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Der Veteran-Friedensaktivist Uri Avnery:

Israel will, dass die Bevölkerung des Gazastreifens Hamas stürzt

 

Mazal Mualem, Haaretz, 7.6.10

 

A. Benyamin Netanyahu lügt, wenn er sagt, die Gazablockade besteht, um den Transfer von Waffen nach Gaza zu verhindern, sagt Avnery zu Haaretz.

Der Journalist und frühere Knessetabgeordnete Uri Avnery ist einer der prominentesten politischen Aktivisten, die sich mit dem israelischen Friedenslager identifizieren. Wie es seit Jahrzehnten die Gewohnheit des 86-Jährigen war, hat er auch die Demonstration der Linken in Tel Aviv  am Samstagabend nicht versäumt. Sie protestierte gegen das Vorgehen der Regierung gegen die Flotille, die letzte Woche nach Gaza Hilfsgüter bringen wollte.

 

M. Man sagt, es hätten 6000 an der Demo teilgenommen. Ist das israelische Friedenslager tatsächlich eine zu vernachlässigende Minderheit?

A.Diese Zahl ist falsch. Es waren mindestens doppelt so viele Demonstranten. Und das ist eine große Menge, wenn man  die unvergleichliche Gehirnwäsche berücksichtigt, die das Land letzte Woche über sich ergehen lassen musste, als eine  fast totalitäre Propagandamaschine nur ein einziges Foto und eine einzige Geschichte wiederholte und die Leute daran hinderte, noch etwas anderes zu sehen und zu hören.  Wir sahen kaum etwas anderes außer ein paar Minuten, die von den IDF aufgenommen und  vom IDF-Bürosprecher herausgegeben wurden. Die von den Journalisten aufgenommenen Filme waren konfisziert worden . Man mag fragen: Warum? Wovor fürchten sie sich?

 

M. Die von der IDF  und den türkischen Medien veröffentlichten Bilder zeigen deutlich, wie die israelischen Marinesoldaten angegriffen, vom Deck geworfen wurden und bluteten. Sagen Sie, dass diese Fotos fabriziert waren?

 

A. Die Lücke wird dadurch geschaffen, dass man nur zwei Minuten  der ganzen Filmlänge sieht. Man sieht nicht, was voraus ging und was danach kam. So ist es möglich, dass man den Eindruck gewinnt, die Türken  hätten ein jüdisches Schiff angegriffen. Man stelle sich vor: Juden  wären in Not und würden auf hoher See angegriffen und es gäbe Tote und Verletzte – man stelle sich nur die Aufregung vor. Nicht nur die Türken sehen dies als israelischen Angriff, sondern die ganze Welt.

 

M. Sind Sie davon überzeugt, dass dies eine Flotille mit Hilfslieferungen war?

 

A.Zweifellos. Die Absicht der israelischen Regierung ist es, eine Krisis zu schaffen, die so schrecklich ist, dass die Menschen im Gazastreifen die Hamas stürzt. Inzwischen sind vier Jahre vergangen, und die Hamas ist stärker als zuvor? Welchen Sinn hat die Belagerung? Für was ist sie gut? Wenn die israelische Regierung die armen Soldaten nicht zum Angriff auf das Schiff geschickt hätte, genau so wie der Kabinettssekretär  (Zwi Hauser) vorgeschlagen hatte, hätte all dies verhindert werden können. Sie hätten die Schiffe stoppen, sie durchsuchen können und weiterfahren lassen. Mir scheint, wir müssen die Soldaten vor dem Verteidigungsminister Ehud Barack und Benjamin Netanyahu schützen.

 

M.    Als Netanyahu dies eine Haßflotille nannte, hat er damit gelogen?

A.    Nicht nur Netanyahu, auch die Minister und einige Leute in Uniform: der Stabschef der Armee und der Kommandeur der Flotte. In jedem ordentlich geführten Land würde der Armeechef noch in derselben Nacht seinen Posten aufgegeben haben. Die Operation selbst reflektiert einen erstaunlichen und verheerenden Mangel an militärischen Fähigkeiten. Was ist das für eine Armee, deren Admiral persönlich solch eine törichte Aktion  befiehlt. Ich war Soldat, und ich kann mich nicht erinnern, dass mich einer meiner Kommandeure in solch eine idiotische Situation gebracht hat. Eine Person, die, solch einen Befehl gibt, solle  unsere Soldaten  nicht anführen.

M.    Und das immer mehr werdende Beweismaterial, dass die Flotille eine Provokation von Terroristen war, überzeugt Sie nicht?

A.    Die Geschichte beginnt mit der Tatsache, dass Israel  ein türkisches Schiff angegriffen hat, weil es Hilfe brachte. Das Schiff wurde angegriffen, und die Soldaten taten, was sie taten. Schließlich haben wir dies auch  mit der Exodus erfahren, als britische Soldaten angriffen und die illegalen Immigranten sich  so verteidigten, wie sie konnten. Drei Immigranten wurden getötet und Dutzende verletzt. Das war der Anfang vom Ende des britischen Mandats nur acht Monate später.

M. Wenn sie diese Parallele, die sie gerade machten, weiterführen, was sagt das über uns?

A.    Parallele? Damals gab es einen britischen Regierungsminister mit Namen Ernest Bevin, der dumm und grob war. Und nun haben wir einen Verteidigungsminister, der dumm und grob ist. Wir werden von einer Bande Idioten geführt. Nach der letzten Woche hat  eine große Veränderung auf dem Weg zur Beendigung der Besatzung und der Belagerung von Gaza stattgefunden. Es ist eine Belagerung, die sich auf Lügen gründet und in Dummheit verpackt ist.

Benjamin Netanyahu sagte, die Belagerung bestehe, um den Waffenschmuggel nach Gaza zu verhindern. Dies ist ein Lüge. Er verhindert den Zugang von Nudeln, Früchten, Kinderspielzeug und Papier für Bücher. Der Schaden für Israels Ansehen ist in dieser Woche größer, als der Schaden, der durch die Operation Cast Lead verursacht wurde. Ich bekomme Botschaften von liberalen Juden im Ausland und sie sehen dies als  eine Katastrophe an. Wir gehen wie die von Blindheit geschlagenen Leute von Sodom weiter, und die Hasswelle gegen Israel wird immer stärker.

 

M. Ist es möglich, dass aus dieser schlimmen Situation etwas Gutes wachsen könnte, wie damals bei dem Exodusvorfall?

 

A.    In Goethes “Faust”  erscheint Satan und sagt: ‚Ich bin ein Teil von jener Macht, die stets das Böse will und stets das Gute schafft’. Es könnte sein, dass paradoxerweise aus dem Bösen etwas Gutes werden kann.

 

M. Wer wird führen? Schließlich hat die Linke keine politische Führung.

A.    Das ganze Desaster  in Israel begann mit Ehud Barak, der sich selbst zum Chef des Friedenslagers erklärte. Er ging unvorbereitet nach Camp David und versagte. Als er zurückkehrte, sagte er nicht, dass die Verhandlungen weitergehen. Stattdessen sagte er, er habe jeden Stein auf dem Weg zum Frieden umgedreht; wir haben keinen Partner. Diese Worte verursachten eine Katastrophe, von der wir uns noch nicht erholt haben.

 

Aber vielleicht – auf Grund dieses Vorfalls – werden Leute jetzt, die bis jetzt am Rande standen, verstehen, dass wir ein existentielles Problem haben. Ich sehe die Demonstration von Samstagabend als ein neues Erwachen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Wir sind in einer Situation, in der das politische System sehr gespalten ist. Wir sahen letzte Woche in der Knesset, das Kadima  nicht eine Version von Likud ist; sie ist sogar schlimmer. Ich war zehn Jahre  Knessetmitglied und kann mich nicht an solch eine blamable Szene erinnern: physische Angriffe auf ein arabisches Knessetmitglied von fast allen jüdischen Mitgliedern, begleitet von Schreien rassistischer und sexistischer Bemerkungen.

 

M. Und die arabischen Knessetmitglieder beteiligten sich nicht an diesem Aufruhr?

  1. Es gab eine Polarisation auf beiden Seiten. Aktionen verursachen Gegenreaktionen.

Es ist ein Teufelskreis, wenn das Parlament an solch einen Tiefpunkt gerät. Ich suche nach dem richtigen Wort:  es ist ein parlamentarischer Haufen. Es erschreckt mich aufs Neue. Es ist ein Todesstoß für die parlamentarische Demokratie.

 

M. Hat der türkische Ministerpräsident Erdogan die Region aufgewiegelt?

  1. Das ist ein Teil der Dummheit. Wir hatten Jahrzehntelang einen  sehr wichtigen Freund im Nahen Osten: die türkische Armee. Die türkische Politik hat sich in den letzten zwei Jahren verändert. Die Türkei wünscht selbst, die Position einer nahöstlichen Supermacht zu haben und  wollte zwischen Israel und der muslimischen Welt vermitteln. Und nehmen wir an, dass wir es nicht  gern sehen, dass die Türkei sich dem Iran nähert. Was haben wir getan? Wir haben die ganze Türkei im Hass gegen Israel  geeinigt. War es das wert?

 

  (dt. Ellen Rohlfs)