Freising, 31.12.2008
Ziel der israelischen Angriffe ist
der Sturz der Hamas
von Clemens Ronnefeldt, Referent
für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationen Versöhnungsbundes
"Vergeltungsangriffe" und
Langzeit-Kriegsvorbereitung
Bei der derzeitigen
Berichterstattung über die Eskalation im Nahen Osten stellen sich einige
schwerwiegende Fragen. Die “Süddeutsche Zeitung³ (nachfolgend: SZ) bezeichnet
die derzeitigen Bombardierungen als “Vergeltungsangriffe³ (SZ, 29.12.08). In
der gleichen Ausgabe lautet die Überschrift auf Seite 2: “Operation `Gegossenes
Blei´ - Schon vor sechs Monaten - mitten in der Waffenruhe - hat Israel den
Armee-Einsatz vorbereitet³. Im Text des Artikels findet man als nähere
Ausführungen: “Die israelische
Tageszeitung Haaretz berichtete am Wochenende, dass Verteidigungsminister Ehud
Barak bereits vor einem halben Jahr Generalstabschef Gabi Aschkenasi den
Auftrag erteilt habe, die Planungen für einen umfangreichen Armee-Einsatz im
Gazastreifen aufzunehmen. Zu jener Zeit hatte Israel unter Vermittlung des
ägyptischen Geheimdienstchefs Omar Suleiman gerade eine zeitlich befristete
Waffenruhe vereinbart. Die Waffenruhe, die nicht schriftlich fixiert worden
war, wurde mehr oder weniger effektiv eingehalten.³
Sollte der Angriff als Faktum
bereits schon länger beschlossen und lediglich der Zeitpunkt noch offen gewesen
sein: Können die derzeitigen Bombardierungen dann als “Vergeltungsangriffe³
bezeichnet werden?
Bruch der Waffenruhe
Die SZ berichtete am 6.12.2008:
“Ende der Waffenruhe - Israels Armee und Hamas schießen wieder³. Im Text war zu
lesen: “Seit der von Ägypten vermittelten Waffenruhe vor fünf Monaten hatte
relative Ruhe geherrscht. Hamas-Sprecher erklärten am Mittwoch, sie seien an
einer Fortsetzung der Waffenruhe interessiert. (...) Der Beschuss Israels
erfolgte am Mittwoch, nachdem die israelische Armee kurzfristig in den
Gazastreifen einmarschiert war. Die Militäroperation hatte nach Angaben eines
Armeesprechers die Zerstörung eines Tunnels zum Ziel, mit dessen Hilfe israelische
Soldaten in den Gazastreifen verschleppt werden sollten. Bei dem Einmarsch
lieferten sich israelische Soldaten und Hamas-Mitglieder heftige Gefechte. Die
israelische Armee, die auch mehrere Luftangriffe auf mutmaßliche Terroristen im
Gazastreifen flog, tötete sechs Palästinenser³.
Warum ging die israelische
Regierung Anfang Dezember 2008 wegen der angeblichen Zerstörung eines von
geschätzten 500-1000 Tunnels im Gazastreifen das Risiko ein, die Waffenruhe zu
beenden und die eigene Bevölkerung wieder dem zu erwartenden palästinensischen
Raketenhagel auszusetzen? Sollte dieser Einmarsch möglicherweise die
Initialzündung sein, nach der Reaktion seitens der Hamas den Krieg beginnen zu
können?
Ziel des Krieges: Sturz der Hamas
Die Tagesschau berichtete am
31.12.2008 auf ihrer Homepage: “Der Krieg bis zum bitteren Ende³, den
Verteidigungsminister Barak angekündigt hat, nimmt seinen Lauf. Baraks
Stellvertreter, Matan Vilnai, bekräftigte die unnachgiebige Linie im
israelischen Rundfunk: "Wir wollen einen sehr harten Schlag gegen die
Hamas führen, sie spüren das schon sehr gut seit dem letzten Samstag",
sagte er. Die Armee werde so lange weitermachen, bis sie verstehen, was es
bedeutet, sich mit dem Staat Israel anzulegen. Ziel sei es, die Situation im
Süden des Landes “grundlegend³ zu ändern.
(www.tagesschau.de/ausland/gazastreifen190.html).
Das Ziel, die Situation im “Süden
des Landes grundlegend zu ändern³, kann vermutlich interpretiert werden als dauerhafte Beseitigung der Hamas im
Gazastreifen, um den israelischen Anrainergemeinden Ruhe vor Raketen zu
verschaffen. Dieses Ziel der Beseitigung der Hamas wurde von der israelischen
Regierung bereits auf verschiedenen anderen Wegen versucht, die bisher
allerdings alle scheiterten. Dazu zählten die gezielte Tötung von
Hamas-Führern, die Inhaftierung eines Drittels der frei und demokratisch
gewählten palästinensischen Abgeordneten nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 und
die Abriegelung der Übergänge für lebenswichtige Güter, um die Bevölkerung im
Gazastreifen zu einem Aufstand gegen ihre eigene Regierung zu bewegen.
Waffenlieferung zum Sturz der Hamas
Welch hohes Risiko die israelische
Regierung bereit war, für die Beseitigung der Hamas in Kauf zu nehmen, zeigte
ein Interview im US-Magazin “Vanity Fair³ mit Mohammed Dahlan, dem ehemaligen
Sicherheitschef der Fatah, über das die SZ am 7.3.2008 berichtete: “In dem
Gespräch behauptet der Mann, der sich schon früh bester Kontakte in die USA
rühmte, die Regierung von George W. Bush habe seine Truppe aufgerüstet, um
einen palästinensischen Bürgerkrieg zu provozieren.
Nur leider habe sich die Strategie
als Bumerang erwiesen, weil nicht die Fatah, sondern die Hamas bei diesem Kampf
schließlich siegte in Gaza. Es ist kein
Geheimnis, dass die Regierung in Washington den Sicherheitskräften der Fatah
Geld für Waffen und Training zukommen ließ. Das US-Magazin aber behauptet nun,
ein Teil der Mittel sei wegen der Widerstände im amerikanischen Kongress auf
Umwegen geflossen - über arabische Staaten. Im Dezember 2006 passierten demnach
vier ägyptische Lastwagen die von Israel kontrollierte Grenze zum
Gaza-Streifen. Die Fracht: 20 000 ägyptische Gewehre und reichlich Munition für
Dahlans Leute von der Fatah. Interessant daran ist auch:
Waffenlieferungen nach Gaza mussten
von Israel genehmigt werden.
Ebenfalls im Dezember 2006 waren
mehrere diplomatische Emissäre aus Europa in
Gaza unterwegs - mit ganz anderen Absichten. Sie wollten einen
palästinensischen Bruderkrieg abwenden, weshalb sie mit Nachdruck auf eine
Einheitsregierung von Fatah und Hamas drängten³. So weit die SZ am 7.3.2008
unter der Überschrift "Feinde schaffen mit Waffen".
Sollte sich die israelische
Regierung zu einer Bodeninvasion entschließen, könnte es passieren, dass
israelische Soldaten von Hamas-Kämpfern mit ägyptischen Gewehren in den Händen
bekämpft werden, die von der US-Regierung und arabischen Ländern bezahlt und
von der israelischen Regierung per Genehmigung in den Gazastreifen gebracht
wurden.
Faktor Wahlen
Der jetzige Zeitpunkt der
Eskalation wurde offensichtlich sehr bewusst von der israelischen Regierung
gewählt. Er liegt nach der Wahl von Barak Obama, der in Israel wegen seiner
angekündigten Gesprächsbereitschaft gegenüber Iran von der Regierung Olmert
heftig kritisiert wurde, aber vor dessen Amtsantritt mit entsprechenden
Einflussmöglichkeiten.
Entscheidender als die Frage, ob
eventuell Barak Obama nach Aufnahme seiner Amtsgeschäfte im Januar 2009 der
israelischen Führung die jetzigen Bombardierungen versucht hätte auszureden,
ist der Zeitpunkt im Hinblick auf die israelischen Wahlen.
Die SZ druckte am 29.12.2008 unter
der Unterschrift “Mit Raketen Stärke zeigen³: “Wegen des Krieges gegen die
radikal-islamische Hamas werde er (Anm. C.R.: Verteidigungsminister Ehud Barak)
seinen aktiven Wahlkampf als Chef der Arbeitspartei bis auf weiteres
einstellen.
Tatsächlich aber - auch wenn das
zynisch klingen mag - ist die Vergeltungsoperation für den Raketenkrieg der
Hamas der beste Wahlkampf für Barak. Die Arbeitspartei liegt in den Umfragen
auf einem historischen Tief. Die Partei, die den Staat Israel vor 60 Jahren mit
aufgebaut hat, kann bei der Parlamentswahl am 10. Februar nur noch auf
11 oder 12 Mandate in der Knesset
hoffen, in der es 120 Sitze gibt.
(...) Der als unnahbar und
teamunfähig verschrieene Barak, der als Premier in den Jahren 1999-2001 mit
seinen Friedensbemühungen in Camp David gescheitert war und in dessen Amtszeit
der Beginn der zweiten Intifada fiel, will nun erneut Regierungschef werden. Um
dieses Ziel zu erreichen, gibt er sich das Image eines volksverbundenen und
schlagkräftigen Anführers. (...) Mit dem
massiven Gaza-Einsatz will Israels höchst dekorierter Soldat Barak nun seinen
Ruf als gescheiterter Friedensverhandler loswerden und den Beweis führen, dass
er auch Kriege führen kann. Eine Begründung für die Militärschläge lautet bei
Barak so: `Wir leben hier nicht in Schweden, sondern in einer grausamen
Realität. Die Schwachen erhalten kein Erbarmen´³.
Sollte die These zutreffen, dass
der derzeitige Krieg im Gazastreifen zu einem erheblichen Anteil wegen der
Ambitionen von Ehud Barak geführt wird, stellt sich die Frage: Wieviele
palästinensische Opfer ist die internationale Gemeinschaft bereit zu
tolerieren, um mit diesem Krieg möglicherweise die Wahlkampfchancen des
israelischen Verteidigungsministers zu erhöhen?
Im Januar 2009 stehen auch
palästinensische Präsidentschaftswahlen an.
Ob diese vor dem Hintergrund der
jetzigen Ereignisse durchgeführt werden können, ist mehr als zweifelhaft.
Präsident Abbas, dessen Chancen zur Wiederwahl derzeit nicht besonders gut
stehen, will seine Amtszeit ohne Wahlen um ein Jahr verlängern, die Hamas ist
gegen diesen Plan.
Intifada-Bilanzen und Ausblick
In der ersten Intifada von 1987 bis
1993 “starben 2200 Palästinenser und 200 Israelis³ (SZ, 29.12.2008). Nach
Angaben der größten israelischen Menschenrechtsorganisation “B´tselem³ wurden
seit Beginn der zweiten Intifada am 29.9.2000 nach dem Tempelbergbesuch Ariel
Scharons bis zum 30.11.2008 rund 5000 Palästinenser und 1000 Israelis getötet.
(www.btselem.org/english/Statistics/Casualties.asp).
Im Jahre 2006 wurden im
Nahostkonflikt 657 Palästinenser von Israelis und 23 Israelis von
Palästinensern getötet, im Jahre 2007 379 Palästinenser von Israelis und 13
Israelis von Palästinensern. Von diesen 13 israelischen Staatsangehörigen im
Jahre 2007 waren 6 Mitglieder von Polizei und Armee, von den sieben getöteten
Zivilisten wurden drei bei einem Selbstmordanschlag in Eilat und zwei beim
Beschuss der israelischen Stadt Sderot mit Kassam-Raketen getötet
(Quelle:
B´Tselem, Human Rights in the Occupied Territories, Annual Report 2007,
Am 29.12.2008 erschien die SZ mit
der Überschrift “Israel stellt sich auf langen Krieg ein - Mehr als 300
Menschen sterben bei Militäroperationen im Gazastreifen / Islamisten kündigen
dritte Intifada an³. Diese dritte
Intifada hat das Potenzial, noch blutiger als die beiden bisherigen Aufstände
zu werden.
Es liegt auch an der so genannten
“Internationalen Gemeinschaft³, ob sie weiterhin Teil des Problems sein möchte
- oder endlich - mit einem Blick für die Sicherheitsbedürfnisse und Interessen
beider Seiten - Teil der Lösung wird. In letzterem Falle könnte sehr viel
Blutvergießen verhindert werden.
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Zum Internationalen
Versöhnungsbund:
Der Internationale Versöhnungsbund
wurde 1919 gegründet. Heute engagieren sich Versöhnungsbund-Mitglieder in 23
nationalen Zweigen sowie in 42 Friedensorganisationen weltweit. Der Verband hat
Beraterstatus bei den Vereinten Nationen. Im Laufe der Jahrzehnte erhielten
sechs Versöhnungsbund-Mitglieder den Friedensnobelpreis, darunter Dr. Martin
Luther King, Adolfo Perez Esquivel und Mairead Corrigan.
Zum Autor:
Clemens Ronnefeldt, Jg. 1960,
arbeitet seit 1992 als Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des
Internationalen Versöhnungsbundes. Friedensdelegationen führten ihn mehrfach
nach Israel und Palästina, Libanon, Syrien und Iran, um Friedens- und
Menschenrechtsgruppen zu besuchen. Zuletzt war Clemens Ronnefeldt im Oktober
2008 in Israel und Palästina.
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Clemens Ronnefeldt Referent für
Friedensfragen beim Internationalen Versöhnungsbund - Deutscher Zweig
C.Ronnefeldt@t-online.de