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Der stille Amerikaner
Uri Avnery, 
9.1.10
DER STILLE AMERIKANER war 
der Held in Graham Greens Novelle über den ersten Vietnamkrieg, denjenigen, der 
von den Franzosen ausgefochten wurde. 
Er war ein junger 
und naiver Amerikaner, Sohn eines Professors, der eine gute Ausbildung an 
der Harvard-Universität bekommen hatte und ein Idealist mit den besten Absichten 
war. Als er nach Vietnam gesandt wurde, wollte er den Einheimischen helfen, die 
beiden Übel zu überwinden, die er sah: den französischen Kolonialismus und den 
Kommunismus. Während er absolut nichts über das Land wusste, in dem er agierte, 
verursachte er eine Katastrophe. Das Buch endet mit einem Massaker, das Ergebnis 
seiner törichten Bemühungen. Er veranschaulicht das alte Sprichwort: „Der Weg 
zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“
Seitdem dieses Buch 
geschrieben wurde, sind 54 Jahre vergangen, aber es scheint, dass der stille 
Amerikaner sich kein bisschen verändert hat. Er ist noch immer ein Idealist 
(wenigstens seiner eigenen Ansicht nach), noch immer möchte er Fremden und weit 
entfernten Völkern, über die er nichts weiß, die 
Erlösung bringen; noch immer verursacht er schreckliche Katastrophen: im 
Irak, in Afghanistan und jetzt anscheinend im Jemen.
DAS IRAKISCHE Beispiel ist 
das einfachste.
Der amerikanische Soldat 
wurde dorthin geschickt, um dass tyrannische Regime Saddam Husseins zu stürzen. 
Da gab es natürlich  auch noch 
einige weniger altruistische Ziele, wie z.B. die Kontrolle über die irakischen 
Ölreserven und die Etablierung einer amerikanischen Garnison mitten in die 
nahöstlichen Ölreichtümer. Aber für die amerikanische Öffentlichkeit wurde das 
Abenteuer als ein idealistisches Unternehmen dargestellt: den Sturz eines 
blutigen Diktators, der die Welt mit Atombomben bedroht.
Das war vor 
sechs Jahren, und der Krieg geht noch weiter. Barack Obama, der von 
Anfang an gegen den Krieg war, versprach, die Amerikaner von dort abzuziehen. 
Mittlerweile ist trotz all dem Reden kein Ende des Krieges in Sicht. 
Warum? Weil die wirklichen 
Entscheidungsträger in Washington keine Ahnung von dem Land haben, das sie 
befreien und ihm helfen wollen, danach glücklich zu leben. 
Der Irak war von Anfang an 
ein künstlicher Staat. Die britischen Herren setzten mehrere ottomanische 
Provinzen nach ihren eigenen kolonialen Interessen zusammen. Sie krönten einen 
sunnitischen arabischen König über die Kurden, die keine Araber sind, und 
über die Schiiten, die keine Sunniten sind. Nur eine Folge von 
Diktatoren, jeder von ihnen  
brutaler als sein Vorgänger, verhinderten, dass der Staat auseinander fiel.
Die Planer in Washington 
waren nicht an der Geschichte, der Demographie oder Geographie des Landes 
interessiert, das sie mit brutaler Macht überfielen. Für sie war es ganz 
einfach: man muss zunächst den Tyrannen stürzen, demokratische Institutionen 
nach dem amerikanischen Modell errichten, freie Wahlen durchführen, und 
alles andere wird von alleine kommen. 
Im Gegensatz zu ihren 
Erwartungen wurden sie nicht mit Blumen empfangen. Noch entdeckten sie Saddams 
schreckliche Atombombe. Wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, 
zerschlugen sie alles, zerstörten das Land und versanken in einem Morast.
Nach Jahren blutiger 
militärischer Operationen, die zu nichts führten, fanden sie eine vorübergehende 
Medizin. Zur Hölle mit dem Idealismus, zur Hölle mit idealistischen Zielen, zur 
Hölle mit allen militärischen Doktrinen – sie 
kaufen jetzt einfach die Stammeshäuptlinge, die die Realität des Irak 
darstellen.
Der stille Amerikaner hat 
keine Ahnung, wie man da herauskommt. Er weiß nur, wenn er es tut, wird das Land 
nach gegenseitigen Massakern auseinanderbrechen. 
ZWEI JAHRE bevor die 
Amerikaner in den irakischen Morast gerieten, landeten sie im afghanischen 
Sumpf.
Warum? Weil eine 
Organisation, die sich Al-Qaida (die Basis) nennt, Verantwortung für die 
Zerstörung der Zwillingstürme in New York übernommen hat. Al-Qaidas Führer waren 
in Afghanistan, ihre Trainingslager waren 
dort. Für die Amerikaner war alles klar – da war kein zweiter Gedanke 
nötig.
Wenn sie nur einige 
Kenntnisse über das Land gehabt hätten, in das sie einfallen wollten, hätten sie 
vielleicht gezögert. Afghanistan war für Invasoren immer ein Friedhof . Mächtige 
Reiche sind von dort schon mit eingezogenem Schwanz wieder abgezogen. Anders als 
der flache Irak ist Afghanistan ein gebirgiges Land, ein Paradies auch für 
Guerillas. Es ist die Heimat mehrerer verschiedener Völker und unzähliger 
Stämme,  von denen jeder 
seine Unabhängigkeit  sehr 
eifersüchtig verteidigt.
Die Planer in Washington 
waren nicht wirklich daran interessiert. Für sie scheinen alle Länder gleich und 
auch alle Gesellschaften. Auch in Afghanistan sollte eine Demokratie im Stile 
der USA aufgebaut werden, freie und faire Wahlen müssen gehalten werden - und 
hoppla – alles andere wird dann von selbst kommen. 
Der Elefant betrat, ohne 
anzuklopfen, den Laden und erreichte einen überwältigenden Sieg. Die Luftwaffe 
bombardierte, die Armee eroberte ohne Probleme, al-Qaida verschwand wie ein 
Geist, die Taliban (religiöse Studenten) liefen weg. Die Frauen konnten in den 
Straßen wieder ohne  Kopftuch 
erscheinen, die Mädchen konnten zur Schule gehen, die Opiumfelder blühten und 
gediehen wieder – und Washingtons  
Marionette in Kabul auch. 
Doch der Krieg ging weiter, 
Jahr um Jahr, die Zahl der toten Amerikaner wuchs. Wozu? Keiner weiß es . Der 
Krieg ist anscheinend zu einer unabhängigen Sache geworden, ohne Ziel, ohne 
Grund.
Ein Amerikaner könnte sehr 
wohl fragen: Was zum Teufel tun wir dort?
DAS UNMITTELBARE Ziel, die 
Vertreibung der Al-Qaida aus Afghanistan ist offensichtlich gelungen. Al-Qaida 
ist nicht mehr dort – wenn sie überhaupt jemals dort war?
Ich schrieb einmal, 
Al-Qaida sei eine amerikanische Erfindung, und Osama Bin-Laden 
sei von Hollywood  für diese 
Rolle geschickt worden. Er ist einfach zu gut für diese Rolle, um wahr zu sein.
Das war natürlich eine 
Übertreibung. Aber nicht ganz. Die USA benötigen immer einen weltweiten Feind. 
In der Vergangenheit war es der internationale Kommunismus, dessen 
Agenten hinter jedem Baum und unter jeder Steinplatte lauerte. Aber 
leider sind die Sowjetunion und ihre Trabanten zusammengebrochen; nun war ein 
neuer Feind nötig, um die Lücke zu schließen. Er wurde in Gestalt des weltweiten 
Jihad der Al-Qaida gefunden. Das Vernichten des „Welt-Terrorismus“ wurde zum 
wichtigsten  amerikanischen Ziel.
Dieses Ziel ist Unsinn. 
Terrorismus ist nichts anderes als ein Instrument des Krieges. Er wird von 
Organisationen verwendet, die sich sehr von einander unterscheiden, die in sehr 
verschiedenen Ländern und für sehr verschiedene Ziele kämpfen. Ein Krieg gegen 
„Internationalen Terror“ ist wie ein Krieg gegen „Internationale Artillerie“ 
oder gegen eine „Internationale Flotte“.
Eine über die ganze Welt 
verbreitete Bewegung von Osama Bin Laden angeführt, gibt es gar nicht. Dank der 
Amerikaner  ist Al-Qaida ein 
Prestigewarenzeichen auf dem Guerillamarkt geworden, etwa wie McDonald und Amani 
in der Welt des fast food und der Mode. Jede militante islamische 
Organisation kann sich den Namen aneignen, sogar ohne Lizenz von Bin Laden.
Amerikanische 
Klientelregime, die  alle 
ihre lokalen Feinde als Kommunisten brandmarkten, um sich die Hilfe ihrer 
Patrone zu beschaffen, brandmarken sie jetzt als „Al-Qaida-Terroristen“
Keiner weiß, wo Bin Laden 
ist – falls er überhaupt noch lebt  
-  und es gibt keinen Beweis 
für seine Existenz. Einige glauben, er sei im benachbarten Pakistan. Und 
selbst wenn er sich in Afghanistan versteckt – gibt es eine Rechtfertigung, 
einen Krieg zu führen und Tausende von Menschen zu töten, um eine Person zu 
jagen?
Einige sagen: OK, wenn es 
keinen Bin -Laden gibt, dann müssen wir verhindern, dass die Taliban 
zurückkommen.
Warum, um Gottes Willen ? 
Was für eine Sache ist es für die USA zu bestimmen, wer in Afghanistan herrscht? 
Man kann religiöse Fanatiker im allgemeinen verabscheuen und die Taliban 
im besonderen. Aber ist das ein Grund für einen unendlichen Krieg?
Wenn die Afghanen selbst 
die Taliban  vor den Drogendealern, 
die in Kabul an der Macht sind, bevorzugen, dann ist das ihre Sache. Es scheint, 
dass dies so ist, da die Taliban den größten Teil des Landes wieder unter 
Kontrolle haben. Das ist kein guter Grund für einen Krieg im Vietnamstil. 
Aber wie kommt man da raus? 
Obama weiß es nicht. Während der Wahlkampagne versprach er es mit 
der Leichtherzigkeit eines Kandidaten, den Krieg dort zu erweitern als 
eine Kompensation für das Verlassen des Irak. Jetzt steckt er an beiden Orten 
fest – und in naher Zukunft kann er auch in einem dritten Krieg feststecken.
WÄHREND DER letzten paar 
Tage tauchte der Name Jemen immer öfter auf. Jemen – ein zweites Afghanistan, 
ein drittes Vietnam. 
Der Elefant steht in den 
Startlöchern, um  einen andern Laden 
zu betreten. Und auch dieses Mal wird er sich nicht um das Porzellan kümmern.
Ich weiß sehr wenig über 
den Jemen, aber genug, um  zu 
verstehen, dass nur ein Wahnsinniger es wünschen würde, dort aufgesaugt zu 
werden.  Auch der Jemen ist ein 
künstlicher Staat, aus zwei verschiedenen Teilen zusammengesetzt: das Land von 
Sanaa im Norden und der (früher britische) Süden. Der größte Teil des Landes ist 
gebirgig, der von kriegerischen Stämmen beherrscht wird, die ihre Unabhängigkeit 
schützen. Wie Afghanistan ist es eine ideale Region für Guerilla-Kriegsführung.
Auch dort gibt es eine 
Organisation, die den grandiosen Namen „Al-Qaida der arabischen Halbinsel“ 
angenommen hat (nachdem sich die jemenitischen Militanten sich mit ihren 
Saudi-Brüdern vereinigt haben). Aber ihre Führer sind viel weniger 
an der Weltrevolution interessiert als an den Intrigen und Schlachten der 
Stämme unter einander und gegen die „Zentral“-Regierung, eine Realität mit einer 
Geschichte von Tausenden von Jahren. Nur ein vollkommen Verrückter wird seinen 
Kopf dort hineinstecken. 
Der Name Jemen bedeutet 
„Land auf der Rechten“ Seite ( wenn man von Mekka, vom Westen aus schaut, liegt 
der Jemen auf der rechten Seite und Syrien auf der linken Seite. Die rechte 
Seite suggeriert auch Glück. Und der Name Jemen ( Jaman auf Arabisch) ist 
verbunden mit dem Wort al-Yamana, ein arabisches Wort für glücklich sein. Die 
Römer nannten es Arabia felix 
(„Glückliches Arabien“), weil es durch Handel mit Gewürzen reich geworden 
war.
(Übrigens Obama mag daran 
interessiert sein, von einem anderen Führer einer Großmacht zu hören: Caesar 
Augustus versuchte einmal, den Jemen zu überfallen und wurde dabei vernichtend 
geschlagen.
Wenn der stille Amerikaner 
in seiner üblichen Mischung von Idealismus und Ignoranz entscheidet, Demokratie 
und all die anderen guten Dinge dorthin zu bringen,  
würde  das das Ende dieses 
Glückes dort bedeuten. Die Amerikaner werden in noch einem Morast versinken, 
Zehntausende werden getötet werden, und alles wird in einer Katastrophe enden.
ES KÖNNTE wohl sein, dass 
das Problem unter anderem in der Architektur Washingtons 
liegt. 
Diese Stadt ist voll 
riesiger Gebäude, voller Ministerien und anderer Büros der einzigen Supermacht 
der Welt. Die Leute, die dort arbeiten, fühlen die ungeheure Macht des 
Weltreiches. Sie schauen auf die Stammesführer Afghanistans und des Jemen wie 
ein Nashorn auf die Ameisen, die  
zwischen seinen Füßen  
herumkrabbeln. Das Nashorn läuft über sie hinweg, ohne sie zu bemerken. Doch die   
Ameisen überleben.
Der stille Amerikaner 
ähnelt  Mephisto in Goethes Faust, 
der sich selbst als die Kraft definiert, die „immer das Böse will und stets das 
Gute schafft“ – aber umgekehrt.
(Aus dem Englischen: Ellen 
Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)