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Das jüdisch-palästinensische Buch des Lebens – zum Yom Kippur

 

Marc Ellis, (Amerik.-Jüdischer Befreiungstheologe) 7.10. 11

http://www.kibush.co.il/show_file.asp?num=48944

 

Ein amerikanischer Jude in Indien. An Yom Kippur, dem jüdischen Tag der Buße. Es ist der  Tag, an dem Juden ihre Sünden bekennen; der Tag, an dem Gott Sünden richtet; der Tag, an dem Gott über unser Schicksal entscheidet.

Die Tradition sagt uns, dass an Yom Kippur Gott unsern Namen ins Buch des Lebens schreibt – oder auch nicht schreibt. Keiner weiß das im voraus. Werden wir morgen noch am Leben sein?

Man mache sich keine Sorgen. Wir bekennen ja unsere Sünden nicht wirklich. Nicht die wirklichen Sünden. Und wir scheinen zu leben. Hält Gott uns zum Narren? Wartet er den richtigen Augenblick ab?

Heute sitze ich in Stille in meinem Hotelzimmer, lieber als in meiner Synagoge zu Hause oder in Neu Delhi. Ich kann nicht an dem Ritual der Buße teilnehmen, ohne zu bekennen. Kannst du das?

Warum in Indien?  Ich bin nicht hier, um aus Indiens neuer globaler Prominenz Kapital zu schlagen, noch will ich das Leiden sehen, das mit dieser Entwicklung verbunden ist.

Meine Zeit hier wird als Vortragsreise inseriert. Wenn du die Wahrheit wissen willst, bin ich in Indien, um zu bekennen. Entwicklung ist notwendig. Das Leiden, das sie verursacht, wird von Historikern katalogisiert. Später einmal.

Aber  was habe ich als Amerikaner Indien über die Kosten der Entwicklung zu sagen? Amerika reitet auf der Entwicklungswelle. Bis jetzt.

 

An jedem Yom Kippur bekenne ich die Sünden meines Volkes, wo immer ich bin, wo immer ich kann. Ich habe dieses Bekenntnis seit 25 Jahren ausgesprochen – ohne Erfolg.

Hier ist mein Bekenntnis:

Was wir als Juden den Palästinensern getan haben, ist falsch.

Was wir als Juden dem palästinensischen Volk antun, ist falsch.

Vergangenheit. Gegenwart. Keine Ausflucht. Kein Ende in Sicht.

Einige Juden sehen mein Bekenntnis als deplaziert an. Wie kann ich es wagen, das Leiden der Palästinenser durch uns zu bekennen? Aber es gibt viele Juden, die genau so denken. Die meisten werden an Yom Kippur  auch nicht in der Synagoge sein.

Es ist wie in jedem Volk, in jeder Nation, dass es Juden gibt, die denken: ein Empire wird uns retten.  Und wie in jedem Volk oder jeder Nation, dass es Juden mit Gewissen gibt, die sich  verpflichtet fühlen, dem anderen zum Wohl  zu helfen.

Empire-Juden suchen Macht über andere, Juden mit Gewissen suchen das Leben mit anderen.

Empire-Juden gegen Juden mit Gewissen. Ein jüdischer Bürgerkrieg?

Dieser Bürgerkrieg ist nicht auf Juden beschränkt. Gibt es einen Bürgerkrieg in Indien zwischen jenen, die ein Empire wünschen und die mit Gewissen handeln?

Einige sagen, dass Kashmir ein anderes Palästina ist. Ich weiß zu wenig darum, um einen Vergleich zu machen.

Ich weiß, dass Südafrikaner sagen, was in Palästina geschieht, ist schlimmer als in der Apartheid, die sie durchgemacht haben. Sie müssten es wissen.

Präsident Carter glaubt, dass die jüdische Kolonisierung Jerusalems und der Westbank Apartheid ist. Als ich ihn in seiner Bibliothek in Atlanta besuchte, sprach er über das palästinensische Leiden. Während er darüber sprach, kamen ihm die Tränen.

So viel Leiden in der Welt. So viel Gewalt auf der Welt. So viel Formen von Gewalt.

Ich las über die nächste Generation amerikanischer Dronen-Flugkörper. „Entwicklung“ geht weiter. Unsere tapfere neue Welt …

Aber an Yom Kippur denke ich als Jude an das palästinensische Volk. Ich schreibe über palästinensische Leiden und ihren Wunsch, frei zu sein. Ich schreibe von Juden, die das palästinensische Volk unterdrücken.

Ja, wir Juden. In Jerusalem, in der Westbank und im Gazastreifen sehe ich es mit eigenen Augen. Immer mehr Juden mit Gewissen sehen es. Wir sind machtlos. Wird Amerika helfen, wird Indien helfen?

Ohne Gerechtigkeit verliert die jüdische Geschichte ihre Grundlage. Ohne Gewissen gibt es keine Macht. Ohne ein religiöses „Nein“ zur Macht - warum Religion?

An Yom Kippur atmen die Juden  in der ganzen Welt tief durch und bekennen.

Jetzt ausatmen. Reicht euch die Hände und euren Nachbarn , den Palästinensern. Haben Palästinenser  kein Recht in ihrem eigenen Land frei zu sein?

Wenn Palästinenser frei sind, könnten wir vielleicht auch frei werden – von unserer eigen Unterdrückung.

Ja, heute an Yom Kippur lasst uns unsere Unterdrückung bekennen, die Unterdrückung eines anderen Volkes.

Gott, wenn Du mich  an diesem Yom Kippur wert findest, ins Buch des Lebens geschrieben zu werden, dann bitte ich Dich meinen Namen auf dieselbe Seite zu schreiben, auf der das palästinensische Volk steht. Genau dort. Mit andern Juden und Palästinensern, die eine Zukunft mit Gerechtigkeit und Gleichheit wünschen – auf derselben Seite im Buch des Lebens.

 

Marc H. Ellis ist Universitätsprofessor für jüdische Studien, Professor für Geschichte und Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der Baylor Universität. He ist Autor vieler Bücher  kürzlich kam  „Encountering the Jewish Future“ heraus.

Er ist der jüdische Befreiungstheologe

 

(dt. Ellen Rohlfs)

 

Noch zwei Zitate von Ellis: „Durch die Schaffung eines jüdischen Staates auf Kosten palästinensischer Präsenz sei der Bund Gottes mit Israel zerstört worden und kann nur durch eine neue Ethik und Ausübung von Gerechtigkeit erneuert werden, welche die beiden Völker versöhnt, die dort unwiderruflich verbunden sind.“

 

„Wenn die Shoa ein tragisches Ende des jüdischen Exils und tiefe Ohnmacht bedeutet, so bedeutet die Errichtung des Staates Israel den Beginn des palästinensischen Exils und palästinensische Ohnmacht. Die Tragödie der Shoa und des palästinensischen Exils sind verschieden nach Ort und Ausmaß. Was sie aber verbindet, ist ein Zyklus von Vertreibung. Denn können Juden vom Trauma der Shoa geheilt werden, indem sie ein anderes Volk vertreiben?“ (Quellen unbekannt – bei Google gefunden  ER)