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Uri Avnery, 12. September 2015
ICH
HABE Angst.
Ich
schäme mich nicht, dies zuzugeben.
Ich habe Angst.
Ich habe
Angst vor der Islamischen Staat-Bewegung, auch ISIS
oder Daesh genannt.
Es ist
die einzige wirkliche Gefahr, die Israel bedroht, die die Welt bedroht, die mich
bedroht.
Diejenigen, die dies heute mit
Gleichgültigkeit oder mit Desinteresse behandeln, werden es bedauern.
IM JAHR,
in dem ich geboren wurde - 1923
- inszenierte ein lächerlicher, kleiner Demagoge
mit einem komischen Schnauzbart, Adolf
Hitler, in München einen versuchten Putsch. Er wurde von ein paar Polizisten
niedergeschlagen und bald vergessen.
Die Welt
hatte viel ernstere Gefahren, mit denen es sich beschäftigen musste. In
Deutschland war Inflation. In
Russland entwickelte sich die junge Sowjet-Union. Es gab
den gefährlichen Wettbewerb zwischen den
beiden mächtigen Kolonialmächten, Großbritannien und Frankreich. 1929
kam die schreckliche wirtschaftliche Krise, die die Weltwirtschaft
zu Grunde richtete.
Aber der kleine Münchner Demagoge hatte
eine Waffe, die nicht von erfahrenen Staatsmännern
und schlauen Politikern wahr genommen wurde: eine mächtige Ideologie. Sie
verwandelte die Demütigung einer großen Nation in eine Waffe, die effektiver war
als Schlachtschiffe und Kampfflugzeuge. Innerhalb einer erstaunlich kurzen Zeit
– nur ein paar Jahre - eroberte er
Deutschland, dann Europa und fast die ganze Welt.
Millionen Menschen kamen während des Prozesses zu Tode. Unsägliches Elend
suchte viele Länder heim. Ganz zu schweigen vom Holocaust, einem
Verbrechen, das fast ohne Parallele in den Annalen der modernen Geschichte ist.
Wie
machte er das? Zunächst nicht durch politische und militärische Macht, sondern
durch die Macht einer Idee, einen Geisteszustand, eine geistige
Explosion.
Ich war
im ersten Viertel meines Lebens Zeuge davon. Dies kommt mir ins Gedächtnis, wenn
ich auf die Bewegung schaue, die sich selbst IS, der „Islamische Staat“ nennt.
IM FRÜHEN 7.
Jahrhundert der christlichen Ära, hatte ein kleiner Kaufmann in der
gottverlassenen arabischen Wüste eine Idee. In einer erstaunlich kurzen
Zeit eroberten er und seine Kumpane
seine Heimatstadt Mekka, dann die ganze
Arabische Halbinsel, dann den fruchtbaren Halbmond und schließlich einen großen
Teil der zivilisierten Welt, vom atlantischen Ozean bis nach Nordindien und
darüber hinaus. Seine Nachfolger erreichten das Herz Frankreichs
und belagerten Wien.
Wie
konnte ein kleiner arabischer Stamm all dies erreichen? Nicht durch militärische
Überlegenheit, sondern durch die Kraft einer neuen berauschenden Religion, einer
Religion , die so progressiv und befreiend war, dass ihr irdische Macht nicht
widerstehen konnte.
Gegen
eine berauschende neue Idee sind materielle Waffen machtlos, Armeen und Flotten
lassen mächtige Empires scheitern, wie Byzanz und Persien. Aber Ideen sind
unsichtbar, Realisten können sie nicht sehen, erfahrene Staatsmänner und
mächtige Generäle sind für sie wie blind.
„Wie
viele Divisionen hat der Papst?“ antwortete Stalin geringschätzig, als er über
die Macht der Kirche gefragt wurde. Doch das
Sowjetreich zerfiel und verschwand
und die katholische Kirche
ist noch hier.
AL-Daula
al ISLAMIYA, der Islamische Staat ist eine „fundamentalistische“ Bewegung. Das
Fundament ist der Islamische Staat, der vor 1400 Jahren
vom Propheten Muhammad in Medina und Mekka gegründet wurde. Diese
zurückblickende Einstellung ist ein Propagandatrick. Wie kann jemand etwas
wieder aufwecken, das vor so vielen
Jahrhunderten existierte?
In
Realität ist IS eine extrem moderne
Bewegung, eine Bewegung von heute und wahrscheinlich von morgen. Sie benützt die
neuesten Hilfsmittel wie das Internet. Sie ist eine revolutionäre Bewegung,
wahrscheinlich die revolutionärste in der heutigen Welt.
Während
sie zur Macht kommt, benützt sie
barbarische Methoden aus längst
vergangenen Zeiten, um sehr moderne Ziele zu erreichen. Sie verursacht Terror.
Nicht den propagandistischen Terminus „Terrorismus“, der heute von allen
Regierungen benützt wird, um ihre Feinde zu stigmatisieren. Sondern
aktuelle Grausamkeiten, entsetzliche Taten, wie das Köpfen,
das Zerstören von unschätzbaren
antiken Ruinen – alles, um lähmende Furcht
in die Herzen seiner beabsichtigten Feinde zu treiben .
Die
IS-Bewegung kümmert sich nicht wirklich um Europa, die US und Israel. Nicht
jetzt . Sie benützt sie als Propaganda-Treibstoff, um
ihr wirkliches Ziel zu erreichen: die ganze islamische Welt zu gewinnen.
Wenn ihr
dies gelingt, dann kann man sich den nächsten Schritt vorstellen. Nachdem die
Kreuzfahrer Palästina und
seine Umgebung erobert hatten, kam ein kurdischer Abenteurer Salah-a-Din
al Ayyubi (Saladin für europäische
Ohren), der die arabische Welt unter seiner Führung vereinigen wollte. Erst
nachdem ihm dies gelang, wandte er sich den Kreuzfahrern zu und löschte sie aus.
Saladin
war natürlich kein Kaufmann von Gräueltaten im IS-Stil. Er war ein zu tiefst
menschlicher Herrscher und als solcher auch in der europäischen Literatur
gefeiert (s. Walter Scott und Lessing). Aber seine Strategie ist jedem Muslim
bekannt, einschließlich der Führer des heutigen islamischen „Kalifats“:
vereinige erst die Araber, erst dann wende dich
den Ungläubigen zu.
WÄHREND DER
letzten zweihundert Jahre ist die arabische Welt gedemütigt und unterdrückt
worden. Die Demütigung hat noch mehr als die Unterdrückung
die Seele jedes arabischen Jungen und
Mädchens versengt. Einmal bewunderte die
ganze Welt die arabische Zivilisation und die arabischen Wissenschaften
(arabische Zahlen). Während des europäischen dunklen Mittelalters
waren die barbarischen
Europäer von den islamischen Ländern geblendet.
Kein
junger Araber kann darauf
verzichten, den Glanz, des vergangenen Kalifats mit dem Elend der
augenblicklichen arabischen Realität zu vergleichen; mit der Armut, der
Rückständigkeit, der politischen Impotenz. Rückständige Völker wie Japan und
China haben sich entwickelt und wurden Weltmächte, schlagen den Westen
mit ihren eigenen Schlichen, aber der
arabische Riese bleibt ohnmächtig und verdient die Verachtung der Welt. Selbst
so ein winziges Land wie das der
Juden (Juden um Allahs
Willen) schlägt die arabischen Länder.
Ein
riesiges Reservoir von Demütigung hat sich in der arabischen Welt
zusammengebraut, unsichtbar und unbemerkt von den westlichen Mächten.
In solch
einer Situation gibt es zwei Wege. Der eine ist der mühsame Weg:
sich von der Vergangenheit zu trennen und einen modernen Staat
aufzubauen. Das war der Weg von Mustafa Kemal, dem türkischen General, der die
Tradition (z. B. die arabische Schrift) verbannte und eine neue türkische Nation
aufbaute( und die lateinische
Schrift einführte). Es war eine
tiefgründige Revolution, vielleicht die effektivste des 20. Jahrhundert. Er
verdiente sich den Titel Atatürk, Vater der Türken.
In der
arabischen Welt gab es einen Versuch, einen pan-arabischen Nationalismus zu
schaffen, eine schwache Nachahmung des westlichen Originals. Gamal Abd-al-Nassar
versuchte es und wurde problemlos
von Israel geschlagen.
Der
andere Weg ist, die Vergangenheit zu idealisieren und zu behaupten, sie neu zu
beleben. Das ist der Weg, den IS
geht, und er ist weithin
erfolgreich. Mit wenig Aufwand hat
es große Teile Syriens und des Irak genommen, die offiziellen Grenzen gelöscht,
die von westlichen Imperialisten (1919) gezogen wurden. Nachahmer schufen in der
ganzen muslimischen Welt Ähnliches und haben viel Tausende
potentieller Kämpfer aus den muslimischen Ghettos aus dem Westen und
Osten angezogen.
Jetzt
beginnt der IS seinen Marsch zum Sieg. Da scheint es keinen zu geben, der ihn
anhält.
ALS ERSTES
weil keiner die Gefahr zu realisieren scheint. Eine Idee bekämpfen?
Zur Hölle mit Ideen. Ideen sind für Intellektuelle und dergleichen.
Wirkliche Staatsmänner schauen auf die Fakten. Wie viele Divisionen hat der IS?
Zweitens
gibt es rund herum noch andere Gefahren. Die iranische Bombe. Das syrische
Chaos. Der Zusammenbruch von Libyien. Die Ölpreise. Und nun die Lawine von
Flüchtlingen, meistens aus der muslimischen Welt.
Wie ein
riesiges Kleinkind sind die USA hilflos. Sie unterstützen eine imaginäre,
säkulare syrische Opposition, die nur an amerikanischen Universitäten existiert.
Sie kämpft gegen den Hauptfeind des IS, das Assad-Regime. Sie unterstützen den
türkischen Führer, der gegen die Kurden kämpft, die gegen den IS kämpft. Sie
bombardieren den IS aus der Luft, riskieren nichts und erreichen auch nichts.
Keine Stiefel auf den Boden. Um Himmels willen.
Regieren
ist zu wählen, wie Pierre Mendes-France
einmal sagte: In der gegenwärtigen
arabischen Welt liegt die Wahl zwischen schlimm, schlimmer und am schlimmsten.
Im Kampf gegen das Schlimmste, ist das Schlimme ein Verbündeter.
Sagen
wir es unverblümt: Den IS zu stoppen versuchen, bedeutet, das Assad-Regime
zu unterstützen. Bashar al-Assad ist ein widerwärtiger Kerl, aber er hat
Syrien zusammen gehalten, seine Minderheiten geschützt und die israelische
Grenze ruhig gehalten. Verglichen mit dem IS ist er ein Verbündeter. So ist es
auch mit dem Iran, ein stabiles Regime mit einer politischen Tradition, die
Tausende von Jahren zurückreicht – im Gegensatz zu Saudi Arabien, Katar
und Genossen, die den IS
unterstützen.
Unser
eigener Bibi ist so naiv wie ein
neugeborenes Kind. Er ist schlau,
oberflächlich und ignorant. Seine iranische Besessenheit macht ihn für die neuen
Realitäten geradezu blind.
Fasziniert vom Wolf vor ihm, nimmt Bibi den
fürchterlichen Tiger nicht wahr der
hinter ihm naht.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)