Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery, 9.8.2014
TEL AVIV
hat keine Metro. Jahrzehntelang wurde darüber diskutiert. Auf einander folgende
Bürgermeister haben sie versprochen. Leider , keine Metro.
Als die
israelische Armee den Gazastreifen betrat und ein erstaunliches System von
Untergrund-Tunnels vorfand, machte eine Idee die Runde: Warum nicht die Hamas
einladen, um für Tel Aviv die Metro zu bauen. Sie haben
Übung, sind Experten,
kennen die Technologie, die Pläne und
haben die Menschenkraft.
Aber
dieser Krieg war kein Scherz. Er ist eine schreckliche Tragödie.
WER HAT
nach 29 Tagen Kampf gesiegt?
Natürlich ist es viel zu früh
endgültige Schlüsse zu ziehen. Die
Feuerpause mag zusammenbrechen. Es wird Monate, ja, Jahre dauern, um alle
Konsequenzen zu erkennen. Aber die
israelische allgemeine Weisheit hat
schon ihre eigenen
Schlussfolgerungen gezogen: es ist
ein Unentschieden.
Diese
Schlussfolgerung ist an sich eine Art Wunder. Einen ganzen Monat lang sind die
israelischen Bürger mit einem Wortschwall von Propaganda bombardiert worden.
Täglich, stündlich wurden sie einem endlosen Strom von Gehirnwäsche ausgesetzt.
Die
politischen und militärischen Führer diktierten ein Bild des Sieges. Panzern und
Truppentransportern, die aus dem Gazastreifen kamen, ist befohlen worden, große
Flaggen flattern zu lassen. Alle Fotos von
Truppen, die den Streifen verließen, zeigten
lächelnde Soldaten. (In meiner Phantasie
sehe ich die Soldaten, wie sie für den Ausgang übten; der Oberfeldwebel
rief: „Du dort gemeiner Cohen, dein Lächeln ist nicht breit genug!“
Nach der
offiziellen Linie hat unsere Armee alle ihre Ziele erreicht.
Mission erfüllt. Die Hamas ist geschlagen worden, wie es einer der treuen
„Militär-Korrespondenten“ sagte: „Die Hamas krabbelt auf allen vieren zur
Feuerpause!“
Es ist
deshalb eine große Überraschung, dass bei der ersten Volksbefragung nach dem
Kampf 51% der israelisch-jüdischen Öffentlichkeit antwortete, der Krieg endete
mit einem Unentschieden. Nur 36% antworteten, wir haben gewonnen, während 6%
glauben, die Hamas habe gesiegt.
WENN
EINE Guerilla-Organisation mit höchstens 10 000 Kämpfern ein Unentschieden
erreicht, und zwar mit einer der mächtigsten Armeen der Welt, die mit den
allermodernsten Waffen der Welt
ausgerüstet ist, dann ist das eine Art Sieg.
Hamas
hat nicht nur während des Kampfes
eine Menge Mut gezeigt, sondern auch überraschenden Einfallsreichtum beim
Vorbereiten dieser Kampagne. Am allerletzten Tag stand sie noch aufrecht. Um das
zu zeigen, warfen sie noch fünf
Minuten bevor die Feuerpause begann, Dutzende Raketen nach Israel hinein.
Die
israelische Armee hat andrerseits
sehr wenig Phantasie gezeigt. Sie war ganz unvorbereitet für das Gewirr von
Tunnels. Der überaus erfolgreiche „Eiserne Dom“
zur Verteidigung von Raketen wurde von Zivilisten erfunden und vor acht
Jahren von einem zivilen Verteidigungsminister installiert – gegen den
ausdrücklichen Wunsch der Armee. Ohne diese Verteidigung würde der Krieg ganz
anders ausgesehen haben.
Tatsächlich ist die Armee eine schwere, unhandliche, konservative Maschine
geworden, wie ein Kommentator zu schreiben wagte. Sie folgte ihrer
bestehenden Routine, ohne spezielle Kräfte zu benützen. Ihre Routine war
im Wesentlichen, die zivile Bevölkerung unter Beschuss zu haben und zu
unterwerfen und so viele Tote und
so viel Zerstörung wie möglich zu verursachen und den Widerstand
so weit und so lang wie
möglich zu verhindern. In Israel weckten die Bilder des Todes und der Zerstörung
kein Mitleid. Im Gegenteil. Die Leute waren stolz darauf.
Aber an
Ende waren beide Seiten völlig erschöpft. Beide benötigten dringend die
Feuerpause,
Für die
israelische Führung war die einzige Alternative zum Rückzug die Eroberung des
ganzen Gazastreifens. Dies hätte ihr ermöglicht, die Hamas physisch auszulöschen
und ihre Infrastruktur aufzulösen. Aber die Armee
war streng dagegen und überzeugte auch die politische Führung.
Geschätzte 1000 israelische Soldaten wären getötet worden und der ganze
Streifen wäre in Ruinen verwandelt
worden.
Vor 32
Jahren sah sich das Begin-Sharon-Duo
demselben Dilemma gegenüber. Die Eroberung von West-Beirut würde geschätzte 800
israelische Soldatenleben gekostet haben. Wie das
Netanjahu-Ya’alon-Duo jetzt entschieden
sie dagegen.
Die
israelische Gesellschaft wollte nicht so viele Todesfälle. Und der
internationale Aufschrei gegen das zivile Gemetzel in Gaza würde zu viel gewesen
sein.
Netanjahu tut also jetzt, was er niemals zu tun geschworen hat: er führt
Verhandlungen mit der „verabscheuungswürdigen Terroristen-Organisation“ – Hamas.
ES GIBT
eine psychische Erkrankung, die Paranoia vera genannt wird. Ihr Hauptsymptom:
Der Patient har eine verrückte Annahme (Die
Erde ist flach; Kennedy wurde von
Außerirdischen getötet; die Juden regieren die Welt) und bauen ein ganzes
logisches System darauf auf. Je logischer das System darum herum ist, umso
kränker ist der Patient.
Israels
augenblickliche Paranoia betrifft die Hamas. Die Annahme ist,
Hamas sei eine üble
jihadistisch-terroristische Organisation, die darauf aus ist, Israel zu
vernichten. .Wie ein Journalist es diese Woche ausdrückte: „Eine Bande von
Psychopathen.“
Die
ganze Politik Israels gründet sich auf diese Annahme. So war auch dieser Krieg.
Man kann
mit der Hamas nicht reden. Man kann
mit ihr keinen Frieden schließen. Man
muss sie auslöschen.
Dieses
dämonische Bild hat keine Verbindung mit der Realität.
Ich
liebe die Hamas nicht. Im Allgemeinen
liebe ich keine religiösen
Parteien – nicht in Israel, nicht in der arabischen Welt, nirgendwo.
Ich würde nie für so eine Partei stimmen.
Aber die
Hamas ist ein integraler Teil der palästinensischen Gesellschaft. Bei der
letzten international überwachten palästinensischen Wahl hat sie die Mehrheit
gewonnen. Stimmt, sie hat im
Gazastreifen die Macht
mit Gewalt an sich gerissen, aber nur,
nachdem sie eine klare Mehrheit bei der Wahl auch im Streifen gewonnen hatte.
Die
Hamas ist nicht „Jihadistisch“ im Sinne der al-Qaida oder ISIS. Sie kämpft nicht
für ein weltweites Kalifat. Sie ist eine palästinensische Partei, total der
palästinensischen Sache verschrieben. Sie nennt sich selbst „der Widerstand“.
Sie legt der Bevölkerung keine religiösen Gesetze („Die Sharia“) auf.
Aber was
ist mit der Charta der Hamas, die die Zerstörung des Staates Israels fordert und
bösartige antisemitische Statements enthält?
Für mich
ist dies frustrierend dejá vue. Die
PLO hatte eine Charta, die auch die Zerstörung Israels enthielt. Dies tauchte
endlos in der israelischen Propaganda auf.
Ein respektierter Professor und früherer militärischer
Nachrichtendienstchef, Yehoshafat Harkavi, sprach jahrelang über nichts anderes.
Erst nach dem Unterzeichnen des Oslo-Abkommens zwischen Israel und der PLO waren
die relevanten Sätze dieses Dokumentes
offiziell gestrichen – und zwar in Gegenwart des Präsidenten Bill
Clinton.
Wegen
religiöser Einschränkungen kann die Hamas selbst kein Friedensabkommen
unterschreiben. Aber wie religiöse Leute überall (besonders die Juden und
Christen) hat sie Wege gefunden, um Gottes Gebote zu umgehen. Der Gründer von
Hamas, der gelähmte Scheich Achmad Yassin (der die Charta
geschrieben hatte und von Israel ermordet wurde) schlug eine 30 Jahre
dauernde „Hudna“ vor. Eine Hudna
ist eine Waffenpause, die von Allah
gesegnet ist und die bis zum Jüngsten Gericht verlängert werden kann.
Gush
Shalom, die israelische Friedensorganisation, zu der ich gehöre, verlangte
als erste schon vor acht Jahren, dass unsere Regierung anfangen solle,
mit der Hamas zu reden. Wir selbst hatten eine Reihe freundlicher Diskussionen
mit mehreren Hamas-Führern. Die
augenblickliche Linie der Hamas ist
die, dass wenn Mahmoud Abbas es
gelänge, ein Friedensabkommen mit Israel zu unterzeichnen, würde Hamas dies
akzeptieren – vorausgesetzt, es ist von einem Referendum ratifiziert worden.
Leider
gibt es da wenig Hoffnung, dass Israel von dieser Paranoia bald geheilt wird.
NEHMEN
WIR an, dass dieser Krieg wirklich vorüber ist, was wird bleiben?
Die
Kriegshysterie, in die Israel während dieses Krieges versunken war, brachte eine
ekelhafte Welle von Faschismus mit sich. Lynchmobs haben Araber in Jerusalem
gejagt, Journalisten wie Gideon Levy benötigen Leibwächter,
Universitätsprofessoren, die wagten, für den Frieden zu sprechen, wurden
zensiert ( das könnte einen
weiteren Boykott rechtfertigten,
einen weltweiten akademischen Boykott, Künstler, die
vorsichtig Kritik übten, wurden
entlassen).
Einige
Leute glauben, dass dies ein Meilenstein im Verfall der israelischen Demokratie
ist .Ich hoffe noch, dass die üble Welle sich zurückziehen wird. Aber etwas wird
sicher bleiben. Faschismus ist vom Mainstream-Diskurs sanktioniert worden.
Ein
Symptom des Faschismus‘ ist die Legende vom
„Messer im Rücken“ - Adolf Hitler verwendete sie auf dem Weg zur Macht.
Unsere glorreiche Armee war kurz vor dem Sieg, als ein Kabale,
ein (jüdischer) Politiker,
ein Messer in ihren Rücken stieß. Man kann dies
schon jetzt in Israel hören. Die tapferen Soldaten hätten den ganzen
Gazastreifen erobern können, wenn Netanjahu und seine Handlanger – der
Verteidigungsminister und der
Stabschef – nicht den Befehl für einen schmachvollen Rückzug gegeben hätten.
Im
Augenblick ist Netanjahu auf der Höhe seiner Volkstümlichkeit. Überwältigende
77% der jüdischen Bürger stimmten seiner Kriegsführung
zu. Aber dies kann sich über Nacht
ändern. Die Kritik, die jetzt flüsternd
ausgedrückt wird - sogar in seiner eigenen Regierung -
mag nach draußen brechen/ nach außen
dringen.
Am Ende
mag Netanjahu von denselben
Superpatrioten verschlungen werden, die
er angeführt hat.
Die
schrecklichen Bilder der Zerstörung und des Todes, die aus Gaza kommen, haben im
Ausland einen tiefen, (bestürzenden) Eindruck gemacht. Sie können nicht einfach
ausgelöscht werden. Ein anti-israelisches Gefühl wird bleiben, einiges davon
mit direktem Antisemitismus getönt. Israels (falsche) Behauptung, „ der
Nationalstaat des jüdischen Volkes“ zu sein und die beinahe totale
Identifizierung der Diasporajuden mit Israel wird unvermeidbar zur Anklage aller
Juden für Israels Untaten führen.
Die
Auswirkung auf die Araber ist bei weitem schlimmer. Für jedes getötete Kind, für
jedes zerstörte Haus, werden sicher neue „Terroristen“ heranwachsen.
ES GIBT
auch ein paar positive Folgen.
Dieser
Krieg hat vorübergehend eine
unwahrscheinliche Koalition zwischen Israel, Ägypten, Saudi-Arabien und der
Palästinensischen Behörde geschaffen.
Vor zwei
Monaten war Abbas noch der
Prügelknabe von Netanjahu. Jetzt ist er der Liebling von Netanjahu und der
israelischen öffentlichen Meinung. Gleichzeitig sind sich paradoxerweise
Abbas und Hamas einander näher
gekommen.
Dies
könnte eine einzigartige Gelegenheit sein, einen ernsthaften Friedensprozess zu
beginnen, und zwar als Folge der Lösung der Probleme des Gazastreifens.
Falls ….
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)