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Uri Avnery, 18.4. 15
IN
DIESER Woche erhielt ich eine zweifelhafte Auszeichnung: eine bahnbrechende
Beurteilung des Obersten Gerichtshofes ist nach mir genannt worden.
Es ist
eine Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte.
MEIN
NAME erschien ganz oben, als erstes auf einer Liste von Antragstellern,
Vereinigungen und Einzelpersonen, die das Gericht gebeten haben, ein Gesetz zu
streichen, das von der Knesset erlassen worden war.
Israel
hat keine schriftliche Verfassung. Diese ungewöhnliche Situation wurde von
Beginn des Staates an geschaffen, weil
David Ben Gurion, ein leidenschaftlicher Säkularist, keinen Kompromiss
mit den orthodoxen Parteien erreichen konnte, die darauf bestanden, dass die
Torah schon eine Verfassung sei.
Anstelle
einer Verfassung haben wir also eine Anzahl von Grundgesetzen, die nur einen
Teil der Grundlage decken, und eine Menge von Präzedenzfällen des Obersten
Gerichtes. Dieses Gericht masste sich langsam das Recht an, Gesetze, die der
nicht existenten Verfassung widersprechen, aber von der Knesset verabschiedet
wurden, aufzuheben.
BEGINNEN
WIR mit der letzten Knesset: rechts extreme Likud-Mitglieder wetteifern in ihren
Bemühungen darum, in der einen oder anderen Weise den Obersten Gerichtshof zu
kastrieren. Einige würden das Gericht mit Richtern vom rechten Flügel füllen;
andere würden seine Gerichtsbarkeit radikal
begrenzen. Dies ist eine Schlacht, die
schon seit Jahren läuft.
Die
Dinge spitzten sich zu, als eine Gruppe von extrem
rechten Likud-Mitgliedern damit begann, eine wahre Lawine von Gesetzesentwürfen
vom Stapel zu lassen, die ganz klar nicht verfassungsmäßig waren. Eines von
ihnen – und das gefährlichste – war ein Gesetz, das Leuten verbot, zu einem
Boykott des Staates Israel aufzurufen – und in einer bösen Weise die Worte
hinzufügte „ und der Gebiete, die von ihm besetzt sind“.
Dies
enthüllte das wirkliche Ziel der Operation. Einige Jahre zuvor hatte unsere
Gush Shalom -Friedensorganisation die Öffentlichkeit dazu aufgerufen, die
Waren aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten zu boykottieren. Wir
veröffentlichten auch auf unsrer Website eine Liste von Produkten. Mehrere
andere Friedens-Organisationen schlossen sich der Kampagne an.
Gleichzeitig versuchten wir, die Europäische Union zu überzeugen, Ähnliches zu
tun. Israels Abkommen mit der EU, die Israels Waren von Steuern befreit,
schließt die Siedlungen nicht ein. Aber die EU pflegte die Augen zu schließen.
Wir benötigten eine Menge Zeit und Mühe, um sie wieder zu öffnen. In den letzten
Jahren hat die EU diese Waren ausgeschlossen. Sie forderten, dass auf allen
Waren „Made in Israel“, der wirkliche Ursprungsort, klar angegeben wird.
Das von
der Knesset verabschiedete Gesetz hat nicht nur kriminelle, sondern auch zivile
Aspekte. Personen, die zu einem Boykott aufrufen, könnten nicht nur ins
Gefängnis gebracht werden. Sie könnten auch dazu verurteilt werden, eine
Riesensumme Schadenersatz zu zahlen, ohne dass der Kläger beweisen muss, dass
ein tatsächlicher Schaden für ihn durch den Aufruf entstanden worden war.
Auch
Vereinigungen, die Regierungs-Hilfsgelder oder andere Regierungshilfen nach dem
bestehenden Gesetz erhielten, würden von jetzt an davon benachteiligt sein, was
ihre Arbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit noch schwieriger machen würde.
INNERHALB VON Minuten nach der Verabschiedung dieses Gesetzes reichten wir
unsere Anträge beim Obersten Gerichtshof ein. Sie waren im Voraus
gut durch die Anwältin Gabi Lasky, einer talentierten jungen
Rechtsanwältin und engagierten Friedensaktivistin, vorbereitet worden. Mein Name
war der erste auf der Liste der Antragsteller – und so wird der Fall
„Avnery versus. den Staat Israel“ genannt.
Der von
Lasky vorbereitete Fall war logisch und vernünftig. Das Recht der Redefreiheit
wird in Israel durch ein spezielles Gesetz nicht garantiert, wird
aber von mehreren Grundgesetzen abgeleitet. Ein Boykott ist eine legitime
demokratische Aktion. Jeder kann sich entscheiden, ob er etwas kauft oder nicht
kauft. Tatsächlich ist Israel voller Boykotts, Geschäfte die z.B. nicht-koschere
Lebensmittel verkaufen, werden routinemäßig von den Religiösen
boykottiert, und Poster, die zum Boykott eines
speziellen Ladens aufrufen, sind in religiösen Stadtteilen weit verbreitet.
Das neue
Gesetz verbietet Boykotts im Allgemeinen nicht. Es sondert politische Boykotts
einer gewissen Art aus. Doch politische Boykotts sind in jeder Demokratie
Gemeinplatz. Sie sind ein Teil der Ausübung der Redefreiheit.
Der
berühmteste moderne Boykott wurde 1933 von der jüdischen Gemeinde in den USA
begonnen, nachdem die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Als Antwort
darauf riefen die Nazis zu einem Boykott aller jüdischen Unternehmen in
Deutschland auf. Ich entsinne mich noch an das Datum: der 1. April, weil mein
Vater mir an diesem Tag nicht erlaubte, zur Schule zu gehen. (Ich war 9 Jahre
alt und der einzige jüdische Schüler in meiner Schule.)
Später
schlossen sich alle progressiven Länder zu einem Boykott des rassistischen
Regimes in Südafrika an. Dieser Boykott spielte eine große (wenn auch nicht
entscheidende Rolle) beim Sturz desselben.
Ein
Gesetz kann eine Person gewöhnlich nicht zwingen,
eine normale Ware zu kaufen, noch kann es verbieten, sie zu kaufen.
Selbst die Gestalter dieses neuen israelischen Gesetzes verstanden dies. Deshalb
strafen diese Gesetze niemanden fürs Kaufen oder Nicht-kaufen. Es bestraft jene,
die andere dazu aufrufen, vom Kauf Abstand zu nehmen.
So ist
das Gesetz ein Angriff auf die Redefreiheit und auf gewaltfreie demokratische
Aktionen. Kurz gesagt, es ist grundsätzlich ein anti-demokratisches Gesetz
voller Fehler.
DER GERICHTSHOF, der unsern Fall
beurteilte, besteht aus neun Richtern, fast das ganze Oberste Gericht.
Solch eine Zusammenstellung ist sehr selten und wird nur dann zusammengerufen,
wenn eine schicksalhafte Entscheidung getroffen werden muss.
An der
Spitze des Gerichtes stand sein Präsident, Richter Asher Gronis. Das war an sich
schon bezeichnend, da Gronis schon das Gericht verlassen hatte und im Januar in
den gesetzlichen Ruhestand ging, als er das Alter von 70 Jahren erreichte. Als
der Platz leer wurde, war Gronis schon zu alt, um noch Gerichtspräsident zu
werden. Nach dem bestehenden israelischen Gesetz, kann ein Richter des Obersten
Gerichtes nicht Präsident des Gerichts werden, wenn die Zeit seines Ruhestandes
zu nahe ist. Aber der Likud war so eifrig/ dienstbeflissen, ihn als Präsidenten
zu haben, dass ein spezielles Gesetz verabschiedet wurde, um ihm zu erlauben,
Präsident zu werden.
Außerdem
werden einem Richter, der mit einem Fall beschäftigt gewesen ist, den er vor
seiner Pensionierung nicht abgeschlossen hat, weitere drei Monate zugestanden,
um seinen Job zu beenden. Es scheint, dass sogar Gronis, der Protégé von Likud,
bei dieser besonderen Entscheidung
Bedenken hatte. Er unterzeichnete es buchstäblich im allerletzen Augenblick – um
17 Uhr 30 am letzten Tag, gerade kurz bevor Israel am Holocausttag zu trauern
begann.
Seine
Unterschrift war entscheidend. Das Gericht war gespalten – 4 zu 4 – zwischen
denen, die das Gesetz annullieren und denen, die es aufrecht erhalten wollten.
Gronis schloss sich der
pro-Gesetz-Gruppe an, und das Gesetz wurde verabschiedet.
Es ist nun das „Gesetz des Landes“.??
Ein
Paragraph des originalen Gesetzes wurde einstimmig gestrichen. Der originale
Text sagte, dass jede Person - d.h.
Siedler – die behaupten, dass sie durch den Boykott tatsächlich geschädigt
worden seien, unbegrenzten Schadenersatz von jedem beanspruchen können, der zu
diesem Boykott aufgerufen hat, ohne beweisen zu müssen, dass sie tatsächlich
geschädigt wurden.
Bei der
öffentlichen Anhörung in unserm Fall wurden wir von den Richtern gefragt, ob wir
damit einverstanden wären, wenn sie die Wörter „die von Israel gehaltenen
Gebiete“ streichen würden, das würde den Boykott der Siedlungen unberührt
lassen. Wir antworteten, dass wir im Prinzip
darauf bestanden, das ganze Gesetz zu annullieren, würden aber das
Streichen dieser Worte begrüßen. Aber beim letzten Urteil wurde dies zuletzt
nicht getan.
Dies
schafft übrigens eine absurde Situation. Wenn ein Professor der Universität in
Ariel – tief in den besetzten Gebieten – behauptet, dass ich dazu aufgerufen
hätte, ihn zu boykottieren, kann er mich verklagen. Dann wird mein Anwalt
versuchen, zu beweisen, dass mein Aufruf ganz unbeachtet blieb und deshalb auch
keinen Schaden verursachte, während der Professor beweisen muss, dass meine
Stimme so einflussreich war, dass viele Leute vom Boykott ihm gegenüber
veranlasst wurden.
VOR
JAHREN, als ich noch
Chefherausgeber von Haolam Hazeh , dem Nachrichtenmagazin, war, entschied ich
mich, Aharon Barak als unsern Mann des Jahres zu wählen.
Als ich
ihn interviewte, erzählte er mir, wie
sein Leben während des Holocaust gerettet wurde. Er war ein Kind im Kovna-
Ghetto, als ein litauischer Bauer sich entschied, ihn heraus-zu schmuggeln.
Dieser einfache Mann riskierte sein Leben und das seiner Familie, als er ihn
unter einer Ladung Kartoffeln versteckte, um sein Leben zu retten.
In
Israel brachte er es als Jurist zu einer hohen Stellung und wurde schließlich
der Präsident des Obersten Gerichtshofes. Er führte eine Revolution an, genannt
„juristische Aktivität“, indem er u.a. behauptete, dass das Oberste Gericht
berechtigt sei, jedes Gesetz zu streichen, das der (ungeschriebenen)
israelischen Verfassung widerspricht.
Es ist
unmöglich, die Bedeutung dieser Doktrin zu überschätzen. Barak tat für die
israelische Demokratie vielleicht mehr als irgendeine andere Person. Seine
unmittelbaren Nachfolger – zwei Frauen – befolgten diese Regel. Deshalb war der
Likud so eifrig, Gronis an seine Stelle
zu setzen. Gronis’ Doktrin könnte
„juristische Passivität“ genannt werden.
Während
meines Interviews mit ihm sagte Barak zu mir: „Sieh, der Oberste Gerichtshof hat
keine Legionen, die seine Entscheidungen durchsetzen. Er ist vollkommen abhängig
von der Haltung des Volkes. Er kann nicht weiter gehen, als das Volk bereit ist,
dies zu akzeptieren!“
Ich
erinnere mich ständig an diese Worte. Deshalb war ich nicht sonderlich über das
Urteil des Obersten Gerichts in der Boykottsache überrascht.
Das
Gericht hatte Angst. Es ist nichts einfacher als das. Und so verständlich.
Der
Kampf zwischen dem Obersten Gericht und Likuds extremer Rechten nähert sich
einem Scheitelpunkt. Der Likud hat gerade einen entscheidenden Wahlsieg
errungen. Seine Führer verstecken ihre Absicht nicht, um endlich ihre finsteren
Pläne bezüglich der Unabhängigkeit des Gerichtes in Kraft zu setzen.
Sie
wollen den Politikern ermöglichen,
das Ernennungskomitee für die Richter des Obersten Gerichtshofes zu beherrschen
und so das Recht des Gerichtes nicht verfassungsmäßige Gesetze, die von der
Knesset verabschiedet wurden, zu annullieren.
MENACHEM
BEGIN pflegte den Müller von Potsdam zu zitieren, der mit dem König in einen
privaten Streit verwickelt war und der ausrief: „Es gibt noch Richter in
Berlin!“
Begin
sagte: „Es gibt noch Richter in Jerusalem!“
Fragt
sich nur, wie lange noch?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)