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Uri
Avnery, 14. März 2015
EIN
SOWJETISCHER Bürger ging einst zum Wählen. Ihm wurde ein verschlossenes Kuvert
gegeben und gesagt, er möge dieses in die Wahlurne stecken.
„Könnte
ich vielleicht nachschauen, wen ich wähle?“ fragte er schüchtern.
„Natürlich nicht!“ antwortete der Wahlleiter empört, „in der Sowjet Union sind
die Wahlen geheim!“
In
Israel sind die Wahlen ebenfalls geheim. Deshalb werde ich nicht sagen, wen ich
wählen werde. Sicherlich werde ich
auch nicht so unverschämt sein, meinen Lesern
zu sagen, wie sie wählen sollen. Aber ich werde die Argumentation
darlegen, die mich leitet.
WIR
WERDEN eine neue Regierung wählen,
die Israel die nächsten vier Jahre führen wird.
Wenn
dies ein Schönheitswettbewerb wäre, dann würde ich
Yair Lapid wählen. Er sieht so hübsch
aus.
Wenn wir
entscheiden müssten, wer der sympathischste Kandidat ist, wäre es wahrscheinlich
Moshe Kachlon. Er scheint ein sehr netter Kerl zu sein, der Sohn
einer armen, orientalischen Familie, der als Minister für Kommunikation
das Monopol der Mobiltelefon-Magnaten
gebrochen hat. Aber Sympathie hat nichts damit zu tun.
Falls
wir einen netten Kerl mit guten Manieren suchen, dann wäre Yitzhak Herzog
offensichtlich der Kandidat. Er ist ehrlich, wohlgesittet und aus guter
Familie.
Und so
weiter. Falls wir nach einem Barwächter ausschauen, dann wäre Avigdor Lieberman
mein Mann. Falls ich nach einem geschmeidigen TV-Darsteller suchen würde, dann
wären Lapid und Benjamin Netanjahu mehr als passend.
Aber ich
schaue nach einer Person, die wenigstens Kriege verhindern wird (und uns
vielleicht näher zum Frieden bringt.), die uns eine Art sozialer Gerechtigkeit
zurück bringt, ein Ende der
Diskriminierung von Frauen, Arabern und jüdisch-orientalischen Bürgern, unser
Gesundheits-und Bildungssystem und andere soziale Dienste wieder herstellt.
LASSEN
SIE mich mit dem leichteren Teil beginnen: wen ich unter keinen Umständen wählen
werde.
Auf der
extremen Rechten ist Eli Yishais „Beyahad“ (Zusammen)-Partei. Niemals liebte ich
Yishai. Bevor er sich von „Shas“ trennte, war er Innenminister und
verfolgte Flüchtlinge aus dem Sudan und Eritrea ohne eine Spur von Mitleid.
Mit
seiner neuen Partei versucht Yishai verzweifelt, die Minimalklausel, die jetzt
bei 3,25% liegt, zu überwinden und machte mit den Anhängern
des verstorbenen und nicht beweinten Rabbi Meir Kahane , der als Faschist
vom Obersten Gerichtshof gebrandmarkt wurde, ein Abkommen.
Nummer
vier der Liste ist jetzt Baruch Marzel, der einmal mich zu ermorden öffentlich
aufrief. Selbst eine Flasche des edelsten Weines wird von ein paar Tropfen
Zyanid verdorben.
Der
nächste auf der Liste ist Avigdor Lieberman, dessen Hauptwahlplattform der
Vorschlag ist, alle arabischen Bürger, die gegenüber dem Staat nicht loyal sind,
mit der Axt zu köpfen. (Ich habe das nicht erfunden.)
Naftali Bennett ist nicht weit davon
entfernt; der frühere Hightech-Unternehmer trägt die kleinste Kippa auf Erden.
Nachdem er die National-religiöse Partei
in feindseliger Übernahme erobert hatte, verwandelte er sie in ein
wirksames Instrument.
Die
National-religiöse Partei war einmal eine sehr moderate politische Kraft, die
David Ben Gurions Abenteuerpolitik bremste. Aber ihr halb autonomes
Bildungssystem hat Generationen zu Extremisten gemacht. Jetzt ist es die Partei
der Siedler, und Bennett wirbt um junge araberhassende, kriegsliebende, säkulare
Juden, die sonst Likud wählen würden.
DAMIT
KOMMEN wir zu Likud, der Partei von
„König Bibi“, wie Time-Magazin ihn bewundernd nannte.
Benjamin
Netanjahu kämpft um sein politisches Überleben. Vor ein paar Monaten, als er
sich entschied, die Knesset zu entlassen und zu vorgezogenen Wahlen aufrief,
träumte er sicher nicht von solch einer misslichen Lage.
Es
schien, als ob Israels Marsch zur Rechten unvermeidlich und nicht aufzuhalten,
ja, dass Netanjahus ewige Herrschaft vorherbestimmt war. Es schien, dass die
Linke einem erbärmlichen Ende gegenüberstand, und dass die Mitte sich ins Nichts
auflöste. Es war für Netanjahu nur eine Sache, seine Pferde zu wechseln (oder
die Esel, wie mancher sagen würde).
Und nun
sind wir hier, ein paar Tage vor der Wahl mit einem fast verzweifelten Likud.
Warum?
Wie?
Es
scheint so, dass die Leute einfach genug von Netanjahu haben. Sie scheinen zu
sagen: genug ist genug.
Als
Franklin Delano Roosevelt, ein großer Führer
im Frieden und im Krieg, zum vierten Mal gewählt wurde, entschied das
amerikanische Volk, die Amtsperiode
der Präsidenten hinfort auf zwei zu begrenzen. Vielleicht hat das israelische
Volk dasselbe entschieden: drei Amtsperioden von Netanjahu sind einfach genug.
Danke.
Im
Internet zirkuliert gerade ein lustiger, kleiner Film. Netanjahu steht auf dem
Podium des Kongresses wie ein Turnlehrer in der Schule (oder wie der Dompteur
von sehr zahmen Löwen in einem Zirkus), der seine Schüler kommandiert:
„Aufstehen! Hinsetzen! Aufstehen! Hinsetzen!“ und das mit Kongressmännern und
Senatoren, die auf sein Kommando hin aufspringen.
Die
Meinungsmacher des Likud hofften, dass dieser Anblick sein Glück bei den Wahlen
verbessern würde. Und tatsächlich,
ein paar Tage lang stiegen seine Zahlen bei den Umfragen von trüben 21 Sitzen
(von 120) auf 23. Aber dann gingen sie wieder nach unten und blieben bei 21, mit
Herzog bei 24. Vielleicht sprangen
die Senatoren nicht hoch genug?
Wohin
gehen die Likudstimmen? Zunächst
vor allem zu Bennetts Partei. Das würde keine vollkommene Katastrophe für
Netanjahu bedeuten, da Bennett, trotz all dem Hass zwischen beiden, Netanjahu in
der Knesset unterstützen muss.
ABER
EINIGE der Stimmen werden
zu den beiden Zentrumsparteien von Kachlon und Lapid gehen, deren
eventuelle Loyalität unsicher ist.
Kachlon
kommt vom Likud. Er war ein typisches Parteimitglied, Sohn von Einwanderern aus
Tripoli (Libyen), der Liebling des
Zentralkomitees der Partei. Ein Likud-Mitglied kann ihn jetzt mit gutem Gewissen
wählen, besonders da er die soziale Situation verändern und das Los der Armen
verbessern will.
Lapid
ist in etwa derselbe mit einem großen Unterschied: er war schon Finanzminister
gewesen, während Kachlon nur hofft, Finanzminister zu werden. Obwohl Lapid ein
unbegrenztes Talent hat, seinen riesigen Erfolg in diesem Job zu erklären, ist
die allgemeine Meinung, dass er nur mäßig gut war, wenn nicht gar ein völliger
Fehlschlag.
Keiner –
nicht einmal sie selbst – wissen die Antwort auf die entscheidende Frage: werden
Kachlon und Lapid sich einer Netanjahu- oder einer Herzogregierung anschließen?
Beides ist möglich. Kein Problem. Es könnte wie bei
einer öffentlichen Auktion sein, wo es darauf ankommt, wer mehr zahlen
wird. Mehr Ministerien, mehr Budgets, mehr Jobs. Es wird wahrscheinlich vom
Ergebnis der Wahlen abhängen.
Dasselbe
gilt auch für die beiden orthodoxen Parteien – die orientalische Shas und die
aschkemasische „Thora-Judentum“-Partei. Sie glauben an Gott und das Geld, und
Gott mag sie anweisen, sich der Koalition
anzuschließen, die das meiste Geld für ihre Institutionen anbietet.
So gibt
es mindestens vier „Zentrums“-Parteien, die entscheiden können, ob Netanjahu
oder Herzog unser nächster Ministerpräsident werden wird. Liebermans
schrumpfende Partei könnte die fünfte sein.
Natürlich denk ich nicht im Traum daran, eine von diesen zu wählen.
WAS
BLEIBT übrig? Eine Wahl zwischen drei: Labor, jetzt „das zionistische Lager“
genannt, Meretz und die Gemeinsame (arabische) Liste.
Die
Arabische Liste ist aus vier sehr verschiedenen Parteien zusammengesetzt; die
kommunistische, die muslemische, die nationalistische und eine private. Es ist
eine Zwangsehe mit Lieberman, der die
Waffe hält: er war es, der die Knesset dahin brachte, die Minimalklausel höher
zu stellen, um die kleinen arabischen Parteien aus der Knesset zu verbannen. Die
Antwort ist, dass die vier kleinen Parteien eine
große vereinigte Liste bilden, die jetzt bei den Wahlen den dritten Platz
nach den zwei großen Parteien einnehmen.
Die
Araber in Israel sind Bürger zweiter Klasse, diskriminiert und manchmal
verfolgt. Was wäre für einen
progressiven jüdischen Bürger humaner, als genau für diese Liste zu stimmen?
Für mich
wäre es natürlich, da ich 1984 behilflich war, die erste
vollkommen integrierte arabisch-jüdische Wahlliste zu schaffen (die
„Progressive Liste für den Frieden“), die
zwei Amtszeiten gewann (die
kommunistische Partei ist fast komplett arabisch mit einigen jüdischen
Mitgliedern).
Aber die
Gemeinsame Liste ist für mich problematisch. Vor ein paar Tagen erschütterte sie
mich mit einer schicksalhaften Entscheidung.
Es
betrifft die übrig gebliebenen Stimmen. Nach unserm Wahlgesetz können zwei
Listen ein Abkommen treffen, nach dem die „übrigen“ Stimmen
von beiden zusammengelegt und in eine von beiden gelegt werden („Die
Übriggebliebenen“ sind die, die noch geblieben sind, nachdem der Partei die
Sitze zugewiesen worden sind, für die sie die volle Zahl der Stimmen hat.)
Die
Parteien der linken Seite haben sich einen Plan erdacht, nachdem die Gemeinsame
Liste ihre Übriggebliebenen mit denen von Meretz vereinigen soll. Das könnte
einem von ihnen und damit dem ganzen linken Block einen Sitz mehr geben, der
entscheidend sein könnte.
Die
Gemeinsame Liste weigerte sich, weil Meretz eine zionistische Partei ist. Die
Entscheidung mag logisch gewesen sein, da viele arabische Wähler
sich möglicherweise vor der Wahl drücken könnten, falls sie fürchten,
dass ihre Stimmen einer jüdisch „zionistischen“ Liste zugutekommen könnten.
Aber es zeigte auch, dass, wenn sie mit einer wichtigen Entscheidung
konfrontiert sind, die Islamisten
der Gemeinsamen Liste eine gemeinsame Entscheidung für den Frieden
blockieren könnten. Damit habe ich ein Problem.
So
bleibt mir Meretz und das „Zionistische Lager“. Meretz ist meinen
Ansichten
näher als die größere Liste. Aber nur
die größere Liste kann Netanjahu absetzen. Das Problem
hätte nicht existiert, wenn mein Vorschlag für eine
gemeinsame Liste, das
„Zionistische Lager“, Meretz, Lapid
und andere, angenommen worden wäre. Aber all diese Parteien weigerten sich.
Nun
stehe ich also vor einer Wahl:
entweder stimme ich ideologisch für Meretz oder stimme ich pragmatisch für die
Partei, deren Chancen größer sind, Netanjahus Herrschaft ein Ende zu bereiten,
falls sie als größte Partei in der nächsten Knesset auftaucht.
Aber diese Partei hat viele Fehler, die mir schmerzlich bewusst sind.
Otto von
Bismarck, einer der größten Staatsmänner aller Zeiten, beschrieb die
Politik als
„die Kunst des Möglichen“. Es ist jetzt
möglich, den Marsch der Rechten zu stoppen und
einige Vernunft in unserm
Land wieder herzustellen. Also wen
sollte ich wählen? (Aus
dem Englischen: E.Rohlfs,A.Butterweck, vom Verfasser autorisiert)