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Eine Generalüberholung
Uri Avnery,
11. Dezember 2010
DER RICHTER: „Sie sind
angeklagt, weil sie ihre Frau und zwei Kinder gemordet haben. Wie plädieren Sie?
Schuldig oder nicht schuldig?“
Der Angeklagte: „Euer
Ehren, ich befasse mich nicht mit der Vergangenheit. Ich denke über die Zukunft
nach!“
Nein, das ist keine Szene
aus einer Komödie. Etwas Ähnliches geschah wirklich. So antworteten Eli Yishai,
der Innenminister, Benyamin Netanyahu und die anderen Troddel in dieser Woche
auf die Anklagen wegen grober
Vernachlässigung, die die Folge des unvorhergesehenen riesigen Feuersturmes war,
der große Teile des Carmelgebirges verwüstete und den Tod von 42 Menschen
verursachte.
DER INBEGRIFF von Frechheit
wurde von Eli Yishai (Shas) begangen. In vergangenen Zeiten würde ein
japanischer Minister schon am ersten Tag des Brandes Harakiri begangen haben.
Aber Yishai wandte sich an die Öffentlichkeit und behauptete, dass er das
Lynchopfer wurde, weil er ein „Orthodoxer und Sepharde“ sei.
Aber selbst wenn er ein
blauäugiger, säkularer Ashkenazi gewesen wäre, hätte man ihn
die Treppe hinunterwerfen
sollen. Und nicht nur wegen seiner
Verantwortung als Minister, wie es der staatliche Rechnungsprüfer höflich
ausdrückte.
Wenn Yishai dem oben
erwähnten Richter gegenüber gestanden hätte, dann hätte er geantwortet: „Euer
Ehren, alle meine Vorgänger ermordeten auch ihre Frauen und Kinder. Warum
greifen Sie mich heraus? Nur weil ich orthodox und ein Sepharde bin?“
Ein
einziger schockierender Beweis genügt, um
diesem Individuum eine persönliche Schuld
zuzuschreiben. Als das Feuer ausbrach, war am Haifaer Flughafen, wo die
Feuerwehrflugzeuge stationiert waren, kein einziges Kilo Feuerlöschmaterial als
Vorrat vorhanden. Der Vorrat im ganzen Lande genügte nur für die ersten 20
Minuten. Israel musste SOS-Botschaften in alle Welt hinausschicken, selbst in
Länder, die kleiner und ärmer als wir sind,
um das nötige Material zu
erbitten.
War das die Verantwortung
seiner Vorgänger in den 50er oder 90er-Jahren?
Bis vor kurzem tat sich
Yishai als zwanghafter Verfolger von Flüchtlingskindern hervor, um den
„jüdischen“ Staat zu retten. Wenn er
in die Bekämpfung von Feuer nur einen Bruchteil der Energie und
des Enthusiasmus gesteckt hätte, die er der Menschenjagd der
„Os-Einwanderungs-Einheit“ gewidmet hatte, dann hätte das Feuer innerhalb einer
Stunde gelöscht werden können, statt drei Tage unvermindert zu wüten. Ganz
abgesehen von seinen Drohungen, die Regierungskoalition zu brechen, wenn die
Subventionen an die Orthodoxen reduziert werden würden.
In Yishai sind einige der
Hauptzüge, die die Katastrophe verursachten, konzentriert; ein aufgeblasenes
Ego, total den Interessen seiner Partei unterworfen und vollkommene
Gleichgültigkeit für die Aufgaben der Regierung, die ihm anvertraut worden
waren.
Aber er behauptet, er habe
„gewarnt“. Alle Politiker „warnten“. Jeder von ihnen hatte in seiner Hosentasche
hinten einen Stoß Briefe, die er in den letzten paar Jahren geschrieben hatte,
um seinen Hintern zu verdecken.
Aber die Pflichten eines Ministers bestehen nicht aus „warnen“. Seine
Pflicht ist es, zu handeln – und wenn er es nicht kann --- abzutreten.
DIE HAUPTVERANTWORTUNG liegt aber nicht bei Eli Yishai, sondern bei Benyamin Netanyahu. Er ist es, der diesen Taugenichts für diesen Job ernannte, genau wie er Avigdor Lieberman als Außenminister und Limor Livnat als Kultusministerin ernannte. Und all die anderen Minister, von denen die meisten ihren Aufgaben nicht gewachsen waren.
Netanyahus eigenes
Verhalten während der Krise, in der das ganze Land tagelang
am TV klebte jede Stunde jedes Tages, grenzte an
eine Farce. Während die Feuerwehrleute alles taten, um das Feuer zu
löschen, war er damit beschäftigt, die wachsende Kritik an ihm zu löschen. Er
eilte von Ort zu Ort, umgeben nicht nur von einem Ring Leibwächter, sondern von
einem noch größeren Ring von Photographen. Er machte sich selbst mit jeder
möglichen Pose unsterblich , jede
perfekt inszeniert, indem er dem
Beispiel des Präsidenten von Chile
während der Rettungsarbeiten der Minenarbeiter folgte. Er sprach und sprach, und
von jedem Wort ging ein starker Geruch von Schwindel aus.
Nichts war spontan, nichts
kam von Herzen. Alles war Pose,
nichts Ernsthaftes. In einem Moment
vertraute er dem Sicherheitsminister für Inneres
Yitzhak Aharanovitch die Verantwortung für die ganze Operation an, im
nächsten Moment vergaß er ihn, als wäre er nie da gewesen. Der Höhepunkt der
Komödie war erreicht, als er die Bürgermeisterin von Netanya mit dem passenden
Namen Miriam Feierberg ( Feuerberg)
als Sonderkommissarin für die
Wiedergutmachung ernannte. Es war die Blitzidee eines Moments, ohne jemanden um
Rat zu fragen, ohne irgendeine Stabsarbeit ( es gab ja keinen Stab) . Selbst
seine engsten Mitarbeiter waren überrascht. Zwei Tage später nahm er ihren
Rücktritt an.
Netanyahu erfand auch
Ersatz für eine Untersuchungskommission: eine Pressekonferenz.
Aber anscheinend kannte
Netanyahu seine Leute. Die Umfragen zeigen, dass ein großer Teil der
Öffentlichkeit tief von seiner
dynamischen Führung beeindruckt war.
ABER JENSEITS
des Versagens der einzelnen Politiker, die als Führer posierten, ist ein
erschreckendes Bild des ganzen regierenden Establishments entlarvt worden.
Einen Augenblick lang wurde
der Vorhang der Medienschmeichler, der PR-Experten und gemischten Arschlecker,
die eine künstliche Realität schufen, hochgezogen. Das Bild, das aufgetaucht
war, ist ein totales Chaos. Die Flammen warfen ein Licht nur auf
einen zufälligen Teil – die Feuerwehr – aber zweifellos besteht in fast
allen anderen Abteilungen der Regierung eine ähnliche Situation, vom
Militär-Establishment bis zum Bildungswesen.
Bis jetzt vermuteten wir.
Jetzt wissen wir es sicherlich.
Was in dieser Woche für
alle aufgedeckt wurde, war eine schockierende Landschaft von Inkompetenz und
Unfähigkeit, Verantwortungslosigkeit und Verhüllung, Mangel an Planung,
Mangel an Voraussicht,
Mangel an Zusammenarbeit der verschiedenen Regierungsämter. Viele Jahre von
Parteikorruption haben zu einer Situation geführt, wo bei jeder wichtigen
Knotenpunkt die falsche Person auf der falschen Stelle sitzt. Das Verbrechen
„politischer Ernennungen“ hat den Beamtenapparat unfähig gemacht.
Der Mangel einer wirksamen
Feuerwehr, wie in dieser Woche vom
staatlichen Rechnungsprüfer
beschrieben wurde, ist nur ein Symptom der Krankheit. Es wurde nicht erst in
dieser Woche entdeckt und nicht in diesem Jahr. Schon vor 42 Jahren am 10. Juni
1968 warnte ich die Knesset vor dieser Situation und forderte, eine nationale
Feuerwehr zu errichten, wie die nationale Polizei, mit einem einzigen
Kommandeur und einem ständigen Generalstab. Das Establishment ignorierte
den Vorschlag, Genau so die Medien. Nichts brannte – bis der
Carmelberg zu einem Flammeninferno wurde.
Wir wissen schon, dass
dieselbe Situation im Bildungssystem herrscht, das eine Generation von
Ignoranten erzieht, wie es vor einer Woche von PISA , einer autoritativen
internationalen Studie aufgedeckt wurde. Die Schüler des „jüdischen Staates“ die
Söhne und Töchter des „Volkes des Buches“, das immer stolz auf seine überlegene
Intelligenz war, ist nun unter dem
Durchschnitt von Entwicklungsländern.
Wir wissen nicht, was in
der Armee tatsächlich geschieht, deren Offiziere, durch einen Verteidigungsring
von Armeesprechern und Armeelügnern, Zensoren und
kriecherischen Journalisten, die „Militärkorrespondenten“,
gedeckt werden. Der 2.
Libanonkrieg enthüllte das Bild
eines Militärs, das nicht viel besser war als die Feuerwehr in dieser Woche. Es
ist bekannt, dass der gegenwärtige Stabschef Gabi Ashkenazi die Armee
„rehabilitiert“ habe. Jeder weiß das. Woher weiß man das?
Keiner von außen hat dies kontrolliert.
Um Israel in einen modernen
Staat zu verwandeln, benötigen wir eine allgemeine Veränderung des ganzen
Establishments. Statt uns mit leeren Slogans zu beschäftigen, wie „ein jüdischer
und demokratischer Staat“, sollten wir sehen, dass Israel vor allem
ein Staat wird, der fähig ist, für die Sicherheit und das Wohlbefinden
seiner Bürger zu sorgen – und zwar aller seiner Bürger.
DAS BRINGT uns direkt zu
der umgestürzten Wasserpfeife ( im
palästinensisch-arabisch Nargileh genannt).
Vom ersten Augenblick an
machte ich mir Sorge, dass das Feuer eine große rassistische Flamme auslösen
würde. Schließlich brach das Feuer in der Nähe eines
arabischen Ortes aus (Ja,
Drusen sind auch Araber). Ich fragte mich, wie lange es dauern wird, bis die
Rassisten mit einander
konkurrieren, um diese Gelegenheit auszunützen?
Zunächst war ich positiv
überrascht. Auf viele Art und
Weisen brachte die Katastrophe die positivsten Seiten der israelischen
Gesellschaft zu tage, die in normalen Zeiten verborgen sind.
Auch in diesem Gebiet herrschte eine
ungewöhnliche Zurückhaltung. Der normale Menschenverstand sagt sich, dass
auch der wildeste Terrorist nicht
in der Nähe seines eigenen Heimes
ein Feuer entzünden würde.
Aber die Polizei – die
sehr anti-arabisch eingestellt ist – konnte sich
auch zwei Tage lang nicht zurückhalten. Auf der Höhe der Katastrophe, als
die Öffentlichkeit vor dem Fernseher klebte und die Emotionen wie die Flammen im
Wald hoch gingen, veröffentlichte die Polizei
eine sensationelle Nachricht: sie hatte zwei arabische Jungen, 14 und 16,
gefangen, die an der ganzen Sache
schuldig seien.
Selbst wenn diese
Nachrichten irgendeine Grundlage
gehabt hatten, hätte man damit zwei oder drei Tage warten können, bis die
Flammen gelöscht waren. Aber die
Polizei war in Rage .
Sie verkündete mit lauter
Stimme, die beiden Jungen hätten
ein Picknick gehabt und dabei sei ihre Nargileh umgefallen. Das ist eine sehr
zweifelhafte Geschichte. Doch selbst, wenn beiden Brüder unbeabsichtigt durch
Unachtsamkeit das Feuer verursacht hatten, muss man sie dann als
Schwerverbrecher behandeln: sie brutal aus ihrem Haus, mitten vom Mittagessen
mit ihrer Familie zerren, sie hart
verhören, um sie dahin zu bringen,
sich gegenseitig zu beschuldigen? Am Ende wurden sie entlassen, und die Polizei
grabschte sich einen anderen
16jährigen Jungen. Das Verhalten
der Polizei war sehr anders, als
vor einiger Zeit eine Gruppe Yeshiva-Studenten unabsichtlich ein großes Feuer
auf den Golanhöhen verursachten.
DAS EREIGNIS hat
tatsächlich ein rassistisches Gesicht, aber aus einer ganz anderen Perspektive.
Rassismus spielte eine größere Rolle darin.
Das Feuer begann in der
Nähe von Ussafiyeh, einer drusischen Örtlichkeit mit 10600 Einwohnern, in der
es anscheinend keine Feuerwehrstation gab. Es gab auch keine im
benachbarten drusischen Ort Daliat-al-Carmel mit
15 500 Einwohnern. Die arabischen Gemeinden, die auf den meisten Gebieten
diskriminiert werden, werden auch auf diesem Gebiet
benachteiligt.
In dieser Woche rächte sich
der Rassismus. Wenn es in den drusischen Orten Feuerwehrstationen gegeben hätte,
hätte das Feuer in kurzer Zeit gelöscht werden können – trotz des Ostwindes und
der trockenen Bäume - bevor es sich zu einer tödlichen Katastrophe entwickelte.
Die Ussafiye Station hätte das ganze Carmelgebiet, in dem immer Brandgefahr
besteht, verteidigen können. Lies die Episode des Propheten Elia und der
Propheten des Baal auf dem Carmel ( 1. Köm.18,38) „dann fiel das Feuer vom
Himmel…“ Aber vielleicht hat Eli Yishai und seine Leute nicht
so oft die Bibel gelesen wie dieser Atheist.
Die Vernachlässigung der
drusischen Ortschaften haben eine dramatische Wirkung auf unsere Fähigkeit
gehabt, das Feuer auf dem Carmel zu löschen.
Die 42 Opfer zahlten wegen des Rassismus’ mit ihrem Leben.
DAS FEUER war eine Art
Generalprobe. In Israel sagt man nicht „falls ein Krieg ausbricht“,
sondern eher „wenn der nächste Krieg ausbricht“. Es ist ziemlich sicher,
dass wenn der nächste Krieg ausbricht, das Carmelfeuer eine kleine Sache sein
wird. Tausende von Raketen werden auf alle Teile Israels fallen und gleichzeitig
viele Feuer verursachen.
Keiner ist bereit dafür. Dieselbe Regierung, die alle Friedensbemühungen sabotiert und uns zum Krieg führt, ist für keinen Krieg vorbereitet – auf keiner Ebene.
Selbst ohne diese Gefahr
wird deutlich, dass das politische Establishment nichts weniger als
eine große Generalüberholung nötig hätte . Das ist unmöglich mit Typen
wie Eli Yishai und seinem Meister, dem Rabbi Ovadia Yossef, der in dieser Woche
erklärte, dass die mutige Polizei-Offizierin Ahuva Tomer und die 41
Kadetten, die von dem Feuer getötet wurden, deshalb starben, weil sie den
Schabbat gebrochen hätten. Es ist auch unmöglich mit Typen wie Benyamin
Netanyahu und seinem Kabinett noch
mit der sog. „Opposition“.
Was
jetzt dringend nötig wäre, wäre nichts weniger als ein Aufwachen der
„schweigenden Mehrheit“. Sie muss verstehen, dass bei ihrer Gleichgültigkeit sie
nicht weniger schuldig ist als die Politiker, die schließlich von ihr gewählt
worden ist. Nichts wird sich bewegen, wenn nicht die passive
Öffentlichkeit aktiv wird: Massenproteste, große Demonstrationen,
gemeinsame Aktionen mit Intellektuellen und anderen. Nur so kann die zivile
Gesellschaft sich durchsetzen und eine totale Überholung voranbringen, die zu
einer brennenden Notwendigkeit wird.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)