betroffen.

 

Wir haben nicht gehört, dass Massen aus Tel Aviv und die Bewohner aus dem Süden die Staatsverwalter vor den Folgen dieser Zerstörung auf die Zivilbevölkerung gewarnt haben. Die Israelis aalen sich wonnig in ihrer Ignoranz. Diese Information und andere ähnliche Fakten sind für jeden verfügbar und zugänglich, der wahrhaftig daran interessiert ist. Aber die Israelis haben sich entschieden, davon nichts zur Kenntnis zu nehmen. Diese eigensinnige Ignoranz ist ein Grundstein für den Aufbau der Wahrnehmung von Israel als Opfer. Aber Ignoranz ist Ignoranz: Die Tatsache, dass Israelis nicht wissen wollen, was sie als Besatzungsmacht tun, macht ihre Taten oder den palästinensischen Widerstand nicht zunichte.

 

1993 gaben die Palästinenser Israel ein Geschenk, eine goldene Gelegenheit, die Bedrohungen zu unterbinden, indem sie 1948 mit der Gegenwart verknüpfen, um die Charakteristik des Landes als Kolonialmacht abzulegen und gemeinsam eine unterschiedliche Zukunft für die beiden Völker in der Region zu planen. Die palästinensische Generation, die das Oslo-Abkommen (voller Fußangeln, die smarte israelische Rechtsanwälte darin eingebaut haben) akzeptiert hat, ist die Generation, die eine vielfältige, eben die normale israelische, Gesellschaft kennen gelernt hat, weil die Besatzung von 1967 (im Hinblick auf die Versorgung mit billigen Arbeitskräften) zumindest völlige Bewegungsfreiheit gewährte. Die Palästinenser stimmten einer Abmachung zu, die auf ihren Minimumforderungen basierten. Eine der Säulen dieser Minimumforderungen war, die Behandlung des Gazastreifen und der Westbank als Einheitsgebiet.

 

Aber, sobald die Umsetzung von Oslo begonnen hatte, tat Israel systematisch alles, was es vermochte, um den Gazastreifen in eine separate, nicht miteinander verbundene Entität  umzuwandeln, als Teil seiner Beharrlichkeit, die Bedrohungen aus 1948 weiter aufrechtzuerhalten und sie auszudehnen. Seit der Entstehung der Hamas hat Israel alles unternommen, um den Eindruck zu erwecken, Hamas bevorzuge, dass der Gazastreifen eine separate politische Einheit ist, wo es keine Besetzung gibt. Wenn das so ist, warum nicht die Dinge wie folgt sehen: Als separate politische Einheit ist jede Invasion in das Gebiet von Gaza ein Verstoß gegen ihre Souveränität, und Israel tut dies ständig. Hat die Regierung des Gazastaates kein Recht, darauf zu reagieren, Israel daran zu hindern, oder zumindest das maskuline Recht – ein Zwilling des maskulinen Rechts der IDF – die Israelis abzuschrecken, so wie Israel die Palästinenser abschreckt?

Aber Gaza ist kein Staat. Gaza steht unter israelischer Besatzung, trotz aller verbaler Akrobatik, sowohl der Hamas, als auch von Israel. Die Palästinenser, die dort leben, sind Teil eines Volkes, dessen DNA den Widerstand gegen die Unterdrückung enthält.

 

In der Westbank versuchen palästinensische Aktivisten, eine Art Widerstand zu entwickeln, der sich von dem maskulinen, bewaffneten Widerstand unterscheidet. Aber die IDF erstickt mit Feuereifer und Entschlossenheit jeglichen Volkswiderstand. Wir haben von keinem Bewohner aus Tel Aviv und dem Süden gehört, der sich über die Abschreckungsbalance, die die IDF gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung aufbaut, beschweren.

 

Und so liefert Israel immer wieder Gründe für die jüngeren Palästinenser, für die Israel eine anormale Gesellschaft aus Militär und Siedlern ist, zu dem Schluss zu kommen, dass Blutvergießen und Gegenterror der einzig vernünftige Widerstand ist. Und so zieht uns jede israelische Verbindung mit der Besatzung und jede israelische Leugnung des Vorhandenseins der Besatzung weiter in den Sog des maskulinen Wettkampfes.

 

(dt. Inga Gelsdorf)