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Mit dem Gassenhauertrio im Gepäck nach Ramallah

Klarinettenunterricht an der Barenboim Said Foundation – ein Erfahrungsbericht · Von Anna-Mareike Vohn

aus (neue musikzeitung nmz 2008/06 | Seite 3-4 57. Jahrgang)Magazin

Zwei Jahre lang leitete Anna-Mareike Vohn in den Palästinensischen Autonomiegebieten die Klarinettenklasse innerhalb der Barenboim Said Foundation. Ziel dieser Initiative, die der israelische Dirigent Daniel Barenboim gemeinsam mit dem verstorbenen palästinensischen Kulturwissenschaftler Edward Said ins Leben gerufen hat, ist es, durch ein hohes künstlerisches Ausbildungsniveau ein Jugendorchester als Kulturbotschafter Palästinas zu etablieren sowie eine neue Begegnungsplattform für junge Palästinenser, Israeli und Europäer zu schaffen. Für die neue musikzeitung schildert die Klarinettistin und Pädagogin ihre Impressionen aus einem Land, das in der Regel aus Gründen jenseits der Musik im Gespräch ist.

Sicher lenkt Ibrahim seinen Kleinbus über die engen, holperigen Wege. Wir hatten die gut ausgebauten Landstraßen der Israeli einige Minuten zuvor verlassen. Empört und mit ausgestrecktem Arm hatte Ibrahim aus seinem Autofenster gezeigt. „Look, look, settlement!“ Und er begann, mir in einem für mich damals sehr schwer zu verstehenden Arabisch-Englisch, Auskunft über die Situation in Palästina zu geben. Ich sah aus dem Fenster und konnte nur eine bergige, trockene Landschaft erkennen, mit hier und da ein paar Siedlungen, immer auf der Spitze eines Hügels gebaut. Weiße, helle Häuser, ordentlich und sauber in Kreisform aufgestellt!

Ich war ein paar Stunden zuvor das erste Mal in Tel Aviv Ben Gurion gelandet. Schon in Frankfurt, in der Wartehalle für meinen Flug, waren es hauptsächlich orthodoxe Juden gewesen, die mit ihren großen schwarzen Hüten, den zwei Locken und ihren konservativ gekleideten Frauen auf unseren Flug warteten.

Fachmännisch hatte Ibrahim mein Gepäck in seinem Van verstaut, mir eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt und ein Kleenex gegen Schweißperlen angeboten.

Ibrahim fährt diese Strecke wie im Schlaf. Er ist einer der wenigen arabischen Taxifahrer, die eine israelische Plakette besitzen und somit mit ihrem Auto aus Ramallah heraus dürfen. Ibrahim hat das zu seinem Geschäft gemacht und karrt nun tagtäglich Leute von Ramallah nach Tel Aviv und umgekehrt.

In Ramallah angekommen geht der Verkehr nur stockend. Die Luft ist heiß und staubig. Überall Menschen und Autos. Bunte Schirme, die Brot oder Obst vor der Sonne schützen sollen. „Manara“, erklärt mir Ibrahim, das Zentrum von Ramallah! Leute, die einfach gehen und die wild hupenden Autos gar nicht beachten. Wer geht, hat Recht! Ein unglaublicher Lautstärkepegel herrscht hier! Aus einem Geschäft dröhnt laute arabische Popmusik. Der Verkäufer hat seine Boxen auf die Straße gestellt, damit jeder weiß, was er verkauft.

Wir biegen in einen Hof ein. Ein wunderschönes altes Gebäude wird sichtbar. Ibrahim redet kurz mit dem Guard, der in einer kleinen weißen Hütte sitzt und den Eingang der Schule bewacht: die „Friends Boy School“, eine elitäre Quäkerschule im Herzen von Ramallah! Überall Kinder und Jugendliche in blauen Schuluniformen. Ibrahim lädt meinen Koffer aus. Meine Klarinette habe ich schon aus dem Dunklen gefischt. Wunderschön ist es hier. Vor dem gro­ßen Hauptgebäude liegt ein Blumenrondell, links davon ein etwas veralteter Tennisplatz, auf dem jetzt ein paar Kinder herumhüpfen, rechts davon ein großes Gebäude mit einer mächtigen, runden Holztüre, die zur Hälfte mit rosa Blumen verhängt ist.

Da kommt Anna-Sophie die Treppen hoch, in Begleitung eines Mädchens, das sofort meinen Koffer nimmt. Wir hatten uns einmal zuvor in Lübeck getroffen, wo sie mir über Daniel Barenboims Projekt erzählt hatte. Und jetzt bin ich hier, um mir das Leben und die Arbeit der Barenboim Said Foundation anzusehen. Und um später zu entscheiden, ob ich mir vorstellen kann, hier für ein Jahr lang zu leben und zu helfen, das Projekt zu verwirklichen.

Drei Monate später

„Ana, Ana!“, „Ich, Ich!“, schreien alle Kinder durcheinander. Ich bin in der „Friends Girl School“ und habe den Kindern gerade die Katze aus Prokofjews „Peter und der Wolf“ vorgespielt. Die Miss hatte mich vorgestellt und den Kindern erklärt, dass ich hier bin, um ihnen das Instrument Klarinette vorzustellen und Kinder herauszusuchen, die bei mir Unterricht haben wollen. Natürlich wollen alle mal probieren. Ich bitte die Lehrerin, mir die Jungs und Mädchen in Fünfergruppen in mein Zimmer nebenan zu schicken. Dort haben wir mehr Ruhe. Außerdem ist es den Kindern peinlich, vor der ganzen Klasse in die Klarinette zu blasen. Einer nach dem anderen versucht nun einen Ton herauszubekommen. Wenn es quietscht, lachen alle und ich bekomme das Instrument ganz schnell zurück. Ich erkläre ihnen, worauf sie besonders achten müssen, und ein Kreis der Interessiertesten bildet sich um mich. Ich schreibe mir die Namen und Telefonnummern auf und verspreche, mich die nächsten Tage bei ihnen zu melden.

Am Nachmittag Unterricht im Al Kamandjati, dem Musikzentrum in der Altstadt von Ramallah. Dort, wo die Familien wesentlich ärmer und kinderreicher sind. Um drei Uhr ist meine erste „Früherziehungsgruppe“. Zwei habe ich in den letzten Monaten aufgebaut. Die Kinder stürmen mir schon entgegen und umarmen mich. „Keef halek, Anna?“, fragen sie mich. „Wie geht es Dir?“ – und sie kichern und lachen. Etwa zwölf Kinder sind in der ersten Gruppe, im Alter zwischen fünf und acht Jahren. Sie halten ihre Plastikblockflöten in den Händen, die sie von uns bekommen haben. Zwei Kinder fehlen noch. Ich bitte Abu Mohammed, sie in der Nachbarschaft einzusammeln und zu mir zu schicken. Die Kinder in dieser Gegend von Ramallah sind sehr arm. Manche von ihnen gehen noch nicht einmal zur Schule, sondern kommen nur zu unserem Musikunterricht, weil wir sie nachmittags einsammeln. Keine leichte Angelegenheit, da man erst einmal das Vertrauen der Eltern gewinnen muss. So war ich schon bei so mancher Familie zu Hause zum Tee eingeladen. Die meisten Familien leben hier auf engstem Raum zusammen. Aber immer werde ich mit großer Herzlichkeit eingeladen, auf dem einzigen Sofa im Raum Platz zu nehmen.

Jetzt sind auch die letzten beiden Kinder eingetroffen. Mit nackten Füßen setzen sie sich zu unserem Kreis auf den Boden. Wie jede Woche beginnen wir unsere Stunde mit einem Kinderlied, das ich vom Deutschen ins Arabische übersetzt habe: „Bruder Jakob“. Am Anfang waren sie alle sehr schüchtern, aber mittlerweile kennt jeder den Text, und wir können sogar schon im Kanon singen. Die Blockflöte ist relativ neu für sie. Ein paar von den Kindern können sich nicht merken, welche Hand oben und welche unten die Blockflöte halten soll. Ich male rote Blumen auf linke Kinderhände, damit es ihnen leichter fällt. Sie vergleichen ihre Blumen miteinander und tuscheln leise.

Das Leben hier ist sehr unruhig und laut. Wenn die Unterrichtszeit in die Gebetsstunde fällt, muss ich unterbrechen, da direkt neben dem Al Kamandjati eine Moschee steht. Dann ist es so laut, dass ich mein eigenes Wort nicht mehr verstehe. Es ist schwer, die Kinder hier ruhig zu bekommen. Aber es wird immer besser. Sie gewöhnen sich an die Ruhe und an die Konzentration.

Am Ende unserer Stunde mache ich das Licht aus und die Kinder wissen schon, was jetzt kommt. Ich lege mich auf den Boden, schließe die Augen. Die Kinder tun es mir nach und rangeln um die beliebtesten Plätze auf meinen Beinen oder meinem Bauch. Ich versuche mit einem „schhhh …“ den Lärm von draußen auszublenden und spiele ihnen eine Bach-Suite vor. Ich empfinde es als einen echten Segen, wenn kein Kind mehr redet oder sich bewegt und alle andächtig zuhören und sich in einen Bann ziehen lassen. Als das Stück zu Ende ist, stehe ich vorsichtig auf. Noch leicht benebelt entlasse ich sie in die nachmittägliche, staubige Hitze.

Draußen warten schon Iman und Mountassr. Iman ist wie immer zu früh. Viele Kinder balgen sich hier nachmittags, da es die einzige Anlaufstelle ist, die sie haben. Iman und Mountassr haben beide gleichzeitig angefangen, Klarinette zu lernen. Bei einer Instrumentenpräsentation sind sie mir nicht mehr von der Seite gewichen.

Mountassrs Vater ist mit zwei Frauen verheiratet. Als ich ihn einmal im Unterricht gefragt habe, ob er das später auch möchte, hat er nur gelacht und gesagt, das wäre viel zu kompliziert. Eine Frau wäre ihm genug. Iman ist mir sehr ans Herz gewachsen. Auch sie ist 13 Jahre alt. Oft bin ich bei ihr zu Hause zum Tee trinken. Ich habe das Gefühl, dass ich für sie ein Zugang zu einer anderen Welt bin. Und sie genießt das. Für mich ist es ähnlich, Zugang zu Frauen mit Kopftüchern bekomme ich nicht häufig. Es scheint, dass wir aus zu verschiedenen Welten kommen. Iman kann ich fragen, wenn ich etwas wissen möchte. Am Anfang war es sehr ungewohnt für sie, wenn ich sie gebeten habe, sich auf den Boden zu legen, damit ich ihr zeigen kann, wo die Luft beim Klarinettenspielen herkommen soll. Sie hat alles mit sich machen lassen, aber ich habe gemerkt, dass es neu für sie ist, wenn ich meine Hand vollkommen selbstverständlich auf ihren Bauch lege, um ihr die Atmung zu erklären. Aber je selbstverständlicher ich mit diesen Dingen umgehe, desto selbstverständlicher ist es auch für die Kinder.

Es ist schon spät, als wir mit unserer Beethoven Trio Probe fertig sind. Julien, Barenboims Assistent ist gerade hier. Das „Gassenhauertrio“ haben wir für Morgen geprobt. Ich mag die Nacht in Ramallah. Die Hitze des Tages löst sich auf und die Stadt wird ruhiger.
Allo?“, antwortet mir die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung.
„This is Anna, the clarinet teacher from the Barenboim Said Foundation calling …“, stelle ich mich vor. Bevor wir heute Nachmittag nach Nablus aufbrechen, versuche ich noch einige Eltern von der letzten Instrumentenvorstellung zu erreichen. „Ein paar Tage zuvor habe ich Bader die Klarinette vorgestellt und ich glaube, dass er Talent zum Spielen hätte.“ – „One moment please.“ Ich höre Stimmen und Rufen. Der Telefonhörer wird an jemand anderen weitergereicht. „Allo?“, meldet sich jetzt eine jüngere Stimme. „Ich bin der Bruder von Bader. Meine Eltern verstehen nicht gut Englisch. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Ich wiederhole mein Anliegen. „Wieviel kostet das?“, fragt er mich. „Gar nichts“, antworte ich ihm. „Ich würde Bader gerne die nächste Woche treffen und dann sehen, ob er immer noch Spaß beim Spielen hat. Wenn dem so ist, bekommt er ein Instrument von mir und mindestens einmal die Woche Unterricht!“ „Wo soll er hinkommen?“„Kennst Du die Friends Boy School?“ „Ja.“ „Dort unterrichte ich in der Bibliothek. Würde übermorgen um vier Uhr nachmittags passen?“ „Ja, das können wir so machen.“ „ Prima, dann bis übermorgen! Salam!“ „Salam.“

Konzert in Nablus

Am späten Nachmittag brechen wir nach Nablus auf. Diesmal fährt Kamal uns. Er hat seinen Van auf dem Hof der Schule geparkt, damit wir unsere Instrumente, Notenständer und Taschen verstauen können. Er lehnt an der Autotüre und raucht. „Yalla, yalla“, lacht er, „schnell, schnell!“ Ich klettere neben ihn auf den Beifahrersitz. Auch Kamal hat sein ganzes Auto dekoriert. Der Rückspiegel ist beladen mit Ketten und Anhängern. Meine Klarinette habe ich vor mir in den Fußraum gestellt, da der Kofferraum schon mit einem Cello, einer Geige und einer Bratsche angefüllt ist. Wie gut, dass wir heute mal kein Cembalo über die Checkpoints hieven müssen. Wir biegen aus der Schuleinfahrt heraus und machen uns auf den Weg.

Zunächst fahren wir Richtung Calandia Checkpoint. Der Hauptcheckpoint, den man überqueren muss, wenn man aus Ramallah Richtung Jerusalem hinaus will. Ich taste nach meinem Reisepass, den ich immer bei mir trage. Dafür, dass er noch nicht so alt ist, sieht er schon recht mitgenommen aus. Das rote Leinen hat sich an den Ecken schon vollkommen aufgelöst und die Rückseite ist übersät mit Aufklebern. Hier brauche ich ihn täglich.

Wir haben den Calandia Checkpoint auf der rechten Seite liegengelassen und halten uns nun Richtung Norden. Der Checkpoint ist die letzten Monate extrem gewachsen. Als ich ihn das erste Mal sah, war er ein Stacheldrahtzaun mit ein paar Metalldrehtüren, einem Bewachungsturm, einem dreckigen, staubigen Weg, bettelnden Kindern, die Kaugummi verkaufen und Soldaten. Jetzt ist er ausgebaut worden zu einer riesigen Anlage. An die acht überdachte Häuschen, an denen man sich wie im Kino in Schlangenlinien anstellen muss. Die Soldaten sitzen hinter ­dickem Panzerglas und befehlen einem über Lautsprecher, seine Sachen auf das Kontrollband zu legen. Einer nach dem anderen darf dann durch die Drehtüre gehen, nachdem er seine gültigen Papiere durch einen winzigen Schlitz dem Soldaten zugeschoben hat. Sogar an behindertengerechte Parkplätze haben sie gedacht. Das Plakat am Ausgang wünscht einem einen angenehmen Aufenthalt in Israel. Jemand hat darüber gesprüht „Arbeit macht frei.“ Rechts und links des Checkpoints zieht sich die Mauer in einer beträchtlichen Größe quer durch die Westbank. Wie einer Schlange kann man ihr mit den Augen über die Hügel folgen.

Heute Abend sollen wir ein Konzert in der Universität von Nablus geben. Ich habe schon öfter dort gespielt. Sami, ein Palästinenser, den wir nun schon seit einiger Zeit kennen, hat dort ein zuverlässiges Konzertpublikum aufgebaut. Punkt 19 Uhr schließt er immer die Türen, weil er das Zuspätkommen seiner Landsleute unerträglich findet. Am vorletzten Checkpoint vor dem Hawwara Checkpoint, dem Eingang zu Nablus, rufen wir Sami an und teilen ihm mit, dass wir bald da sind. Wir sollen vorsichtig sein, meint er, da er gehört habe, dass die Israelis wegen des Verdachts auf einen Selbstmordattentäter eine Ausgangssperre über den Hawwara Checkpoint verhängt hätten.

Schon von weitem können wir den Checkpoint erkennen. Das Aufgebot an Soldaten ist viel größer als sonst. Die unruhige Stimmung nimmt auch uns sofort ein. „Kamal, fahr besser nicht weiter“, sage ich ihm. „Lass uns am Rand ein wenig warten, bis wir die Situation einschätzen können.“ Kamal aber lässt sich nicht in seinen Job reinreden. „Nein, nein“, sagt er, „kein Problem, ihr müsst ja pünktlich zu Eurem Konzert dasein!“

Die Menschen verdichten sich immer mehr. Aber Kamal hält gerade auf die Autoeinfahrt des Checkpoints zu. Der Platz auf unserer Seite des Checkpoints ist überladen mit Bussen und gelben Taxis. Plötzlich hören wir Schüsse. Nervös fangen nun auch die anderen Lehrer an, hinten im Van auf Kamal einzureden. Doch es ist zu spät, wir sind schon mitten drin.

Ich steige aus unserem Auto aus und stelle mich ein wenig abseits hin. Immer noch wird geschossen. Zwei Meter entfernt von mir fährt ein Panzer vorbei. Angst habe ich nicht, aber ich empfinde einen nie dagewesenen Ekel. Ich stehe hier, als ob ich nicht da wäre. Menschen hasten an mir vorbei. Sekundenaufnahmen von Bildern rasen an meinen Augen vorüber. Kinder auf den Armen von ihren Eltern, Männer mit Plastiktüten beladen, Frauen, die in jeder Hand ein Kind hinter sich her ziehen. Eine unwirkliche Situation.

Nach einer kleinen Ewigkeit lichtet sich das Chaos langsam. Ein Auto nach dem anderen folgt dem Israelischen Jeep. Keiner schießt mehr. Als wir alle wieder im Van sitzen, sagt niemand etwas. Nahezu ohne Probleme können wir den Checkpoint nach Nablus passieren.

Sami schließt uns in seine Arme. Wir haben den Van auf dem Gelände der Universität zurückgelassen und unsere Sachen die vielen Stufen zum Hauptgebäude hinaufgetragen. Es sind noch knappe fünfzehn Minuten bis zu unserem Konzert. Ich ziehe mir noch schnell eine schwarze Hose und ein langärmliges schwarzes T-Shirt an. Nablus ist im Gegensatz zu Ramallah viel konservativer. Die meisten Frauen im Publikum tragen Kopftuch.

Ich bin innerlich nicht ruhig genug, um mich auf mein erstes Stück zu konzentrieren: die Solo-Sonate für Klarinette von Edison Denissow. Ich versuche mich ganz auf die Musik einzustellen und die letzten Stunden für diesen Moment auszublenden. „Stelle Dir klagende, islamische Frauen im ersten Satz vor“, hatte mein Klarinettenprofessor immer gesagt. Dieses Bild war nun realistischer, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Im Laufe des Konzertes werde ich ruhiger und auch das Beethoven-Trio gelingt. Das Publikum ist begeistert. Ein Mann überreicht uns einen Wimpel mit der Stickerei palästinensischer Frauen und sagt noch ein paar Worte des Dankes auf Arabisch.

Vor dem Eingang steht Sami mit ein paar anderen Leuten und wartet auf uns. „Shukran ya Anna, das war wie immer ein wunderbares Konzert von Euch!“ Er klopft mir auf die Schulter. Sami und ich pflegen nach jedem Konzert das Ritual, gemeinsam eine Zigarette zu rauchen. Auch diesmal gibt er mir eine seiner Selbstgedrehten. „Zwei Palästinenser sind heute am Hawwara Checkpoint erschossen worden“, erzählt Sami. Eigentlich ein Wunder, dass es nicht mehr waren, denke ich. „Inshalla wird unser Leben irgendwann besser werden“, sagt Sami.

Es ist ruhig draußen, bis auf ein paar sehr entfernte Schüsse. Aber das ist hier normal. Sami rät uns, heute früher als sonst nach Ramallah zurückzufahren. „Wer weiß, vielleicht schließen sie den Checkpoint wegen des Vorfalls heute früher oder ganz. Versucht es, und wenn ihr nicht rauskommt, wisst ihr ja, dass ihr bei mir übernachten könnt!“ Wir verabschieden uns schnell und machen uns auf den Rückweg.

Langsam rollen wir auf den Checkpoint zu. Wir sind der einzige Wagen weit und breit. Wir warten auf das Lichtzeichen eines Soldaten. Unsere Scheinwerfer haben wir ausgemacht, damit wir niemanden blenden und die Soldaten uns besser in unserem Van erkennen können. Zweimal blinkt er mit einer Taschenlampe, das Zeichen, dass wir auf den Checkpoint zufahren dürfen. Diesmal sitzt Erich vorne. Er sammelt alle unsere Pässe ein und gibt sie dem Soldaten durch das geöffnete Beifahrerfenster.

Shalom“, begrüßt er uns. „Shalom“, antworten wir ihm. „Warum wart ihr in Nablus?“, fragt uns der Soldat, der vielleicht ein wenig jünger ist als ich. „Wir haben ein Konzert gespielt“, erklärt ihm Erich. „Ein Konzert? In Nablus?“ Er deutet auf Erichs Cello. „Spielst du Gitarre?“ „Das ist ein Cello. Ja, ich spiele Cello“, entgegnet ihm Erich. „Aha“, sagt der junge Soldat. Sie fragen immer viel. Besonders nachts. Da ist ihnen einfach langweilig, glaube ich, und sie wollen sich ein bisschen unterhalten. Dann lässt er uns aber weiterfahren. Von dem Vorfall vor ein paar Stunden ist nichts mehr zu sehen oder zu spüren.

Wir schauen in die Nacht heraus und unterhalten uns. Wieder einmal neigt sich ein langer Tag für uns dem Ende zu. Dieses ganze Land ist so faszinierend und voller Herzlichkeit und doch zur gleichen Zeit so beengend und anstrengend.

Anna-Mareike Vohn