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Gaza
zerstören
Sara Roy 9.7.2009
Das
Treffen von US-Präsident Barack Obama
und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu vor kurzer Zeit
ließ Spekulationen über die zukünftigen Beziehungen zwischen Amerika und Israel
aufkommen und eine potentiell veränderte US-Politik beim israelisch-palästinensischen
Konflikt. Analysten der Rechten und der Linken kommentieren eine neue schärfere
amerikanische Politik, die von härteren US-Forderungen gegenüber Israel
gekennzeichnet sein wird. Doch unterhalb der diplomatischen Choreographie liegt
eine qualvolle Realität, die nur kurze Kommentare von Obama
erhält und Stillschweigen von Netanyahu: die anhaltende Zerstörung der
Bevölkerung des Gazastreifens.
Diese
Bevölkerung ist ein Beispiel einer Gesellschaft, die absichtlich in einen
Zustand erbärmlichen Elends gebracht wurde. Gazas einst produktive Bevölkerung
wurde in Arme verwandelt, die auf Hilfe angewiesen ist. Dieser Kontext ist
unleugbar der eines Massenleidens, das größtenteils von Israel geschaffen
wurde - aber unter aktiver
Komplizenschaft der internationalen Gemeinschaft, besonders der USA und der EU
und der Palästinensischen Behörde in der Westbank.
Gazas
Abhängigkeit fing lange vor Israels letztem Krieg gegen den Gazastreifen an.
Die israelische Besatzung – inzwischen von der internationalen Gemeinschaft
weitestgehend vergessen, wenn nicht gar abgestritten – hat Gazas Wirtschaft und
die Bevölkerung, vor allem seit 2006 vernichtet. Auch wenn die wirtschaftlichen
Restriktionen tatsächlich schon vor Hamas’ Wahlsieg im Januar 2006 zunahmen, so
haben die verschärften Sanktionen und die Belagerung - von Israel und der
internationalen Gemeinschaft anschließend auferlegt - und ab Juni 2007, als
Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm, noch einmal intensiviert
und die lokale Wirtschaft zerstört. Wenn es
ein spezielles Thema unter den vielen Palästinensern, Israelis und
Internationalen gab, die ich in den letzten drei Jahren interviewte, so war es
die Angst vor einer schwer geschädigten Gesellschaft und Wirtschaft, die so
groß ist, dass Milliarden von Dollar und Generationen nötig sind, um mit diesen Problemen fertig zu werden – eine
Angst und Befürchtung, die nun Realität wurde.
Nach
Israels Dezemberangriff sind Gazas sowieso schon schwer geschädigte
Lebensbedingungen tatsächlich unerträglich geworden. Der Lebensunterhalt, die
Wohnhäuser und die allgemeine Infrastruktur sind in einem Ausmaß beschädigt, ja
zerstört worden, dass sogar die israelische Armee zugab, es sei nicht zu
rechtfertigen gewesen. Im Gazastreifen von heute gibt es keinen privaten Sektor
und keine Industrie mehr. 80% von Gazas landwirtschaftlicher Ernte wurde
zerstört und Israel schießt weiter scharf auf Bauern, die versuchen, auf ihren Felder in der Nähe der schwer bewachten Grenze zu arbeiten.
Der größte Teil produktiver Aktivitäten sind vernichtet worden.
Ein
machtvoller Ausdruck von Gazas wirtschaftlichem Ende – und der unbeugsame Wille
der Gazaer, sich und ihre Familien selbst zu
versorgen – ist die boomende Tunnelwirtschaft, die sich schon vor langem
entwickelte als Reaktion auf die Belagerung. Tausende von Palästinensern sind
jetzt damit beschäftigt, Tunnel nach Ägypten zu graben. Von etwa 1000 Tunnel
wird berichtet, auch wenn nicht alle funktionieren. Nach lokalen Ökonomen
besteht die wirtschaftliche Tätigkeit in Gaza, die einmal (zusammen mit der
Westbank) auf einer niedrigen mittleren
Einkommenswirtschaft beruhte – zu 90% aus Schmuggel.
Heute
sind 96% der 1,4 Millionen Menschen des Gazastreifens von humanitärer Hilfe von
Grundnahrungsmitteln abhängig. Nach dem Welternährungsprogramm benötigt der
Gazastreifen ein Minimum an 400 LKW-Ladungen täglich, nur um die
Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Doch trotz einer Entscheidung des
israelischen Kabinetts am 22. März, alle Restriktionen auf Nahrungsmittel
aufzuheben, wurden nur 653 LKWs mit Lebensmitteln und anderem Nötigen während der
Woche um den 10. Mai durchgelassen, das sind etwa 23 % der erforderlichen
Menge.
Israel
erlaubt nur, dass 30-40 Waren die Grenze überschreiten, anstelle von 4000
Produkten, die vor Juni 2006 geliefert wurden. Nach der israelischen
Journalistin Amira Hass wurde der Transport vieler Bedarfsgüter abgelehnt:
Baumaterial, (einschließlich Holz für Fenster und Türen) elektrische Apparate
wie Kühlschränke und Waschmaschinen, Ersatzteile für Autos und Maschinen,
Stoffe und Faden, Nadeln, Kerzen, Streichhölzer, Matratzen, Bettücher,
Decken, Bestecke, Geschirr, Tassen, Gläser, Musikinstrumente, Bücher, Tee,
Kaffee, Würste, Grieß, Schokolade, Sesam, Nüsse, Milchprodukte in großen
Packungen, die meisten Backprodukte, Birnen für Lampen, Bleistifte, Kleidung
und Schuhe.
Nach
diesen Beschränkungen unter noch vielen anderen – einschließlich des
internen Chaos in der palästinensischen
Führung – fragt man sich, wie der
Wiederaufbau möglich sein soll, wovon Obama redete.
Es ist keine Frage, dass den Menschen sofort geholfen werden muss. Programme,
um das Leiden zu lindern und so etwas wie Normalität wieder herzustellen, gehen
weiter, aber nur in dem Maß, das von den
extremen Einschränkungen bei der Warenlieferung abhängt. Welchen Sinn hat es,
im Zusammenhang mit solch repressiver Unterdrückung und verschärften
Restriktionen Gaza wieder aufzubauen? Wie ist es unter solchen Bedingungen
möglich, ein Volk zu ermächtigen und nachhaltige und stabile Institutionen
aufzubauen, die in der Lage sind, erwartete externe Schocks zu überstehen Ohne unmittelbares Ende von Israels Blockade
und der Wiederaufnahme von Handel und der freien Bewegung der Leute außerhalb
des Gefängnisses, das Gaza lange gewesen ist, wird die augenblickliche Krise
nur weiter massiv und noch akuter wachsen. Wenn nicht die US-Regierung bereit
ist, wirklichen Druck auf Israel auszuüben, um die Forderungen (Siedlungsstop)
zu erfüllen, wird sich wenig verändern. Es ist nicht überraschend, dass trotz
internationaler Versprechen von 5,2 Milliarden Dollar für Gazas Wiederaufbau,
die Palästinenser jetzt Lehmhütten bauen.
Vor
kurzem sprach ich mit Freunden in Gaza, und das Gespräch war sehr beunruhigend.
Meine Freunde sprachen von einer tief
empfundenen Abwesenheit von irgendwelchem Schutz – persönlich, kommunal oder
institutionell. In der Gesellschaft gibt es wenig Rechtmäßigkeit und einen
schwindenden Konsens gegenüber Regeln …Trauma und Trauer lasten auf allem,
trotz Ausdrücken von Unverwüstlichkeit. Das Gefühl von Verlassenheit unter den
Leuten scheint vollkommen zu sein …Der verblüffendste Kommentar war: „es ist
nicht länger die Besatzung oder gar der Krieg, der uns vernichtet, sondern dass
uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit deutlich wird.“
Was
kann von einem zunehmend ärmer werdenden, kranken, zu dicht bevölkerten und
wütenden Gaza neben Israel kommen? Gazas schreckliche Ungerechtigkeit bedroht
nicht nur die israelische und regionale Sicherheit, es untergräbt auch Amerikas
Glaubwürdigkeit und verscherzt unsern Anspruch auf demokratische Praxis und
Rechtsstaatlichkeit.
Wenn
Palästinensern fortgesetzt das verweigert wird, was wir für uns wünschen: ein
gewöhnliches Leben, Würde, Lebensunterhalt, Sicherheit und einen Ort, an dem
sie ihre Kinder groß ziehen können – und gezwungen werden, noch einmal die
Zerstörung ihrer Familien zu erleben, dann wird die unvermeidbare Folge die
sein, dass die Gewalt in allen Fraktionen, alten und neuen, noch größer und
noch extremer sein wird. Was sich bedrohlich abzeichnet, ist nicht weniger als
der Verlust einer ganzen Generation von Palästinensern. Und wenn dies geschieht
– vielleicht ist es schon geschehen – dann werden wir die Folgen tragen.
(dt.
und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs)