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Die Politik Israels -
Wo hört Kritik auf, wo fängt Antisemitismus an?

Rolf Verleger, September 2009


In der jüdischen Gemeinschaft gibt es zu dieser Frage  mindestens zwei Sichtweisen: Verantwortung und Opferrolle.

Von einer Position der Verantwortung ist es die Pflicht von Juden, Kritik zu äußern, wenn Israel gegen ethische Gebote verstößt. Gerade wir Juden sind Hüter einer Tradition, die sich als Leuchtfeuer von Gottes Wort verstanden hat. Diese Tradition hat ein Ziel formuliert, das täglich neu durch unsere Taten anzustreben ist: Gottes auserwähltes Volk zu sein, durch unser Handeln verantwortlich für den Zustand dieser Welt. In Deutschland standen für diese Tradition Moses Mendelssohn, Martin Buber, Leo Baeck.

Wie sind nun die folgenden Punkte ethisch zu verantworten?

- Vertreibung: 700.000 Palästinenser wurden 1948 mit Gewalt und Drohungen aus Israel vertrieben

- Enteignung: Grundbesitz und beweglicher Besitz dieser Vertriebenen wurde vom israelischen Staat beschlag­nahmt.

- Verdrängung: Seit der Besetzung 1967 baut Israel im Westjordanland Straßen und Städte ("Siedlungen") für nun ca. 400.000 Israelis – für Palästinenser gesperrt.

- Missachtung: Die israelische Seite boykottiert seit Jahrzehnten die Vertretung der Palästinenser, aktuell die aus freien, allgemeinen und geheimen Wahlen von der Hamas gebildete Autonomie­behörde.

- Einkesselung: Israel verhindert gewaltsam freien Personen- und Güterverkehr aus und in den Gasastreifen; der Verkehr im Westjordan­land quält sich durch 600 Straßensperren.

- Verstoß gegen Recht und Gesetz: Israel ignoriert ein Gutachten des internationalen Gerichtshofs und ein Urteil des israe­li­schen obersten Gerichts über die Sperr­mauer, die die Bewohner des Dorfes Bil'in von ihren Feldern trennt; friedliche Gegendemonstrationen werden gewalt­sam unterdrückt.

- Gefangennahme: Tausende Palästinenser sind ohne rechtliche Anhörung in israeli­schen Gefängnissen interniert.

- Tötung: Im letzten Feldzug gegen Gasa wurden 1400 Menschen umgebracht.

 

Darf sich Israel so verhalten?

Aus Verantwortungs-Sicht muss man sagen: Nein, Israel hat nicht das Recht, sich so zu verhalten: Früher erlittenes Unrecht rechtfertigt nicht, anderen Unrecht zu tun. Eine solche Einstellung beschädigt das Judentum in seiner Substanz.

Ganz anders stellt sich dies aus einer Sicht dar, nach der Juden bisher immer die Opferrolle hatten. Diese Position möchte auf alle Fälle verhindern, dass Juden noch einmal zu Opfern werden. Deswegen will sie, dass Israel sich stark verhält. Ob dazu das Recht besteht, sei zweitrangig. In dieser Welt sei der Mensch dem Menschen ein Wolf. Wer nicht gefressen werden wolle, müsse selbst fressen. Daher müsse es einen wehrhaften Staat in einem eigenen Land geben. Kritik am jüdischen Staat gefährde sein Überleben. Moralische Gesichtspunk­te seien daher Vorwände für tiefer liegende Gegnerschaft zum Judentum - Antisemitismus.

 

Wo sollten die Grenzen einer Kritik liegen?

Da aus der Opfer-Sicht Kritik an Israels  Politik stets Gegnerschaft zum Juden­tum ausdrückt, gilt die einfache Regel: Milde Kritik an Israel sei milder Antisemi­tismus, grundsätzliche Kritik sei grundsätz­licher Antisemitismus. Hierbei gibt es eine Differenzierung: Milde Kritik könne manchmal ein Auffangbecken sein, um grundsätzlichere Kritik nicht aufkommen zu lassen, dann sei milde Kritik angeraten.

Fast am schlimmsten ist für diese Sicht eine Kritik, die mit dem Ziel von Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn daherkommt. Denn Frieden sei nicht mög­lich in einer Wolfs-Welt. Wer von Frieden spreche, sei ein Wolf im Schafspelz.

Eine Position der Verantwortung bewertet Kritik an Israels Poli­tik primär danach, ob sie den Tatsachen entspricht oder nicht. Wer die Bewertung von Fakten davon abhängig machen will, ob der Kritisierende "für uns" oder "gegen uns" ist, flüchtet sich vor der eigenen Verantwortlichkeit.

Allerdings kann Kritik auch Ausdruck von Doppelmoral sein: Dann, wenn man an Anderen Dinge kritisiert, die man an sich selbst nicht kritisiert. Eine solche Kritik kann nicht ernstgenommen werden. Dies bringt uns zur nächsten Frage.

Dürfen Deutsche an Israels Politik Kritik üben?

Bezüglich der Juden ist das heutige Deutschland wie der Erbe eines Mannes, der im eigenen und im Nachbar-Haus fast alle Personen umbrachte und beraubte und dann den wenigen Über­lebenden sagte "Ach, tut mir schrecklich leid. Ihr geht am besten ins nächste Haus und schmeißt dort die Leute raus": Deutschland hat erstens in der Vorge­schichte große Schuld auf sich geladen und ist zweitens dadurch an der aktuellen Situation mitverantwortlich.

Sollten Deutsche sich daher mit Kritik an Israel zurückhalten?

Aus Opferrollen-Sicht haben die konkreten Verbrechen Deutschlands an Gewicht verloren: Juden sind sowieso die Opfer,  die Täter können wechseln. Der "neue Hitler" wird je nach Lage definiert. Kritik aus Deutschland an Israel wird daher in der Tat als "antisemitisch" bewertet, aber nicht anders ergeht es Kritik aus z.B. Frankreich, England oder den USA. (S. die Broschüre von A.H. Rosenfeld im Ölbaum-Verlag Augsburg, 2007).

Aus Verantwortungs-Sicht ist die Zurückhaltung des offiziellen Deutsch­land schlicht Beihilfe zu neuem Unrecht. Dass dies aus schlechtem Gewissen geschieht, macht es nicht besser. Kritik ist vielmehr wünschenswert. Israel muss zu einer Position der Verantwortlichkeit gebracht werden. Die meisten Deutschen, die sich mir hierzu mitteilten, sind keine Leute mit Doppelmoral, keine Nazis, keine Antisemiten, keine Hasser, das sind vielmehr Leute, die aus den Verbrechen der Nazizeit die Konsequenz gezogen haben, dass man frühzeitig gegen Unrecht aufstehen muss.

 

Ist dieser Aufsatz antisemitisch?

Aus Opferrollen-Sicht: Ja.

Aus Verantwortungs-Sicht: Nein. Er dient vielmehr der traditionellen Verantwortungs-Ethik des Judentums. "Versprich mir: Du sollst sejn a stolzer Jid" - darum bat mich vor 40 Jahren eine Freundin meiner Eltern unter Tränen. Ja, das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf ich stolz sein kann. Daher muss der jüdische Staat nach Gerechtigkeit streben. Er muss Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Dahin müssen wir ihn bewegen.