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Zwei Sitzstreiks
Uri Avnery, 
10.7.10
IN DIESEM Augenblick finden 
in Jerusalem zwei Kilometer von einander entfernt zwei Sitzstreiks statt. Der 
eine in Westjerusalem, wo die Shalit-Familie 
in einem Protestzelt vor der Residenz des Ministerpräsidenten sitzt und 
schwört, so lange dort zu bleiben, bis ihr Sohn zurückgekehrt ist. In 
Ost-Jerusalem  sind es drei 
Mitglieder des palästinensischen Parlaments, die sich im Gebäude des 
Internationalen Roten Kreuzes aufhalten.
Das Wort, das beide 
verbindet, ist : Hamas. 
Die Shalit-Familie 
fordert nach vier Jahren Gefangenschaft die Entlassung ihres Sohnes, des 
Stabsfeldwebel Gilad. Zu diesem Zweck sind sie zu Fuß unter glühender Sonne 
200km von ihrem Haus in Galiläa an der Spitze von Zehntausenden nach Jerusalem 
gelaufen. Das ist eine populäre Bewegung fast ohne Präzedenzfall in Israel: 
Menschen von der Linken und der Rechten marschierten zusammen mit gewöhnlichen 
Leuten, die nur von  der Sorge um 
den jungen Mann berührt waren. Die geläufige 
Forderung ging an den Ministerpräsidenten Binyamin Netanyahu, mit dem 
Vorschlag des Gefangenenaustausches der Hamas einverstanden zu sein.
Die drei palästinensischen 
Mitglieder  des Parlamentes 
protestierten gegen die Order, die Stadt zu verlassen, in der ihre Vorfahren 
vielleicht Tausende von Jahren lebten. Ihre Schuld ist, 
sie  waren als 
Hamaskandidaten ins palästinensische Parlament gewählt worden – bei 
demokratischen Wahlen, deren Fairness von Ex-Präsident Jimmy Carter und seinem 
Team bestätigt worden war.
Ost-Jerusalem wurde tatsächlich offiziell von Israel „annektiert“, aber nach den Oslo-Abkommen haben seine Bewohner das Recht, an den Wahlen zum palästinensischen „Legislativrat“ teilzunehmen. Hamas gewann die letzten Wahlen.
Die vier Jerusalemer 
Hamas-Mitglieder des Parlamentes wurden nach der Gefangennahme Gilad Shalits 
sofort verhaftet, um als „Verhandlungschips“ zu dienen – eine verwerfliche 
Praxis. Sie wurden von einem Militärgericht 
zu vier Jahren Haft verurteilt. (Es ist schon gesagt worden, dass „ein 
Militärgericht mit Gerechtigkeit  
genau so viel gemeinsam hat wie ein Militärmarsch mit Musik). Vor ein paar 
Wochen wurden sie entlassen, nachdem sie ihre ganze Haftzeit abgesessen hatten, 
um informiert zu werden, ihr Wohnstatus in Jerusalem sei aufgehoben worden 
und  sie 
innerhalb von 40 Tagen die Stadt verlassen müssten 
und entweder in die Westbank oder in den Gazastreifen ziehen. 
Die vier weigerten sich 
natürlich. Der bekannteste unter ihnen, Muhammad Abu-Ter, 
(wird auch Abu-Tir geschrieben) wurde wieder verhaftet und ist jetzt 
wieder im Gefängnis. Die andern drei konnten der Verhaftung ausweichen, indem 
sie im Gebäude des IRC im Sheik-Jarrah-Viertel 
Zuflucht fanden. Das Gebäude hat zwar keine exterritoriale Immunität, 
aber ein Überfall durch die israelische Polizei würde eine Welle internationalen 
Protestes verursachen und wurde deshalb bis jetzt vermieden. 
ICH ENTSCHIED mich, beide 
Sit-in-Orte zu besuchen, um meine Solidarität mit beiden Protesten zu bekunden.
Vor allem besuchte ich die 
Parlamentsmitglieder im IRC-Gebäude. Es war nicht unser erstes Treffen: vor vier 
Jahren besuchten wir Muhammad Abu-Ter in seinem Haus im Tsur Baher-Stadtteil. 
Ahmad Atoun, einer der drei ( die beiden anderen sind Muhammad Totach und Khalid 
Abu-Arafa) war damals auch dabei.
Bei jener Gelegenheit war 
ich auch  Mitglied einer Gush 
Shalom-Delegation. Das Gespräch war freundlich, aber völlig politisch. Unser 
Ziel war es, die Möglichkeiten für einen Israel-Hamas-Dialog zu prüfen und zwar 
als Teil von Bemühungen um einen israelisch-palästinensischen Frieden.
Abu-Ter, eine freundliche 
Person von Natur aus, ist in Israel wohl bekannt. Jeder kann ihn leicht 
identifizieren, weil er seinen Bart  
mit flammend roter Farbe gefärbt hat, wie es die Gewohnheit von Prophet Mohammad 
gewesen sein soll, der seinen Bart mit Henna färbte.
Wir hatten den klaren 
Eindruck, dass es möglich sei, mit Hamas zu reden,und dass deren Positionen 
weniger extrem sind, als sie scheinen mögen. 
Kurz danach wurden alle 
vier verhaftet. Während ihrer „Gerichtsverhandlung“ demonstrierten wir außerhalb 
des Militärlagers, wo sie stattfand.
BEI DEM Treffen dieser 
Woche mit den drei von Vertreibung Bedrohten brachte ich zum Ausdruck, dass es 
kein legales und moralisches Recht gebe, eine Person wegen ihrer politischen 
Meinung aus ihrem Haus und ihrer Stadt zu vertreiben. Ost-Jerusalem ist 
besetztes Gebiet, und die Vertreibung aus besetzten Gebieten ist ausdrücklich 
vom Völkerrecht verboten. 
Ich konnte nicht umhin, 
mich an die Worte des Deutschen Martin Niemöller, eines U-Boot-Kapitäns des 1. 
Weltkrieges, zu erinnern, der später Pazifist und Theologe wurde und in einem 
Nazi-KZ landete: „Als sie die Kommunisten holten, schwieg ich; denn schließlich 
war ich kein Kommunist. 
Als sie die 
Sozialdemokraten holten, schwieg ich; schließlich war ich kein Sozialdemokrat. 
Als sie die Juden holten, schwieg ich; schließlich war ich kein Jude. Als sie 
wegen mir kamen, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
„Jetzt,“ sagte ich, „ 
vertreiben sie die Hamasleute. Dann werden sie die Fatahleute vertreiben; dann 
werden sie alle Araber aus Ost-Jerusalem vertreiben. Dann werden sie das 
Bürgerrecht israelischer Friedensaktivisten streichen und auch uns vertreiben. 
Dies muss ein gemeinsamer Kampf von uns allen sein – Israelis und 
Palästinensern, Fatah und  Hamas und 
vom israelischen Friedenslager.“
DER VERSUCH, die 
Hamasmitglieder aus Ost-Jerusalem zu vertreiben, ist natürlich ein Teil der 
massiven Kampagne, den Osten der Stadt 
auf tausend und eine Weise zu „judaisieren“. Diese Kampagne führt der 
Bürgermeister Nir Barkat an, der  
sich in die Flagge der „Liebe zu Jerusalem“ einhüllt.
Liebe für Jerusalem ist wie 
die Liebe zu Kindern. Jeder liebt Kinder – aber nicht immer auf dieselbe Art. 
Ein Vater liebt seine 
Kinder. Ein Lehrer liebt seine Schüler. Ein Pädophile 
liebt das Objekt seiner Lust. Ein Kannibale 
liebt sie gebraten. 
Ich liebe Jerusalem. 
Nir 
Barkat liebt Jerusalem. Aber unsere Liebe 
ist sehr verschieden. 
Ich bin Tel Aviver. Tel Aviv ist mein Zuhause. Aber Jerusalem liebte ich. Liebte – im Imperfekt.
Während der 10 Jahre, in 
denen ich  Knessetmitglied war, 
verbrachte ich die halbe Woche in Jerusalem – vor und nach dem Sechs-Tage-Krieg. 
Jedes Mal, wenn ich nach 
Jerusalem kam, atmete ich tief durch. Ich liebte die Stadt fast physisch – ihre 
Steinhäuser, die Berge drum herum, ihre trockene Luft. Und jede Woche, wenn ich 
nach Tel Aviv hinunter kam, murrte ich über seine Feuchtigkeit. 
Nach dem Sechs-Tage-Krieg 
liebte ich Jerusalem noch mehr: den hinzugekommenen östlichen Teil der Stadt – 
das orientalische Ambiente, die schönen Moscheen, die 
eindrucksvolle Altstadtmauer, das Damaskustor, den Bazar mit seinen 
speziellen Geräuschen, das unglaubliche Gemisch von Sprachen, Typen, Menschen …
Ich lernte faszinierende 
Menschen kennen und ich gewann neue Freunde – Faissal al-Husseini, Anwar 
Nusseibeh und seinen Sohn Sari Nusseibeh und viele andere. Einige Wochen lang 
schien es, als würde Jerusalem wirklich vereint sein und zu seinen ruhmreichen 
Tagen zurückkehren. 
Und dann begann der 
Prozess, der alles zerstörte – die Stadt, seine menschliche Struktur, die 
einzigartige Schönheit und seine Mannigfaltigkeit. 
Die sieben Schleier der 
Einheit fielen  einer nach dem 
anderen ab. Und was übrig blieb, war die hässliche Realität der Besatzung. Die 
Besatzung von Ost-Jerusalem durch West-Jerusalem, eine Geschichte der Annexion, 
Unterdrückung, Enteignung, Vernachlässigung und der schleichenden ethnischen 
Säuberung. 
Die Person, die diese 
Realität mehr als jede andere symbolisiert, ist niemand anderes als Nir Barkat, 
der Mann, der keine Gelegenheit versäumt, um einen Streit zu provozieren, um 
einen Brand zu verursachen, zu zerstören und zu vertreiben. Er erinnert mich an 
einen Pyromanen, der ein brennendes Streichholz in eine Tankstelle wirft. 
Wie ist solch eine Person 
Bürgermeister geworden? Die Jerusalemer stimmten aus einem einzigen Grund für 
ihn: er ist säkular. Jeder Säkulare schien für sie besser als ein orthodoxer zu 
sein. Die Orthodoxen erobern die Stadt langsam und sicher, eine Straße nach der 
anderen,  einen Stadtteil 
um den anderen. Die säkulare Bevölkerung hat Angst, berechtigte Angst. 
Aus Angst wählten sie die einzige säkulare Person auf der Bühne – obgleich diese 
eine viel gefährlichere für die Zukunft ihrer Stadt ist als der 
furchterregendste Orthodoxe. 
Es gab keinen säkularen, 
liberalen, friedensliebenden Kandidaten. Die Wahl war nur zwischen einem 
aggressiven Orthodoxen und einem  
extremen Nationalisten. Die Wähler (alle sind jüdisch, die arabischen wählten 
nicht) verstanden nicht rechtzeitig, dass ein extremer Nationalist leicht einen 
extremen Religiösen umarmen kann, da beide ihre Wurzeln im Kult des 
„auserwählten“ Volkes und im Hass gegen Fremde haben. 
Die Ideologie von Barkat 
bringt ihn nach vorne ohne Hemmungen und Bremsen, bis es ihm gelungen sein wird, 
die menschliche Struktur, ihren kulturellen Reichtum und die Schönheit 
der Stadt zu zerstören – man sehe sich 
nur die monströsen Gebäude an – und nichts bleibt übrig außer einer 
monotonen Farbe, das jüdisch-orthodoxe Schwarz. 
Barkat ist nicht der erste 
und nicht der einzige, der daran ging, Ost-Jerusalem zu judaisieren. Judaisieren 
heißt, alle anderen Farben  zu 
löschen, die Lagen vieler Generationen von Verehrern zu zerstören, 
Tausende von Jahren der Geschichte und kultureller Schöpfung 
auszulöschen.
Ihm ging Teddy Kollek 
voran. Kollek war ein Genie. Er zerstörte das Mugrabi-Viertel neben der 
Klagemauer, enteignete und baute jüdische Viertel mit unglaublicher 
Geschwindigkeit und sammelte  
gleichzeitig in aller Welt Friedenspreise ein. Wenn er länger gelebt hätte, 
würde er sicher auch noch den Friedensnobelpreis bekommen haben. Verglichen mit 
ihm ist Barkat ein primitiver, durchschaubarer 
Flegel, der weltweit verabscheut wird. Sheikh-Jarrah, Silwan, Ramat 
Shlomo, Pisgat Ze’ev – diese Namen sind überall Symbole 
für die Besatzung geworden.
Der Mythos der „Stadt, in 
der man zusammen kommt“ (Ps. 122) explodiert jeden Tag. Die Stadt ist nicht 
zusammengekommen. Die zwei Teile sind so vereinigt, wie ein Löwe mit dem Schaf 
vereinigt ist, das er verschlungen hat. Barkat ist der Bürgermeister 
Westjerusalems und der Militärgouverneur von Ost-Jerusalem. Er und sein Komplice 
an der „heiligen“ Aufgabe, der Innenminister Eli Yishai, tun alles nur Mögliche, 
um die nicht-jüdische Bevölkerung hinaus zu stoßen.
Aber es gelingt ihnen 
nicht. Barkat & Co machen die selbe Erfahrung mit den Arabern, wie sie Pharao 
mit den Kindern Israels erlebte. „Je mehr sie unterdrückt werden, um so mehr 
wurden sie und wuchsen.“  
(Exodus1,12)  trotz der Zerstörung 
und der Bauerei hat sich das demographische Gleichgewicht 
in Jerusalem kaum verändert – und wenn überhaupt, dann zu Gunsten der 
Araber. 
Ich sagte zu den 
Parlamentsmitgliedern, dass am Ende die Vision von zwei Staaten 
realisiert  werden wird, weil 
die einzige Alternative ein Apartheidstaat sein würde, in dem die Araber die 
unterdrückte Mehrheit sein würde und die Juden die unterdrückende Minderheit – 
bis das ganze Gebäude unvermeidlich zusammenbrechen werde. Zwei Staaten bedeuten 
– zwei Hauptstädte in Jerusalem, die palästinensische im Osten und die 
israelische im Westen. „Ich hoffe, dass wir alle darin übereinstimmen, dass 
Jerusalem auf der Verwaltungsebene vereinigt bleibt, unter einem gemeinsamen 
Stadtrat, der die reiche und einzigartige 
Textur ihrer  Bevölkerung 
schützt.“
Trotz Binyamin Netanyahu, 
Nir Barkat und ihren Kollegen, den Zerstörern Jerusalems.
Eine kürzere 
Version dieses Artikels wurde gestern im der 
Jerusalemer Beilage von Maariv veröffentlicht.
(Aus dem Englischen: Ellen 
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)