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Mit verbundenen Augen

 

Gideon Levy, 4.10.08

 

Sieh dir mal kurz das Foto vor dir an. Wir nahmen es zufällig im letzten Herbst auf. Während einer nicht enden wollenden Wartezeit am Havara-Kontrollpunkt, um nach Nablus zu gelangen. Wir sahen, wie dieser Mann verhaftet wurde. Bingo – es ist das Spiel der Soldaten am Checkpoint. Wir kannten seinen Namen nicht, auch nicht, warum er verhaftet wurde und wann er entlassen wurde – wie üblich. Aber wir bemerkten seine stolze Haltung  - allein und aufrecht. Seine Augen waren schon mit einem IDF-Flanelltuch verbunden, ein Tuch, womit man sonst die Gewehrläufe reinigt. Man war dabei, ihm Plastikhandschellen umzulegen. Wir schienen uns, über seine plötzliche Verhaftung  mehr aufzuregen als er. Nach 41 Jahren waren die Palästinenser daran gewöhnt, dass an einem gewöhnlichen Tag, auf dem Weg zur oder von der Arbeit, alles plötzlich auf den Kopf gestellt werden kann.

 

Es war ein Routinejahr, noch ein Jahr der Besatzung – und kein Ende in Sicht. Von Rosh Hashana 5768 bis Rosh Hashana 5769 tötete unser Militär 584 Palästinenser, 95 davon waren minderjährig, viel weniger als im Jahr zuvor, als 989 getötet wurden; viel mehr als 2005 mit 190 Getöteten. 18 Israelis wurden im letzten Jahr auch getötet, viel mehr als im vorausgegangenen Jahr, als nur fünf getötet wurde, viel weniger als 2002, als 184 Israelis getötet wurden. Alles in allem ein durchschnittliches Jahr des Blutvergießens.

 

All dies wurde von der israelischen Gesellschaft wie mit verbundenen  Augen beobachtet. Als an einem schwarzen Sommertag im Gazastreifen fast 60 Palästinenser  getötet wurden, fand das in den Zeitungen kaum eine Erwähnung. Mit (anscheinend) verbundenen Augen sieht die israelische Gesellschaft weiterhin auf die Routine der Besatzung, auf die Mütter in Wehen, die am Checkpoint ihr Baby verlieren, wie die Bauern Opfer der gesetzlosen Siedler werden, auf die nächtlichen Überfälle, die Arbeitslosigkeit, die Armut und ( auch darauf) wie die Hoffnung schon vor langem gestorben ist.

Im vergangenen Jahr haben wir kaum etwas über das Leben unter Belagerung im Gazastreifen gehört. Seit zwei Jahren dürfen wir, ein Handvoll israelischer Journalisten, die nur ihre journalistische Mission erfüllen wollen,  nach israelischen Militärordern den Gazastreifen nicht mehr betreten. Als ich vor ein paar Wochen den Verteidigungsminister Ehud Barak fragte, schien er davon nichts zu wissen. Er ließ jemanden, danach fragen, aber wir bekamen natürlich darauf keine Antwort. Es ist gar nicht überraschend, dass der Verteidigungsminister nichts davon weiß, dass es isr. Journalisten  vom Verteidigungsestablishment verboten ist, über den Gazastreifen zu berichten: den Gazastreifen interessiert niemand in Israel.

Und so verging wieder ein Jahr und unsere Augen sind  wie verdeckt .

 

Mit einer winzigen Taschenlampe, die wir noch haben, versuchten wir hier während des Jahres ein paar blasse Lichtstrahlen auf die Routine des Lebens unter Besatzung zu werfen. Es ist eine undankbare Aufgabe, von deren Ergebnis nur wenige etwas wissen wollen. Aber  wir halten durch. Eine kleine Nachlese aus dem dunklen Hinterhof des Staates – der „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“.

Mitten in einer Nacht anfangs des Jahres 5768 stürmten IDF-Soldaten in ein Haus im Flüchtlingslager Ein Beit Ilma bei Nablus und jagten nach einem Gesuchten. Sie gingen von einer Wohnung in die nächste und durchbrachen dabei die Mauern, hinterließen große Löcher in den Wohnzimmern der bescheidenen Häuser, zerstörten Küchen, in dem ein erschrecktes Mädchen stand und den Abwasch machte. Ein paar Wochen später war ein altes Ehepaar in Nablus dran. Eine ganze Nacht lang waren Wazirs allein und zitterten vor Angst in ihrer Hütte, während rund herum geschossen wurde und Explosionen statt fanden, bis endlich der Befehl kam, das Haus zu verlassen. Abdel Wazir, der Onkel des legendären Abu Jihad (Khalil al Wazir) ging nach draußen und wurde auf der Stelle von Soldaten  erschossen. Er war 71, der älteste Shahid/ Märtyrer.

Dann erzählten wir die Geschichte von Ma’ida al Akel, die nach Jordanien ging, um ihre kranke Mutter zu besuchen. Man ließ sie nicht zu ihrem Mann und den 6 Kindern zurückkehren, wo möglich für immer. In der folgenden Woche beschrieben wir die Hashlamouns in Hebron. Nora  und Sami wurden unter Administrativhaft gesetzt – keine Gerichtsverhandlung, keine Anklage. Die Großmutter ihrer sechs Kinder tat ihr Bestes und versorgte sie.

Die 63 Mitglieder der Beduinenfamilie Qa’abneh wurden durch den Zaun von ihrem Land, das  ihnen den nötigen Lebensunterhalt gab, in der Nähe von Bir Naballah abgeschnitten. Im Gebiet von Tarqumiya wurden 150 Flüchtlinge von 1948 ein zweites Mal zu Flüchtlingen, als sie dieses Jahr wegen  des Checkpointbaues wieder aus ihren Häusern vertrieben wurden. Mohamed Ashkar wurde  während eines Gefängnisaufstandes  im Ketziot-Gefängnis direkt in den Kopf geschossen; zuhause wartete sein durch Folter gelähmter  Bruder Loai auf ihn. Ein anderer Gefangener, Imad Khotri, wurde von „Major Effi“ im Kishon-Gefängnis gefoltert und hat nun gelähmte Armee. Der arbeitslose Gärtner Firas Kaskas wurde  bei einem Ausflug mit Freunden in einem Wadi bei Ramallah getötet. Er hinterlässt drei Töchter -  er wurde aus sehr großer Entfernung erschossen.

 

Die IDF, die Grenzpolizei und der Shin Bet waren nicht allein: das letzte Jahr war vor allem das Jahr der Siedler. In den letzten Monaten  eskalierten ihre Randale fürchterlich, während die IDF und die Polizei tatenlos zusah  - und wenigstens bei einem Vorfall sogar mitmachte. Sie verbreiteten bei einer Vergeltungsmaßnahme im Dorf Al-Funduq Angst und Zerstörung: Fünf Siedler aus Havat Gilat schlugen den Hirten Hashem Achmed,51, so zusammen, dass er ins Krankenhaus musste. Bei verschiedenen Gelegenheiten griffen Siedler aus Asael Mitglieder der Familie Abu Awad an, Hirten aus den Südhebroner Hügeln, und zerstörten ihren bescheidenen Besitz. Nach meinem Artikel über diesen Fall machte ein gutherziger,  bekannter Israeli, der anonym bleiben möchte, der Familie ein großzügiges Geschenk und einer der Ärzte für Menschenrechte  arrangierte für  vier der Kinder der Familie , die eine ernsthafte Hauterkrankung haben, eine Untersuchung im Krankenhaus. Eine benachbarte Familie, die Abu Qabeitas wurden von Siedlern aus Sussia und Beit Yattir angegriffen. Sie setzten Häuser in Brand, vergifteten Schafe und feuerten Mörsergranaten ab.

 

Während seiner Pflichtausübung wurde der  palästinensische Polizeioffizier Mohammed Salah getötet. Er wagte es, einen Wagen  mit israelischen Undercoverleuten an einem Polizeikontrollpunkt in Bethlehem anzuhalten. Sie töteten ihn direkt, nachdem er die Wagentür geöffnet hatte. Und dann wurden Babys unter einem schlechten Stern geboren: Kifah Sider wurde gezwungen, ihr Kind  bei frostigem Winterwetter auf der Straße in Hebron auf die Welt zu bringen, nachdem man sie am Tel Rumeida-Kontrollpunkt zu lange hat warten lassen. Ihr Baby ist gesund. Aber die Abu Radas hatten weniger Glück: 75 Minuten lang bettelte Mu’ayyad vergeblich für seine Frau, dass man sie durch den Hawara-Kontrollpunkt zum Krankenhaus in Nablus durchlässt – das Kind wurde am Kontrollpunkt totgeboren .

 

Zwischendurch kam Fawziya al Darak am Tul-Karem-Kontrollpunkt nach einer schweren Herzattacke an. Ihr Mann bat sehr darum, dass man sie zum Krankenhaus nach Tulkarem durchlässt. Sie wurden abgewiesen – und Fawziya stirbt.

Ghassan Burqan wollte auch durch einen Kontrollpunkt, um ins Tel Rumeida-Viertel in Hebron nach Hause zu kommen. Er trug eine neue Waschmaschine auf seinem Kopf, ein Geschenk für seine Frau. Der Grenzpolizist behauptete, er habe versucht, ihn mit der Waschmaschine anzugreifen und zerstörte sie. Zum Glück entließ ihn der Militärrichter und ein loyaler israelischer Leser kaufte ihm eine neue Waschmaschine.

Omar Alians Familie war gezwungen, 12 Stunden zu warten, nachdem er an Krebs in seinem Elternhaus gestorben war, bevor ihnen erlaubt wurde, seinen Leichnam auf die andere Seite des Kontrollpunktes zu bringen, der Jerusalems Stadtteil Sheik Saad absperrte. Bei einer anderen Gelegenheit feuerten israelische Soldaten bei der Gush-Etzion-Kreuzung auf einen  neuen Mercedes-Taxi, in der eine Familie mit einem Baby saß . Als sie herausfanden, dass sie das Leben einer unschuldigen Familie in Gefahr gebracht hatten, konfiszierten sie das Taxi für eine angebliche Untersuchung. Sie gaben es einige Tage später ruiniert zurück.

 

Soldaten stahlen Mohammed Abu Arkub, einem Barbier, Schmuck im Wert von Tausenden von Schekel. Bei einer Durchsuchung spät nachts wurde ein Nachbar, der Dachdecker Sami Huatra grundlos zweimal angeschossen und lange blutend liegen gelassen. Fadi Darabiya wurde von Soldaten so hart in den Unterleib gestoßen, dass er eine Hode verlor. Andere Soldaten schossen auf einen fast blinden Jugendlichen, Ahmed Sabarna aus Beit Umar, nachdem sie ihn verdächtigten, er habe irgendwie Steine auf sie geworfen .

 

„Captain Joe“ als einer der Armeeoffiziere bekannt, ließ Flugblätter im drohenden Maffiastil   im Namen der IDF in Azun zurück: „Captain Joe wird ins Dorf kommen und die Bewohner erschießen, die Kinder verhaften und die Läden schließen“, war seine Botschaft. Ein anderer „Captain“ aus der Zivilverwaltung war verantwortlich für die Zerstörung besonders spektakulärer Terrassen der Beit Ula-Felder. Zwei Jahre harter Arbeit und eine  größere Geldsumme aus der EU gingen in zwei Stunden den Bach hinunter.

 

Auch in diesem Jahr entführten Soldaten zwei Hirten im Jordantal und hielten sie  die ganze Nacht gefangen, während andere Soldaten sie suchten. Der Vater der jungen  Videofilmerin von Na’alin wurde von Soldaten verhaftet. Jamal Amira saß 26 Tage grundlos im Gefängnis. Seine einzige Sünde:  Seine Tochter Salam filmte und wagte, das Schießen eines Soldaten  (auf Order des  Brigadekommandeurs) auf einen gefesselten Palästinenser in Na’alin zu dokumentieren.

 

Nach all diesem und vielem mehr waren viele verwundert, dass Mitglieder einer Delegation von Menschenrechtsaktivisten aus Südafrika – einschließlich zwei Richtern des Obersten Gerichts - die mit uns Nablus besuchten, sagten, dass die israelische Besatzung viel schlimmer sei als die Apartheid.

Ich wünsche allen ein weiteres gutes Jahr der Besatzung.

 

(dt. Ellen Rohlfs)