Gedanken über Erinnerung und Nostalgie
Gilad Atzmon, 2.1.08
Der Zionismus ist eine totale Katastrophe. Es ist eine koloniale, expansionistische, nationalistische Philosophie, die auf rassistischem Chauvinismus beruht. Diejenigen, die seine Grundsätze genau genommen haben, raubten das Land des einheimischen palästinensischen Volkes im Namen des jüdischen Volkes. Dies wird von vielen von uns als Hauptbedrohung für den Weltfrieden betrachtet. Seine ihm ergebenen, unterstützenden Lobbys rund um die Welt schreien nach mehr Blutvergießen im Namen des „Liberalismus“, der „Demokratie“, der „Freiheit“ und sogar im Namen der „jüdisch-christlichen“ Allianz. Doch der Zionismus – geben wir es zu - hat etwas fertig gebracht, was nicht einmal Gott fertig gebracht hat: die Juden zu einigen. Zionismus ist das jüdische symbolische Markenzeichen geworden.
In einem Artikel aus letzter Zeit – „die Politik des Antisemitismus“ – beklagte ich die Rolle des Zionismus als das kulturelle Markenzeichen des zeitgenössischen Diasporajuden. Ich behaupte, dass der Zionismus es auch fertig gebracht hat, seine ideologischen Feinde zu besiegen, indem er ihnen ein transparentes, kollektives, strukturelles Bild als symbolisches Markenzeichen angeboten hat. Es war weniger die Ideologie oder die Politik, sondern eher ein zionistischer Fetisch und sein hebräisches Drum und Dran, das den Zionismus zu einer Erfolgsgeschichte werden ließ. Dem entsprechend hat er eine Sprache eingeführt ( Hebräisch), lieferte den Juden eine genaue geographische Orientierung (Erez Israel), übermittelte ein Image von Kultur (die neue hebräische Folklore) und es gelang ihm sogar, ein falsches Bild von politischer und ethischer Polarität (links und rechts) zu präsentieren. Wenn die Gründer des Zionismus zum Ziel hatten, den Diasporajuden aus seiner anormalen Lage zu retten, dann müssen wir eingestehen, dass er seine Aufgabe erfüllt hat. Der Erfolg des Zionismus hat nichts mit seiner Ideologie, Politik oder seiner verheerenden (politischen) Praxis zu tun. Es ist klar, nicht viele Juden verstehen, was Zionismus eigentlich ist (ideologisch, politisch, ethisch und praktisch) . Nicht viele Diasporajuden beugen sich offen der zionistischen Gedankenschule oder ihrer unmoralischen Praxis. Stattdessen befassen sie sich mit „israelischer Folklore“, mit merkwürdigen hebräischen Wörtern, mit Falafeln und Humus, die fälschlicherweise Israel zugeordnet werden, statt Palästina. Sie singen israelische Musik, ob das nun Hava Nagila, Yafa Yarkoni oder Yeuda Poliker ist. Für jene, die es noch nicht erkannt haben, ist die „israelische Kultur“ ein direktes Produkt des zionistischen Projekts. Klar ist auch, dass die moderne hebräische Kultur es auch fertig gebracht hat, die Welt des jüdischen Symbolismus für sich zu beanspruchen. Der Zionismus schuf eine neue Form jüdischer Stammeszugehörigkeit.
Doch so sehr der Zionismus auch eine kulturelle Erfolgsgeschichte innerhalb des jüdischen Diasporadiskurses ist, so ist er, so weit es die Israelis selbst betrifft, eher bedeutungslos. Der Sabre, der im Lande geborene israelische Jude, hat keinerlei Vorteil vom Zionismus, der ein strukturelles Bild symbolischer Kennzeichnung ist. Tatsächlich hat es der Sabre nicht nötig, sich mit irgend einem Symbol, das sich auf geographische Hoffnung gründet, zu identifizieren. Er oder sie wird mit einem selbstgenügsamen Markenzeichen hineingeboren d.h. ins Israelitum . In ähnlicher Weise benötigen die Sabres auch die hebräische Sprache als Mittel zu ihrer Identifizierung nicht, sie benützen sie als Mittel zur Verständigung. Der Sabre braucht auch keine geographische Orientierung. Sie haben durch ihre Geburt die richtige Orientierung. Der Sabre muss sich auch nicht mit der israelischen Folklore befassen, tatsächlich können die meisten Israelis die israelische Folklore gar nicht ausstehen, sie mögen eher den ausländischen Pop und Rock, auch türkische und griechische Musik und sogar wilden freien Jazz.
So seltsam es klingen mag, das was für den Diasporajuden als strukturelles symbolisches Markenzeichen genommen wird, d.h. den hebräischen Fetisch, bedeutet für die Israelis wenig. So ist es auch mit dem Diasporajuden, der sich dem Israelitum verschreibt – für den Israeli bedeutete dies sehr wenig. Das sollte uns nicht überraschen: die Vorstellung von Amerikanismus bedeutet für den Nicht-Amerikaner mehr als für die Amerikaner. Eine ähnliche Tendenz gibt es unter amerikanischen und britischen Pseudointellektuellen, ein seltsames französisches Wort fallen zu lassen… Kein Franzose denkt beim Sprechen daran, dass französisch sprechen etwas besonders Kluges sei. Ähnlich gebrauchen die Diasporajuden seltsame hebräische Wörter, um sich ihrer Stammeszugehörigkeit zu versichern . Aber es ist für Israelis mehr als ein hebräisches Wort nötig, um sich auf gestohlenem Land, nämlich in Palästina zu Hause zu fühlen.
Erinnerung und Nostalgie
„Ich bin ein menschliches Wesen, ich bin ein Jude und ich bin ein Israeli. „Zionismus war ein Instrument, um mich von einem werdenden jüdischen Staat in einen werdenden israelischen Staat zu bringen. Ich glaube, es war Ben Gurion, der sagte, dass die zionistische Bewegung das Gerüst war, um das Heim zu bauen und das nach der Errichtung des Staates wieder abgebaut werden sollte.“ Ari Shavits Interview mit Avram Burg: „Leaving the Zionist Ghetto“ ( Das zionistische Ghetto verlassen) Haaretz.
Was ist für den Sabre übrig geblieben, mit dem er sich identifizieren könnte? Nicht viel, so scheint es: das Land, auf dem er lebt, gehört einem anderen Volk. Das Essen, das ihn heimisch fühlen lässt (Hummus und Falafeln) ist jenem anderen Volk, also den Palästinensern, genommen worden. Die Sprache, die er anwendet, wenn er entweder sehr glücklich oder sehr ärgerlich ist, ist arabisch und ist ausgeborgt – ratet mal von wem? – vom selben anderen Volk. Ich denke, du weißt, wer es ist – ja die Palästinenser. Das Herzstück der hebräischen Kultur, der Slang, das Essen, der blaue Himmel, das Meer, die Wüste, die Quelle und der Herbst, Hügel und Täler, die Olivenbäume … alles gehört mehr zum Land (Palästina) als zum aufgeblähten Apartheid -Staat, Israel, der es momentan in Besitz genommen hat.
Was könnten die Israelis tun, um ihrer fragmentierten, nicht authentischen Realität zu entkommen, die in allem wie Heimat aussieht, aber tatsächlich dem ‚anderen’ Volk gehört?
Diejenigen, die Israel besuchen, erfahren die Antwort schon wenige Minuten, nachdem sie in Tel Aviv gelandet sind: Internationalität und westlich-liberaler Glanz ist die israelische Antwort. Die Israelis befassen sich mit ihrem hoffnungslosen Verlangen nach Authentizität, indem sie die Symptome ihrer inhärenten Loslösung multiplizieren.
Besucher, die das erste Mal nach Tel Aviv kommen, sind zuweilen über die kulturelle Vielfalt erstaunt, die die Stadt bietet. Tel Aviv ist tatsächlich eine der freiesten Städte in der Welt. Man kann jede westliche Mode und amerikanische Nahrungsmittelkette dort finden. Jeder Rockstar und Popspieler nimmt Israel in seinen Weltauftrittsplan. In einigen Tel Aviver Restaurants kann man Sushi als Vorspeise, ungarischen Gulasch als secundo, ein französisches Entrecote als Hauptgericht und Baklava als Desert bekommen. Vor kurzem erfuhr ich, dass Tel Aviv nicht nur eine „Sexattraktion“ sei, sondern auch die nächste „Hauptstadt der Lesben und Schwulen“. Dies ist tatsächlich sehr ermutigend, zu erfahren, dass der Sabre zwischen Humus und Falafel nach einem Sashimi greifen und in ziemlich weit entwickelter sozio-erotischer Aktivität nach persönlicher Wahl schwelgen kann. Dies mag wohl die äußerste Form von Freiheit sein, die der „Staat nur für Juden“ anbieten kann: Weltbürgertum verbunden mit fortschrittlichem westlich lüsternen Liberalismus.
Doch befasst sich Israel, die lüsterne, liberale, „einzige Demokratie im Nahen Osten“, auch mit einigen recht verschiedenen unheilvollen Praktiken. Trotz der israelischen Verkörperung der höchsten Manifestation westlicher Toleranz, trotz seiner kulinarischen Breite, lassen sie Millionen Menschen fast verhungern, besonders das palästinensische Volk. Trotz der Tatsache, dass die Israelis eine Menge wirklicher Bemühung darin investieren, Tel Aviv zu ihrer kulturellen Hauptstadt, zu einer „Stadt ohne Grenzen“ zu machen – so ist Gaza-Stadt jetzt eine Grenze ohne Stadt. Es ist ein großes Konzentrationslager, das von vielen Ausgangssperren unterdrückt und durch ständigen Artilleriebeschuss und militärische Überfälle zerschlagen wird. Israel hat die palästinensischen Städte in große städtische Gefängnisse verwandelt, die von Stacheldraht, Wachtürmen und Wachposten umgeben sind.
Wir sollten uns nun nur noch fragen, wie ist es möglich, dass das Volk, das so weltbürgerlich, so multi-kulturell ist und eine so westliche liberale Ideologie hat, sich gegenüber der einheimischen Bevölkerung so böse verhält. Wie passt die exklusive Neigung zur Trennung, wie sie die gigantische Apartheidmauer darstellt, mit der liberalen Selbstdarstellung - von „kulinarischer Weite“ gewürzt - zusammen ? Wie passen die gegen die Palästinenser angewandten hinterhältigen Taktiken zum poetischen israelischen Selbstbild einer fortschrittlichen humanistischen Nation? Wie passt ein israelischer Friedenssucher zu den „Sicherheitsmauern“?
Wir müssen zugeben, dass wir es hier mit einer schwerwiegenden Form von Fragmentierung zu tun haben, die sich am Rande kollektiver Schizophrenie befindet. Ich möchte behaupten, dass wir es hier mit einer unvermeidlichen Konfrontation von ‚Erinnerung’ und ‚Nostalgie’ zu tun haben.
Erinnerung wird durch die Fähigkeit realisiert, Informationen zu speichern, zu behalten und zurückzuholen. Erinnerung verweist auf die tatsächliche, wieder erkannte Vergangenheit und seine aktuelle Interpretation. Nostalgie ist andrerseits der Wunsch, in die „Heimat“ zurückzu- kehren. Nostalgie ist gewöhnlich von der Angst begleitet, sie nie wieder zu sehen. Bis zu einem gewissen Grad ist Nostalgie die Sehnsucht nach nicht erfüllter Vergangenheit.
Die Auseinandersetzung zwischen Erinnerung und Nostalgie ist ein Wesenszug der israelischen gebrochenen Realität. Der Sabre wird von der Neigung hin und her gerissen, sich selbst als Protagonist in der Serienepisode von „Sex und der Stadt“ zu sehen , so weit ihn die Erinnerung an seinen letzten Besuch nach London, Paris, New York und Tokio mitnimmt. Nostalgisch kehrt er ins Ghetto zurück, das mit „Sicherheitsmauern“ umgeben ist und zu einer Schüssel voller Hühnersuppe.
Die Sehnsucht nach dem Ghetto könnte vielleicht in dem Sinne verstanden werden, was Israelis unter „Friedenssuche“ verstehen. Obwohl Shalom oft mit „Frieden“ übersetzt wird, hat das Wort fast nichts mit Frieden zu tun. Wenn Israelis über Frieden reden, meinen sie nicht Versöhnung, Harmonie oder die Umwandlung ihrer Gesellschaft in eine ökumenische Gemeinschaft, die sich auf universale Werte stützt. Wenn Israelis ‚Shalom’ erlangen wollen, dann meinen sie (ihre) ‚Sicherheit’. Deshalb interpretierten Israelis und ihre Unterstützer die ‚einseitige Trennung“ (vom Gazastreifen R) als einen ‚Shalom-suchenden“ Schritt. Während Frieden auf die echte Suche nach Frieden , Harmonie und Brüderlichkeit verweist, meint Shalom sehr viel mehr das Gegenteil: Trennung und Abtrennung. Während Friede bedeutet, dass man aus seiner Nussschale herauskommt und sein Herz für den Nachbarn öffnet, bedeutet Shalom die Errichtung eines ‚Sicherheitszaunes’ und das Auftauchen einer tiefen kollektiven Abscheu gegenüber dem Rest der Welt.
Doch diese seltsame hebräische Interpretation der Ansicht über Shalom ist bei weitem keine israelische Schöpfung. Wie ich schon früher bemerkt habe, drückt Shalom die Nostalgie nach dem europäischen Ghetto aus.
Schon 1897 machte Max Nordau in seiner berühmten Rede auf dem 1. Zionistischen Kongress auf eine reale, unverhohlene Sehnsucht nach dem schon lange verlorenen Ghetto aufmerksam:
„Das Ghetto war für die Juden in der Vergangenheit nicht ein Gefängnis, sondern eine Zuflucht – die Juden hatten ihre eigene Welt; es war für sie ein sicheres Refugium, das für sie den spirituellen und moralischen Wert eines Elternhauses hatte. Hier waren Komplizen, Partner, von denen man anerkannt werden wollte und anerkannt werden konnte; …hier wurden alle jüdischen Qualitäten bewundert …Die Meinung der Außenwelt hatte keinen Einfluss, denn es wäre die Meinung von ignoranten Feinden. Man versuchte, seinen Mitjuden zu gefallen und ihr Applaus machte ihr Leben wertvoll und zufrieden. So lebte der Ghettojude moralisch respektiert ein volles Leben. Seine Situation nach außen hin war unsicher, oft ernsthaft gefährdet. Aber im Inneren gelang ihnen eine volle Entwicklung ihrer besonderen Qualitäten. Sie waren Menschen, die in Harmonie mit einander lebten und die nicht die Elemente des normalen sozialen Lebens benötigten. Sie fühlten auch instinktiv die große Bedeutung des Ghettos für ihr inneres Leben und deshalb hatten sie nur die eine Sorge: ihre Existenz durch unsichtbare Mauern zu sichern , die viel dicker und höher waren als die Steinmauern, von denen sie sichtbar eingeschlossen waren. Alle jüdischen Gebäude und Gewohnheiten verfolgen unbewusst nur ein Ziel: das Judentum durch Trennung vom andern Volk zu erhalten und dem einzelnen Juden ständig bewusst zu machen, dass er verloren wäre und verderben würde, wenn er seinen besonderen Charakter aufgibt.“
Diese alte Rede drückt den tiefsten Wunsch auch des heutigen Israeli aus.
Für die Israelis bedeutet das Leben innerhalb von ‚Sicherheitsmauern’ „kein Gefängnis sondern ein Refugium“. …In Israel hat der Sabre „seine eigene Welt“. In Israel hat die Meinung der Außenwelt „keinen Einfluss“, weil es die „Meinung ignoranter Feinde“ ist. Nordau beschreibt genau die Geisteshaltung Ben Gurions, nach der dieser ein halbes Jahrhundert später sagte: „Es ist völlig gleichgültig was Nichtjuden sagen, wichtig allein ist, was Juden tun.“
In seiner Rede spricht Nordau über das geistige Vermögen des Ghettos, das den Juden ein Gefühl der Sicherheit durch unsichtbare Mauern verlieh, die viel dicker und höher als die Steinmauern waren, die sie sichtbar einschlossen. Kann ich hier darauf hindeuten, dass es genau diese Innenansicht ist, die die erstaunliche Maßnahme der israelischen Apartheidmauer erklären? Doch während Nordau von ‚unsichtbaren’ Mauern spricht, ist die israelische ‚Verteidigungsmauer’ aus grauen verstärkten Beton ziemlich deutlich und sichtbar gemacht .
So viel sich der Israeli auch danach sehnt, seine imaginäre, weltpolitische, liberale Realität zu feiern, soviel er sich wünscht, seine Sexualität in einer großen Stadt auszuleben, in dem er sein Kurzzeitgedächtnis in Erinnerung ruft, seine nostalgische Sehnsucht bringt ihn zu einer Schale dampfender Hühnersuppe in einem sehr kleinen Shtetl zurück. Er sehnt sich nach einem ‚sicheren’ jüdischen Leben, und es ist genau diese Sehnsucht, die den „Staat nur für Juden“ in ein aufrührerisches Ghetto verwandelt. Doch nicht wie ein altes europäisches Ghetto, in dem die Juden ziemlich schüchtern waren – unser zeitgenössisches israelisches Shtetl ist eine kriegerische, expansionistische, nukleare Supermacht.
Wir müssten auch zugeben, dass es dem Sabre nicht gelungen ist, eine homogene Realität zu schaffen, in der ein neues zivilisiertes Wesen seinen Platz in der Menschheit reklamiert, die sich auf Harmonie und Frieden gründet. So sehr der Zionismus dort einen neuen , echten Juden schaffen wollte, so schuf er eine zersplitterte Gemeinschaft von Individualisten, die unvermeidlich mit dem kosmopolitischen Kurzzeitgedächtnis und der Stammesnostalgie auf einander stießen.
Der Sabre und die Kaktusfeige.
Ein Freund, der vor ein paar Wochen aus Palästina zurückkehrte, war so freundlich und hat seine Eindrücke mit mir geteilt. Auf seiner Reise von Jerusalem nach Ramallah bemerkte er, dass die Israelis sich darum bemühen, die israelische Seite der Mauer in ein ‚architektonisches Feature’ zu verwandeln. An Plätzen war sie weitgehend gekachelt und mit Jerusalemstein und Blumen dekoriert, an anderen Teilen schufen Künstler pastorale Phantasien von Landschaften, Seen und Olivenbäumen. Die Israelis erhöhten auch den Boden neben der Mauer auf ihrer Seite, sodass sie niedriger und freundlicher erscheint. Doch als mein Freund den Kontrollpunkt passiert hatte und auf die palästinensische Seite kam, war das volle störende Ausmaß der Mauer nicht zu übersehen. Er sah eine gigantische Betonmauer, die 8-10 Meter hoch ist und nun den Horizont dessen stört, was von Palästina übrig geblieben ist.
Ich dachte eine Weile darüber nach. Hauptsächlich dachte ich über Nordaus Bemerkung zum Ghetto nach und seine Dualität von ‚Gefängnis’ und ‚Refugium’. Und ich begriff, dass so sehr es den Israelis darum geht, die Palästinenser hinter Mauern einzusperren, so ist die israelische Apartheidmauer nichts weniger als auch ein selbst geschaffenes Gefängnis, das der jüdische Staat für sich selbst schuf. Innerhalb des zio-zentrischen Diskurses, der von Nordau gesetzt wurde: Gefängnis gleich Refugium.
Daraus folgt: der Sabre ist vor allem eine Tragödie. Er war dazu verurteilt, ein Misserfolg zu werden. Der Sabre war dort, um ein neues hebräische Ghetto zu errichten; er war dort, um das Trauma, das alte jüdische Ghetto verlassen zu haben, zu reparieren – das jüdische Ghetto, das eine Folge europäischer Aufklärung und der Neigung jüdischer Emanzipation war. Der Sabre sollte ein neues ‚zivilisiertes Wesen“ werden. Doch der Auftrag war unmöglich. Er zielte gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen: Universalismus und Stammesdenken. Es sieht so aus, als wäre die Saat für die israelische Apartheid und die Grundlage für die ‚Sicherheitsmauer’ schon beim 1. zionistischen Kongress gelegt worden.
Doch so sehr sich auch der Sabre selbst als Aggressor und als eine sich selbst auferlegte historisch tragische Entität darstellt, wird auch ziemlich klar, dass nicht viele Leute die begriffliche und ideologische Tiefe hinter dem schwer belasteten Wort SABRE erkennen. Das hebräische Wort Sabre/Tsabar kommt vom arabischen Wort Sabbar, das der Name für die stachelige Frucht der Kaktusfeige ist, die es überall im ländlichen Palästina gibt. Es ist eine Anspielung auf eine zähe, dornige Wüstenpflanze, deren Frucht eine dicke, stachelige Haut hat, unter der süßes, saftiges und wohlschmeckendes Fruchtfleisch liegt. In Israel geborene Juden, die sich selbst Sabre nennen, bestehen darauf, weil sie sich zäh und rau bzw. stachelig von der Außenseite, doch innen süß und zartbesaitet betrachten.
Die Erinnerung an das Land
Genau dieses Image des israelischen im Lande geborenen Juden als Dualität zwischen Zähigkeit und Empfindlichkeit wird nun mit der Topographie der Region reflektiert. Die mit Stacheldraht versehenen Zäune/ Mauern, die Palästina in Bantustans zerteilen, sind dafür da, um das saftigsüße/ sensible Image des kosmopolitischen Tel Aviv zu schützen. Tragischerweise reflektiert nun die Landschaft des zerstückelten Palästina das Sabre-Selbst-Image und seine Identität. Die israelische Aggression gegenüber seinen Nachbarn, zusammen mit der selbst-produzierten Selbstgerechtigkeit, ist nichts anderes als eine Reflektion der ‚zähen und zartbesaiteten’ Fantasie.
Es sieht so aus, als besteht der Israeli darauf, sich selbst als ‚süß und sensibel’ anzusehen. Letzten Endes hat die Selbstliebe ihn mehr zu einer jüdischen allgemeinen Stereotype gemacht ( im Gegensatz zu Selbst-Hassern, einer Eigenschaft, die nur seltsamen jüdischen Humanisten und Denkern zugeteilt wird). Doch außerhalb Israels teilen gewissen Leute ernsthafte Zweifel an der Süßigkeit/Sensibilität des Israeli und des Sabre. Vor kurzem haben wir erfahren, dass israelische Minister und IDF-Offiziere offiziell beraten wurden, von Auslandsreisen Abstand zu nehmen, um nicht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet zu werden.
Doch da gibt es etwas, das sogar die Mehrheit der Sabres nicht wissen. Es geht um das Symbol der Kaktusfrucht, nach der sie sich so gerne nennen. Diese sehr stachelige Kaktusfeige symbolisiert tatsächlich den israelischen Raub Palästinas.
Der Sabbar-Kaktus ist tatsächlich eines der letzten Überreste des alten Palästinas vor Ort. Der Sabbar-Kaktus wächst in der Nähe der Bereiche menschlicher Siedlungen und wird von menschlichem Abfall genährt. Der Sabbar war ein integraler Teil der palästinensischen Dörfer und der rustikalen Landschaft. Er gehört zum palästinensischen Lebensrhythmus. Obwohl es Israel gelang, die Spuren aller vor 1948 bestehenden Dörfer und des ländlichen Lebens auszulöschen, kamen die Sabbars bald wieder zurück. Wo immer man in diesem Land einen solchen Kaktus sieht, kannt man sicher sein, dass hier ein palästinensisches Dorf, eine Farm oder ein Haus vernichtet wurde. Die Sabbars sind wirklich stachelig. Ihre Stacheln zeigen auf die Sabres, die das Land kolonisiert und seine Geschichte im Namen der jüdischen Geschichte ausradiert haben.
Für Palästina (das Land ) und die Palästinenser (das Volk) sind die Sabbars keineswegs Nostalgie. Sie sind ein Gegenstand ihrer Erinnerung und lebendiger Gegenwart. Sie sind dort auf dem gestohlenen Land, das nach dem palästinensischen Bauern verlangt, der sie alle Zeiten hindurch nährte. Sie sind dort auf dem Land und halten die Geschichte der palästinensischen Dörfer wach. Sie sind voller Früchte und warten auf die palästinensischen Kinder, damit sie die Kaktusfeigen ernten.
So sehr die Sabres behaupten ‚zäh und zartbesaitet’ zu sein, der Sabbar-Kaktus ist dort, um die Tatsachen vor Ort zu dokumentieren:
Palästina ist ein Stück Land, Israel und die Sabres sind nur noch ein weiterer vorübergehender Moment in einer imaginären jüdisch heroischen Phase. Diese Phase beginnt ihr Endstadium und wird sehr bald ein Ende finden.
(Dt. und geringfügig gekürzt:
Ellen Rohlfs)