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Der Gaza-Arzt Izzeldin Abuelaish:
„Wir retteten Leben“ sagte ich den Kindern.
„Das Blut eurer Schwestern ist nicht umsonst
geflossen.“
Rachel
Cooke, The Guardian, 16.1. 11.
http://www.guardian.co.uk/world/2011/jan/16/gaza-doktor-izzeldin-abuelaish-interview
Am 12. Dezember 2008 nahm
Izzedin Abuelaish, ein Arzt aus Gaza, seine 6 Töchter und zwei Söhne mit zu
einem Picknick. Die Familie stand früh auf, packte die Picknicksachen zusammen
und stieg in seinen alten Subaru und fuhr los. Gaza ist nicht groß – nur 45km
lang und 8-10km breit, aber so wie die Situation dort ist, kann es sehr lange
dauern, bis man an seinem Ziel ist. Und Abuelaish hatte entschieden, den Tag
richtig auszunützen. Vor 12 Wochen war seine Frau nach 21 Jahren Ehe plötzlich
an Leukämie gestorben, und seitdem war jeder Tag irgendwie dunkel. Es war seine
Absicht, dass dieser sonnige Wintermorgen ein heller Tag für sie alle werden
solle. Er wollte seinen Kindern eine, wenn auch kurze Ablenkung von der Trauer
schenken.
Ihr erster Halt war eine
Überraschung. Ohne dass es seine Familie wusste, hatte Abuelaish vor kurzem
einen kleinen Olivenhain gekauft, fast einen halben Hektar groß, von der
Stadtlandschaft durch einen 3m hohen Zaun getrennt, er war wie ein kleines
Paradies. Die jüngeren Kinder waren
entzückt von dem neuen Platz und sie rannten zwischen den Oliven-, Feigen- und
Aprikosenbäumen herum, bevor sie sich in eine Weinlaube setzten und eine Pita
mit Falafeln aßen und plauderten. Abuelaish war eine Arbeitsstelle in Toronto in
Kanada angeboten worden, und nun wollte er wissen, wie die Kinder darauf
reagieren, die bisher nur den Gazastreifen kannten. Sie reagierten gut darauf.
‚Ich will fliegen, Vati,’ sagte seine Tochter Aya. Als das Gespräch zu Ende war,
ging es an den Strand, wo die Kinder über die Dünen liefen, mit der Brandung um
die Wette eilten und ihre Namen in den Sand schrieben. Abuelaish erfreute sich
an ihrem Lachen und wie sie sich gegenseitig neckten. Es war das erste Mal nach
vielen Tagen, dass er wieder Mut fasste. ‚Wir werden dorthin fahren’, erinnerte
er sich . ‚Es wird für sie OK sein. Wir können dies zusammen tun.’
Aber in Gaza kann man keine
Pläne machen. Am 27. Dezember fing Israel einen Luftkrieg gegen den Gazastreifen
an, eine (angebliche) Ant-wort auf das
Abfeuern von Qassamraketen nach Israel durch die Hamas.
Und am 3. Januar 2009 folgte
eine Bodeninvasion. Die nächsten drei Wochen war Gaza Kriegsgebiet. Es war
unmöglich, das Haus zu verlassen. Hatte Abuelaish Angst um seine Familie?
Natürlich. ‚Aber wir waren vorbereitet. Ich hatte zwei kleine Koffer mit den
wichtigsten und kostbarsten Dingen gepackt: Pässen, Zeugnisse…
Ich hatte den Kindern
gesagt, was in einem Notfall gemacht werden muss, weil das Schießen überall war,
war es überall riskant.’
Auf jeden Fall weigerte er
sich, an die Möglichkeit zu denken,
dass irgendjemand in der Familie verletzt werden würde. Sie waren doch in nichts
verwickelt. Es gab keine Waffen im Haus, keine Hamas-Miliz auf dem Dach. ‚Hätten
wir gegen die am besten ausgerüstete Armee der Welt kämpfen können? Nein. Wir
haben doch nur unsere Muskeln und unser Blut.’ Er vertraute Gott und, obwohl er
es nicht aussprach, war er in einer Art magischem Denken. Denk nicht daran,
dann wird auch nichts passieren.
Er machte sich auch
nützlich. Während der Dauer des Krieges erlaubte die israelische Regierung
keinem Journalisten, den Gazastreifen zu betreten. Sie konnten sich nur an der
Grenze versammeln und dem Granatfeuer zuhören. Aber Abuelaish
kannte eine Menge Israelis – dank seiner Arbeit als
Spezialist in der Gynäkologie, wo er in
mehreren israelischen Krankenhäusern gearbeitet hatte – und unter seinen
Freunden auf der andern Seite war Shlomi Eldar, ein Reporter für Israels
TV-Kanal 10. Eldar rief ihn
an jedem Spätnachmittag an und fragte, was im Lauf des Tages geschehen
ist. ….
Sein Freund würde dann die Szene
für die abendlichen isr.
Fernsehzuschauer beschreiben – vom günstigen Aussichtspunkt seines Wohnzimmers
konnte er sehen, wie ganze
benachbarte Stadtviertel ausgelöscht wurden. Abuelaish wusste, dass seine (isr.)
Zuhörer wahrscheinlich nicht besonders verständnisvoll für seine Ansichten
waren. Die meisten Israelis glaubten, dass die Bevölkerung von Gaza selbst an
dieser Krise schuld seien. Er wusste auch, dass die Möglichkeit bestand, dass
jemand von seiner Seite sich wegen dieser Interviews gegen ihn wenden könnte
und er mit
Vergeltungsschlägen gegen seine Familie rechnen musste. Aber er hielt an diesen
Telefongesprächen fest. „Mit meiner Stimme in ihren Ohren können die Israelis
nicht ganz ignorieren, welche Unkosten sie den Palästinensern verursachen.
Der nächste Tag war
entsetzlich. Am 13. Januar war die Luft voller Schutt und Staub. Man konnte kaum
den Tag von der Nacht unterscheiden. Am 14. Januar rollte ein Panzer vor ihre
Haustüre und nur nach einem hysterischen Anruf bei Shlomi – der erschrocken die
IDF anrief und fragte, ob sie wüssten, dass sie ihre Kanonen auf das Haus eines
Arztes richten, der keine Verbindung zur Hamas habe – fuhr der Panzer
schließlich weiter.
Jetzt begann das Haus, sehr
voll zu werden. Abuelaish’ zweitälteste Tochter Dalal,19, war im Haus ihrer
Tante, aber seine anderen Kinder – Bessan, 20, Shatha,17, Mayar,15, Aya,14,
Mohamed,12, Raffah, 9 und Abdallah 6 – waren alle
bei Abuelaish. Auch sein Bruder Shehab und seine Tochter Noor. In der
Wohnung darunter war ein anderer Bruder, Atta und seine Familie; in der Wohnung
drüber sein Bruder Nasser mit seiner Familie. Zwischen den drei Wohnungen gab es
viel Bewegung. Es war beruhigend, so zusammen zu sein. Aber die Nahrungsmittel
und das Wasser wurden knapp. Man hörte von einer Waffenruhe und Abuelaish
versuchte, seine Kinder davon zu überzeugen, dass dies bald geschehen wird.
Für sich selbst war er natürlich besorgt. Gerüchte von einer Waffenruhe
signalisieren oft einen letzten gewaltsamen Ausbruch eines Konfliktes. Könnte
das Schlimmste noch kommen?
Am
16. Januar nach einem Lunch:
Ente mit Reis – Shebab hatte gewagt, in den Hof zu gehen, um die Enten zu fangen
und um Dalal anzurufen, die jeder vermisste – ging die Familie aus dem
Esszimmer. Die Mädchen unterdessen – Shatha, Mayar, Aya und ihre Cousine Noor
gingen in ihr Schlafzimmer, um zu lesen und Hausaufgaben zu machen, bis es für
die Familie Zeit war, sich wieder auf dem Fußboden des Esszimmers
zusammen einzufinden ( keiner schlief in seinem eigenen Bett, denn die
Betten, die an den Außenmauern des
Gebäudes standen, waren nicht
sicher genug . Die neunjährige Raffah war mit Bessan in der Küche. Mohamed war
im Flur. Abdallah, der Jüngste in der Familie, saß auf den Schultern seines
Vaters, der ihn abzulenken versuchte; die Situation – die Familie im eigenen
Haus eingesperrt – war für ihn unfassbar.
Plötzlich gab es eine
mordsmäßige Explosion: ‚ein donnernder Lärm’, sagt Abuelaish, der seinen ganzen
Körper durchdrang, als ob dieser aus seinem Inneren gekommen wäre. Dann kam ein
blendender Blitz und danach war es kohlrabenschwarz. Überall Staub, man
konnte kaum atmen, dann hörte man ein Kind schreien: das ist es,
woran er sich noch erinnert und immer erinnern wird. In den nächsten
Augenblicken dämmerte ihm, dass eine Rakete das Schlafzimmer seiner Töchter
getroffen hat. Er rannte dorthin. ‚Ich sah alles’ sagte er,’ meine Kinder
in Fetzen. Einen abgerissenen Kopf. Und Shatha vor mir mit einem Auge auf
der Backe.’ Der Raum war nun ein Chaos von Schulbüchern, Puppen, Körperteilen.
Mayar, Aya und seine Nichte Noor waren tot. Ihre Glieder
im Raum verstreut wie die
Spielsachen. Shata blutete stark an
ihrer Hand und ein Finger hing nur noch wie an einem Faden. Dann kam eine zweite
Explosion. Dieses Mal erwischte es Bessan
und Ghaida, die Tochter seines Bruders Atta, der die Treppe hoch rannte.
Ghaida lag auf dem Boden und blutete aus vielen Wunden. Abuelaish sah dies alles
- in ihm war alles aufgewühlt.
Er kämpfte mit aller Kraft gegen den Schock, der ihn sonst gelähmt hätte.
‚Ich dachte, was kann ich tun. Ich musste schnell handeln. Ich dachte an Shatha.
Ich wollte nicht, dass sie blind wird und ihre Finger verliert. Das wollte ich
nicht. Dann sah ich zu meinem Sohn. Er hat seine Schwestern verloren. Was wird
er tun? Wie kann ich ihn schützen? Wird er womöglich ein Extremist, wird er
wahnsinnig, wird er die Welt hassen.’ Diese Gedanken kamen nicht im Nachhinein.
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. ‚Ich überlegte, was kann ich für die
Lebenden tun?’
Abuelaish dachte daran,
dass obwohl Soldaten vor der Tür stehen und es zweifellos lange dauern würde,
bis ein Ambulanzwagen sich durch
gefährliche, schlechte Straßen den Weg hierher bahnt, er noch gute Verbindungen
zur Außenwelt hat. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief Shlomi Eldar an.
Eldar war im Kanal
10-Studio in Tel Aviv und saß mit anderen Kollegen des Nachrichtenteams während
einer Sendung zusammen. Er sah auf dem Display seines Telefons Abuelaishs Namen
auftauchen, reagierte aber nicht auf den 1. Anruf. Die Fernsehschau war ja
schließlich live. Als dann aber gerade ein Interview mit der Außenministerin
Zipi Livni beginnen sollte, kam ein zweiter Anruf. Dieses Mal antwortete er.
(Warum, weiß er bis heute nicht.) Livni kann warten. ….
Eldar hielt sein
Mobiltelefon in die Filmkamera, so
dass die TV-Zuschauer zu Hause
mit verfolgen konnten. Er hielt auch das Mikrofon so, dass man seine
Stimme am anderen Ende gut hören
konnte: Man konnte einen Mann weinen hören: ‚Mein Gott, mein Gott!’ sagte er
immer wieder. ‚Was haben wir getan? Was haben wir getan?’ Der Ausdruck auf
Eldars Gesicht ist schrecklich, er kämpft mit den Tränen. ‚Sag mir, wo ihr
seid’, sagt er, ‚wir schicken einen Ambulanzwagen zu deinem Haus.’ Abuelaish
scheint dies nicht zu hören. ‚Ich
will versuchen, sie zu retten,’ sagt er, ‚Aber sie starben, Shlomi’. So ging es
mehrere Minuten bis Eldar selbst kreidebleich mit verkniffenen Lippen sich
entschuldigt, das Mikrofon ablegt und aus dem Studio hinausgeht. ‚Ich kann
dieses Gespräch nicht einfach abbrechen’, sagte er.
Außerhalb des Studio
telefonierte Eldar mit dem Administrator des Erez-Checkpoints. ‚Öffne die Grenze
und lass einen Ambulanzwagen, den wir gerufen haben, durch’. Die Idee war, dass
das israelische Ambulanzteam ihre palästinensischen Kollegen an der Grenze
treffen würden, damit Shatha, Ghaida und
sein Bruder Nasser, der auch verletzt worden war, in ein israelisches
Krankenhaus transportiert werden können. (Gazas Krankenhäuser sind einfach für
solche Notfälle nicht gut genug
ausgerüstet.) Inzwischen hatte jemand anders den Weitblick, auch
ein Kamerateam an die Grenze zu schicken. So kam es, dass ein bisschen
später die Fernseh-Zuschauer in Israel sehen konnten, wie Abuelaish zuerst eine
schwer bandagierte Shatha küsste, die nun auf einer Tragbare lag, und
sich dann an die Sanitäter wandte,
die sie in den Ambulanzwagen schoben.
…
Obwohl es so aussieht, als
ob mitten in diesem Chaos und den Blitzlichtern der Kameras es keinen Sinn
macht, hat man doch auch einen flüchtigen Blick auf die Eigenart und das
Verhalten von Abuelaish
geworfen. In der nächsten Zeit wird man sich bewundernd über ihn äußern
und immer wieder über seine Ruhe
staunen .. und vor allem seine Würde.
In Toronto ist es weit
unter Null .. und als ich bei seinem vorstädtischen Haus ankomme, sehe ich
Abuelaish, wie er unfachmännisch Schnee schippt. ‚Das hat man nicht in Gaza,’
sagt er lächelnd. Als er dies in etwa fertig gemacht hatte, gingen wir hinein.
‚Willkommen!“ murmelt er. Das Haus duftet nach
Satar/ Thymian und Sumac-Mischung (?), von der Palästinenser behaupten,
es sei ihr Nationalgericht. Auf einem Seitentisch steht ein Modell des
Felsendomes. Aber sonst könnte es das Haus einer kanadischen Familie sein: ein
Flachschirm-Fernseher, ein PC, eine glänzende
Einbauküche. Von oben kommen Geräusche von Kindergezänk. Alles ist normal
– so weit es möglich ist, und
wenn man von Gaza absieht.
Abuelaish ist jetzt
Professor für globale Gesundheit an der Universität von Toronto.
Wie fühlt man sich hier?
Ein strahlendes Lächeln. ‚Es ist keine so große Veränderung,’ sagt er, ‚Wir
denken nur, warum kann es in Gaza nicht auch so sein? Warum nicht? Ich hoffe,
wenn wir nach Gaza zurückehren, dass die Kinder dieses Gefühl mitnehmen.’
Sie werden also zurückgehen? ‚Natürlich, eines Tages.’ Hat die Familie
Heimweh? ‚Ja. Wir sind so weit weg von unsern Lieben, von den Gräbern: meiner
Mutter, meiner Frau, meiner
Töchter. Aber es geht uns
großartig. Die Kinder sind großartig. Reden Sie mit ihnen, dann werden Sie es
sehen. Seine Tochter Raffah kommt. Sie ist sehr hübsch. ‚Ich bin die
zweijüngste,’ sagt sie.
Ihr Vater schaut sie
bewundernd an. ‚Es stimmt, was die Leute sagen’, murmelt er. Und was sagen die
Leute? ‚Dass die Zeit heilt. Und das der Glauben hilft. ..Es ist
ein Geschenk von Gott und das hilft einem’. Von Anfang an, so sagt er
mir, waren es seine Kinder, die ihn daran erinnert haben. ‚Als ich meinen Freund
( Shlomi Eldar) anrief und dabei weinte, sagte mein Sohn Mohammed zu mir. ‚Warum
weinst du? Du musst glücklich sein’. ‚Glücklich wegen was?’ fragte ich ihn.
‚Weil meine Schwestern nun bei ihrer Mutter sind’, sagte er mir. Es kam wie eine
Botschaft: dieser 12Jährige sagt mir, dass ich nach vorne sehen soll. Ich war
gerettet worden und nun war es meine Aufgabe, andere
zu retten. Ich hätte auch leicht getötet werden können – dann hätte
keiner unsere Geschichte erfahren.
Dies ist seine Aufgabe: die
Geschichte seiner Familie zu erzählen und so der Welt zu beweisen, dass nicht
jeder Palästinenser auf Rache aus ist.
Und er hat damit angefangen, sobald Shatha aus der Chirurgie
entlassen worden war. Am Morgen, nachdem er und Shatha im Krankenhaus
angekommen waren, organisierte Zeev
Rothstein, der Direktor des Sheba Medical-Center,
einem Krankenhaus, in dem Abuelaish einmal lehrte, eine Pressekonferenz
und bat ihn zu sprechen. Abuelaish sagte den Journalisten, dass im Krankenhaus
alle gleich wären. Warum kann das nicht auch außerhalb der Fall sein. Mittendrin
wurde er aber von einer schreienden Frau unterbrochen – direkt vor den
TV-Kameras – Ihr Gesicht von Wut verzerrt: Levana Stern, eine israelische Mutter
von drei Soldaten Sie klagte das Opfer an. ‚Wer weiß, was Sie in Ihrem Hause
hatten?’ schrie sie. ‚Keiner sagt etwas darüber.’ Abuelaish, jetzt sehr blass,
nahm seinen Kopf in die Hände. ‚Sie wollen die Wahrheit nicht wissen,’ sagte er.
Dies war das einzige Mal, wo ihn die Leute gesehen haben, dass er nahe dran war,
aufzugeben.
Es muss ein schrecklicher
Augenblick gewesen sein. Aber erstaunlicherweise änderte er nichts. ‚Tatsächlich
war es gut,’ sagte er jetzt zu mir. ‚Sie war eine Israelin, nur eine.
Anderen gingen die Augen auf. Von Hunderten aus dem ganzen Heiligen Land, von
Leuten, die er nicht kannte, bekam er Botschaften. Sie waren aufgewacht. Dann
begriff ich, dass diese Tragödie auch eine gute Seite hat.’
Wenige Stunden später verkündete Ehud Olmert, der israelische
Ministerpräsident eine einseitige Feuerpause. ‚So haben wir Leben gerettet,
sagte ich zu den Kindern. Das Blut eurer Schwestern ist nicht umsonst geflossen.
Wir opferten sie für andere….’
Ermutigt war er und
entschlossen, weiterzumachen. Während der zwei Jahre nach dem Beschuss seines
Hauses reiste er durch die Welt und hielt im Wesentlichen immer dieselbe Rede:
Ich weigere mich zu hassen, sagte er seinen Zuhörern, und ich glaube
nicht an Rache; Hass ist eine Krankheit und der Feind des Friedens. Seine
Haltung hat ihm in aller Welt
Preise für humanitäres Verhalten gebracht, ja er wurde sogar für den
Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Aber es führte auch zu erschreckenden
Behauptungen, er würde aus dem Verlust Kapital schlagen, ein Gesichtspunkt, zu
dem ich nur sagen kann: gab es nicht auch Leute, die genau das über Otto Frank
(Vater von Anne Frank) sagten?
Die israelische Regierung
hat Abuelaish weder entschädigt noch sich bei ihm entschuldigt. ‚Für mich ist es
nicht eine Frage der Entschädigung,’ sagte er, ‚aber eine Entschuldigung? Ja,
das wäre gut. Die Wahrheit ist der kürzeste Weg im Leben. Es ist nicht
schändlich, sich zu entschuldigen. Wenn ich jemandem gegenüber etwas falsch
mache, dann sag ich, es tut mir leid …Ich wünschte mir, sie hätten moralisch den
Mut.
…
Es ist besonders traurig,
dass er seine Töchter nicht beerdigen konnte. Der Koran sagt, dass die Toten
schnell beerdigt werden müssen. Doch
hätte er eine Genehmigung
beantragen müssen, um in den Gazastreifen
zurückkehren zu können, das
hätte zu lange gedauert. Er saß an den Krankenbetten, um Shatha, Ghaida und
seinem Bruder beizustehen. Es wurde auch nicht erlaubt, dass Bessan, Mayar und
Aya neben der Mutter beerdigt werden; der Familie war
von israelischen Soldaten gesagt worden, dass es im Augenblick nicht
erlaubt sei, den Friedhof des Jabalya-Flüchtlingslagers zu betreten.
Haben die Ärzte Shatas Auge retten
können? ‚Ja, aber nicht das Sehen’ und ihre Hand? ‚Sie kann sie benützen, doch
mit einigen Schwierigkeiten.’ Wo
ist sie jetzt? ‚Sie ist oben und
lernt’ sagt er. ‚Ich wollte, dass Sie mit ihr sprechen, aber sie entschuldigt
sich.’ …’Sie ist eine sehr gute
Schülerin, glauben Sie mir: nur wenige Wochen nach dem Angriff bekam sie ein
sehr gutes Abschlusszeugnis. Nun studiert sie Informatik an der Universität von
Toronto. Sie ist bewundernswert.’
Das stimmt. Ich habe das
Gefühl, dass sie ganz der Vater ist. Izzeldin Abuelaishs Kindheit lag, wie er es
in seinem neuen Buch sagt, unter dem ‚Schatten eines Versprechens’. Wir werden
bald zurückgehen, sagten seine Eltern. Vielleicht in zwei Wochen, vielleicht ein
bisschen später. Die Abuelaishfamilie stammt aus Houg, einem Dorf nahe Sderot,
der israelischen Grenzstadt, die so gnadenlos von Qassemraketen heimgesucht
wird. Die Familie war eine große und prominente und Abuelaishs Großvater
Moustafa war das Dorfoberhaupt. 1948 jedoch, als der Staat Israel geschaffen
wurde, entschied Moustafa, dass es
für die Familie wohl klüger sei, wegzugehen. Er hatte gerüchteweise von
Angriffen auf Araber gehört, obwohl er nicht wusste, ob diese Geschichten wahr
waren, entschied er sich wegzugehen. Gaza, ein gekennzeichnet sicherer Ort war
nicht weit von Houg. Also gingen
sie dorthin. Heute gehört die Familienfarm
Ariel Sharon, dem früheren israelischen General und Ministerpräsidenten,
der jetzt im Koma liegt.
Im
Jabalya-Flüchtlingslager, wo Abuelaish 1955 geboren wurde, war das Leben hart.
Bis zu seinem 10.Lebensjahr lebte die Familie
letzten Endes mit 11 Personen in einem einzigen Raum von nur 3qm. Das
Wasser lieferte die UN; die Kinder waren gewöhnlich barfuss, von Flöhen gebissen
und hungrig …
Als
ältester Sohn wurde von Abuelaish erwartet, dass er – sobald er in der
Lage war - mithilft , die knappen
Finanzen zu verbessern. Und als er 12 war, gab es für ihn keine andere Wahl, als
die Schule mit einer Teilzeitarbeitstelle zu kombinieren. Er verkaufte
Milchrationen an andere verzweifelte Familien und
er lud Düngemittel auf
Bauernwagen, und stand jeden morgen um 4 Uhr auf, um damit anzufangen. Das Leben
war eine Schufterei, unterbrochen von Elend. 1967 kam der Sechstage-Krieg, nach
dem Israel die volle Kontrolle über die Westbank und den Gazastreifen
beanspruchte. Als Abuelaish 15 war, wurde das Heim der Familie
unerklärlicherweise mit Bulldozern zerstört – auf Befehl von Ariel Sharon. Es
gab dann für junge Leute zwei
Möglichkeiten, auf all dies zu reagieren. Einige wurden politisch. Sein Bruder
Noor schloss sich der Fatah an, Palästinas größter politischer Partei. Nachdem
er im Gefängnis war, ging er in den Libanon und seitdem hat die Familie nie
wieder etwas von ihm gehört. Andere
investierten alles in die Erziehung und Ausbildung der Kinder. So war es mit
Abuelaish. Er arbeitete und arbeitete. So wurde er mit einem Stipendium belohnt,
um in Kairo Medizin zu studieren, später noch in London Geburtshilfe und
Gynäkologie und schließlich noch
einen Master in allgemeiner
Gesundheit an der Harvard-Universität.
Von Anfang an hatte er sich
entschieden, nie zu verallgemeinern, wenn es sich um Israel handelte. Es war
einfach, einen einzelnen zu verachten: einen besonders schwierigen Soldaten an
der Grenze; die jüdische Mutter , die ihn - den hochqualifizierten arabischen
Arzt - anklagte, er hätte versucht, ihr
Baby zu töten. Auch die Politik, die das Leben im Gazastreifen so schwierig
macht. Aber es war nicht annehmbar; er fühlte und fühlt noch immer, dass sich
solche Gefühle für ein ganzes Volk in Hass verwandeln. Abgesehen davon hatte er
so viele israelische Freunde.
Als Teenager hatte er auch
in einem israelischen Moshav gearbeitet, wo er immer freundlich behandelt worden
war. Als Arzt war er in mehreren israelischen Krankenhäusern beschäftigt und
half israelischen Frauen bei Fruchtbarkeitsproblemen. Während der Zeit, in der
sein Haus 2008 bombardiert wurde, hatte er eine volle Arbeitsstelle am
Gertner-Institut, einem bekannten Zentrum für das Studium für Gesundheitspolitik
und Epidemiologie in Tel Hashomer, nahe Ramat Gan. Während der langen – zuweilen
endlos langen Fahrten - zwischen Gaza und Israel lernte er nicht hassen, sondern
Geduld und Bescheidenheit, die ihm geholfen haben, durchzuhalten.
Es ist unmöglich, sich Gedanken über seinen Rang zu machen, wenn man so
viel Wartezeit wie jeder Taxifahrer …
am Grenzkontrollpunkt verbringen muss. Bei einer Gelegenheit kam
Abuelaish im israelischen Krankenhaus an, in dem er arbeitete, und entdeckte,
dass er seine Aktentasche versehentlich am Kontrollpunkt stehen gelassen hatte.
Während er die 27 Meilen zurückfuhr, hatten die Soldaten die Aktentasche in die
Luft gesprengt. Er benötigte zwei
Monate, bis er alle Dokumente wieder ersetzt hatte – all die wichtigen
Reisegenehmigungen waren zerstört
worden.
Wenn man ihm sagt, dass man
sich noch mehr so weitsichtige Leute wie ihn wünscht, sagt er: ‚ich bin keine
Ausnahme, denken Sie nicht genau so?’
Aber für mich ist es leicht, ich lebe weder in Gaza noch in Sderot’,
sagte ich. ‚Nun im Falle der Palästinenser müssen wir sie bereit machen,
zuzuhören. Sie machen dieses Interview nicht auf der Straße in der Kälte oder
mitten in der Nacht. Sie kamen mit ihrem Tonbandgerät und waren vorbereitet und
hörten zu. Wie aber ist es in Gaza?
Die Leute sind hungrig und krank. Wenn wir dafür sorgen, dass sie nicht mehr
hungrig und krank sind, dann werden sie auch in der Lage sein, zuzuhören. Wer
kann ihnen helfen? Die israelische Seite. Ihr Kranksein, ihr Hunger schaden auch
den Israelis. Lasst mich zum Leben zurückkehren, dann werde ich euch
zeigen, wie kostbar für mich das Leben ist.’
Trotz alledem habe ich eine
große Ehrfurcht vor ihm. Sogar vom Sofa meiner Wohnung in London aus kann ich
über die Situation in Israel/Palästina nicht optimistisch sein. ‚Aber das stimmt
nicht,’ sagt er, ‚Warum sind sie hierher gekommen, um mich zu besuchen? Weil sie
mit Optimismus dieses Interview
machten. Und das ist großartig. Dies ist ein Hoffnungsfunke … vielleicht können
wir ihn zu einem großen Feuer werden lassen.
Es gibt jetzt gerade ein
Gerede über einen neuen Krieg in der Region; an den Grenzen ist es angespannter
als in vielen Monaten zuvor. Beunruhigt ihn das? ‚Ich denke, dass nichts
unmöglich ist. Aber ich denke auch, dass es Alternativen gibt. Wenn diese
Situation mein Patient wäre, dann würde ich nicht notweniger Weise eine
Operation vorschlagen’. Seine Hauptsorge sei die Verweigerung der israelischen
Regierung, mit dem Siedlungsbau in Ost-Jerusalem und auf der Westbank
aufzuhören. ‚Es wäre so eine kleine Sache, das Bauen für ein paar Monate
einzufrieren. Die Welt bittet sie darum. Aber wenn wir nicht einmal dies
veranlassen können …’
Wie sieht Frieden aus? ’Ich
kann nur sagen, dass es niemals Frieden geben wird, wenn er nur für eine Seite
sein soll und dass man Frieden nicht erzwingen kann, er muss aus freiem Willen
kommen. Für mich sieht es so aus, als ob Palästinenser und Israelis im selben
Boot segeln – und was für den einen gefährlich ist, ist natürlich auch für den
anderen gefährlich.
Unterdessen geht in Kanada seine Arbeit weiter. Abuelaish hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet „Töchter fürs Leben“, von der er hofft, dass sie die Bildung von Mädchen unterstützt. ‚Ich habe mich dafür entschieden, dass der Name meiner Töchter nicht nur auf ihrem Grabstein steht, sondern an Türen von Institutionen und andern guten Plätzen.’
Die Woche nach unserer
Begegnung war der 2. Jahrestag ihres Todes. Zum 1. Jahrestag kehrte er in sein
Haus nach Gaza zurück – jetzt war es wiederaufgebaut. Er musste dort
sein. Aber in diesem Jahr will er in Kanada bleiben. ‚Wir werden als Familie
zusammensitzen, wir werden über sie reden, für sie beten und Fotos ansehen.
Diese so sehr geliebten Seelen. Sie waren Kämpfer für Menschlichkeit und für
Frieden und sie zu verlieren, war ungerecht. Aber wir wollen uns ihrer mit guten
Taten und edlen Worten erinnern und wir wollen
ihr Gedächtnis lebendig halten, bis wir uns wiedersehen. So lange wie ich
lebe, werden sie zu mir und zu andern sprechen.’ Einen Augenblick schloss er die
Augen. ‚So lange wie ich lebe, leben sie in mir.’ Die nachfolgende Stille wurde
durch ein Geräusch von Raffah
verursacht.
Der Trickfilm, den sie sich
gerade anschaute, ließ sie auflachen. Wir wurden davon angesteckt, erst
ich, dann auch ihr Vater.
Dies ist die traurigste
Geschichte, die ich jemals aufgeschrieben habe. Aber nicht nur das. Es ist auch
eine Geschichte der Hoffnung und
wie Isseldin Abuelaish mir schon mehr als einmal gesagt hatte, ohne dies – die
Hoffnung - wären wir nichts.
(dt. und gekürzt und
zuweilen etwas großzügig übersetzt: Ellen Rohlfs)