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Die Politik Israels -
Wo hört Kritik auf, wo fängt Antisemitismus an?
In der jüdischen Gemeinschaft gibt es zu
dieser Frage mindestens zwei
Sichtweisen: Verantwortung und Opferrolle.
Von einer Position
der Verantwortung ist es die Pflicht von Juden, Kritik zu äußern, wenn Israel
gegen ethische Gebote verstößt. Gerade wir Juden sind Hüter einer Tradition,
die sich als Leuchtfeuer von Gottes Wort verstanden hat. Diese Tradition hat
ein Ziel formuliert, das täglich neu durch unsere Taten anzustreben ist: Gottes
auserwähltes Volk zu sein, durch unser Handeln verantwortlich für den Zustand
dieser Welt. In Deutschland standen für diese Tradition Moses Mendelssohn,
Martin Buber, Leo Baeck.
Wie sind nun die
folgenden Punkte ethisch zu verantworten?
- Vertreibung:
700.000 Palästinenser wurden 1948 mit Gewalt und Drohungen aus Israel
vertrieben
- Enteignung: Grundbesitz und beweglicher
Besitz dieser Vertriebenen wurde vom israelischen Staat beschlagnahmt.
- Verdrängung: Seit der Besetzung 1967 baut
Israel im Westjordanland Straßen und Städte ("Siedlungen") für nun
ca. 400.000 Israelis – für Palästinenser gesperrt.
- Missachtung: Die israelische Seite boykottiert
seit Jahrzehnten die Vertretung der Palästinenser, aktuell die aus freien,
allgemeinen und geheimen Wahlen von der Hamas gebildete Autonomiebehörde.
- Einkesselung: Israel verhindert gewaltsam
freien Personen- und Güterverkehr aus und in den Gasastreifen; der Verkehr im
Westjordanland quält sich durch 600 Straßensperren.
- Verstoß gegen Recht und Gesetz: Israel
ignoriert ein Gutachten des internationalen Gerichtshofs und ein Urteil des
israelischen obersten Gerichts über die Sperrmauer, die die Bewohner des
Dorfes Bil'in von ihren Feldern trennt; friedliche Gegendemonstrationen werden
gewaltsam unterdrückt.
- Gefangennahme: Tausende Palästinenser
sind ohne rechtliche Anhörung in israelischen Gefängnissen interniert.
- Tötung: Im letzten Feldzug gegen Gasa
wurden 1400 Menschen umgebracht.
Darf
sich Israel so verhalten?
Aus
Verantwortungs-Sicht muss man sagen: Nein, Israel hat nicht das Recht, sich so
zu verhalten: Früher erlittenes Unrecht rechtfertigt nicht, anderen Unrecht zu
tun. Eine solche Einstellung beschädigt das Judentum in seiner Substanz.
Ganz anders stellt
sich dies aus einer Sicht dar, nach der Juden bisher immer die Opferrolle
hatten. Diese Position möchte auf alle Fälle verhindern, dass Juden noch einmal
zu Opfern werden. Deswegen will sie, dass Israel sich stark verhält. Ob dazu
das Recht besteht, sei zweitrangig. In dieser Welt sei der Mensch dem Menschen
ein Wolf. Wer nicht gefressen werden wolle, müsse selbst fressen. Daher müsse
es einen wehrhaften Staat in einem eigenen Land geben. Kritik am jüdischen
Staat gefährde sein Überleben. Moralische Gesichtspunkte seien daher Vorwände
für tiefer liegende Gegnerschaft zum Judentum - Antisemitismus.
Wo
sollten die Grenzen einer Kritik liegen?
Da aus der
Opfer-Sicht Kritik an Israels Politik stets
Gegnerschaft zum Judentum ausdrückt, gilt die einfache Regel: Milde Kritik an
Israel sei milder Antisemitismus, grundsätzliche Kritik sei grundsätzlicher
Antisemitismus. Hierbei gibt es eine Differenzierung: Milde Kritik könne
manchmal ein Auffangbecken sein, um grundsätzlichere Kritik nicht aufkommen zu
lassen, dann sei milde Kritik angeraten.
Fast am schlimmsten ist für diese Sicht
eine Kritik, die mit dem Ziel von Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn
daherkommt. Denn Frieden sei nicht möglich in einer Wolfs-Welt. Wer von
Frieden spreche, sei ein Wolf im Schafspelz.
Eine Position der Verantwortung
bewertet Kritik an Israels Politik primär danach, ob sie den Tatsachen
entspricht oder nicht. Wer die Bewertung von Fakten davon abhängig machen will,
ob der Kritisierende "für uns" oder "gegen uns" ist,
flüchtet sich vor der eigenen Verantwortlichkeit.
Allerdings kann
Kritik auch Ausdruck von Doppelmoral sein: Dann, wenn man an Anderen Dinge
kritisiert, die man an sich selbst nicht kritisiert. Eine solche Kritik kann
nicht ernstgenommen werden. Dies bringt uns zur nächsten Frage.
Dürfen Deutsche an Israels Politik Kritik üben?
Bezüglich der Juden
ist das heutige Deutschland wie der Erbe eines Mannes, der im eigenen und im
Nachbar-Haus fast alle Personen umbrachte und beraubte und dann den wenigen
Überlebenden sagte "Ach, tut mir schrecklich leid. Ihr geht am besten ins
nächste Haus und schmeißt dort die Leute raus": Deutschland hat erstens in
der Vorgeschichte große Schuld auf sich geladen und ist zweitens dadurch an
der aktuellen Situation mitverantwortlich.
Sollten Deutsche
sich daher mit Kritik an Israel zurückhalten?
Aus
Opferrollen-Sicht haben die konkreten Verbrechen Deutschlands an Gewicht
verloren: Juden sind sowieso die Opfer,
die Täter können wechseln. Der "neue Hitler" wird je nach Lage
definiert. Kritik aus Deutschland an Israel wird daher in der Tat als
"antisemitisch" bewertet, aber nicht anders ergeht es Kritik aus z.B.
Frankreich, England oder den USA. (S. die Broschüre von A.H. Rosenfeld im
Ölbaum-Verlag Augsburg, 2007).
Aus
Verantwortungs-Sicht ist die Zurückhaltung des offiziellen Deutschland
schlicht Beihilfe zu neuem Unrecht. Dass dies aus schlechtem Gewissen geschieht,
macht es nicht besser. Kritik ist vielmehr wünschenswert. Israel muss zu einer
Position der Verantwortlichkeit gebracht werden. Die meisten Deutschen, die
sich mir hierzu mitteilten, sind keine Leute mit Doppelmoral, keine Nazis,
keine Antisemiten, keine Hasser, das sind vielmehr Leute, die aus den
Verbrechen der Nazizeit die Konsequenz gezogen haben, dass man frühzeitig gegen
Unrecht aufstehen muss.
Ist
dieser Aufsatz antisemitisch?
Aus
Opferrollen-Sicht: Ja.
Aus
Verantwortungs-Sicht: Nein. Er dient vielmehr der traditionellen
Verantwortungs-Ethik des Judentums. "Versprich mir: Du sollst sejn a
stolzer Jid" - darum bat mich vor 40 Jahren eine Freundin meiner Eltern
unter Tränen. Ja, das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf ich stolz
sein kann. Daher muss der jüdische Staat nach Gerechtigkeit streben. Er muss
Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Dahin
müssen wir ihn bewegen.