„Gegossenes Blei“ Nr. zwei
Uri Avnery, 26.12.09
HABEN WIR
gewonnen? Morgen ist der erste Jahrestag des Gazakrieges, auch Operation
„Gegossenes Blei“ genannt. Diese Frage
bestimmt die öffentliche
Debatte.
Innerhalb
des israelischen Konsens’ ist die Antwort schon gegeben worden: Sicher haben wir
gewonnen. Es kommen keine Kassamraketen mehr.
Eine
einfache, um nicht zu sagen, primitive Antwort. Aber so sieht es für den
oberflächlichen Betrachter aus. Es gab die Kassamraketen – dann führten wir
Krieg, und danach gab es keine Kassamraketen mehr. Sderoth floriert, die
Bewohner von Beer Sheva gehen ins Theater. Alles andere ist für
Philosophieprofessoren.
Aber jeder,
der die Folgen dieses Krieges
verstehen will, muss ein paar schwierige Fragen stellen.
War es
wirklich das Ziel des Krieges, die Kassamraketen zu stoppen? Hätte dies
nicht auch auf andere Weise
erreicht werden können? Wenn es andere Ziele gegeben hat, welches waren
diese? Ist die Endbilanz positiv
oder negativ, was die Interessen Israels betrifft ?
MIR TUN die
Historiker leid. Sie müssen Dokumente genau untersuchen, Protokolle sorgfältig
durchlesen, Texte enträtseln.
Dokumente
können in die Irre führen. Wenn Talleyrand (oder
wer immer es war) Recht hatte, als er sagte, Worte wurden erfunden, um
Gedanken zu verbergen, dann trifft dies für Dokumente noch mehr zu. Dokumente
verfälschen Fakten, verbergen Fakten, erfinden Fakten – je nach den Interessen
des Schreibers. Sie enthüllen
etwas, um den Rest zu verbergen. Jeder, der einmal mit öffentlichen
Angelegenheiten zu tun hatte, kennt
dies.
Deshalb
lasst uns die Protokolle ignorieren. Welches waren die wirklichen Ziele
derjenigen, die den Krieg begonnen hatten? Ich denke, es waren folgende, die der
Reihe nach abnehmende Bedeutung haben:
Prüfen wir
die Ergebnisse, eines nach dem anderen.
IN DIESER
Woche versammelten sich Hunderttausende der Gazastreifenbewohner zu einer
Demonstration, um die Hamas zu unterstützen. Den Fotos nach zu urteilen, waren
es 200 000 bis 400 000. Wenn man berücksichtigt, dass es
dort etwa 1,5 Millionen Einwohner gibt und die meisten von ihnen Kinder
sind, dann war dies eine eindrucksvolle Beteiligung – besonders im Hinblick auf
das Elend, das durch die israelische Blockade verursacht wurde, die das ganze
Jahr anhielt. Dazu kommen die zerstörten Häuser, die noch nicht wieder aufgebaut
werden konnten. Diejenigen, die glaubten, dass der Druck auf die Bevölkerung
einen Aufstand gegen die Hamas verursachen würde, haben sich getäuscht.
Geschichtskenner wären nicht
überrascht. Wenn ein Volk von einem äußeren Feind angegriffen wird, schließt es
sich hinter seinen Führern zusammen, egal wer sie sind. Schade, dass unsere
Politiker und Generäle keine Bücher lesen.
Unsere
Kommentatoren porträtieren die Bewohner des Gazastreifens so, als schauten sie
neidisch auf die florierenden Läden in Ramallah. Diese Kommentatoren leiten auch
Hoffnung aus den Meinungsumfragen ab, die darauf hindeuten, dass die Popularität
der Hamas in der Westbank abnehme. Wenn dies so wäre, warum fürchtet sich dann
die Fatah, Wahlen durchzuführen, selbst nachdem alle Hamasaktivisten dort schon
ins Gefängnis geworfen wurden?
Es scheint,
als ob die meisten Leute im Gazastreifen
mehr oder weniger mit dem
Funktionieren der Hamasregierung zufrieden sind. Trotz des elenden Lebens mögen
sie auch stolz auf ihre Standhaftigkeit sein. Es herrscht Ordnung auf den
Straßen, Verbrechen und Drogen nehmen ab. Hamas versucht vorsichtig, eine
religiöse Agenda im täglichen Leben einzuführen, und es scheint so, als störe
das die Öffentlichkeit nicht.
Das
Hauptziel der Operation ist völlig daneben gegangen.
DAS ZWEITE
Ziel ist andrerseits erreicht worden. Die Olmert-Regierung, die im 2.
Libanonkrieg das öffentliche Vertrauen verlor, erlangte dies im Gazakrieg wieder
zurück. Das hat zwar Olmert selbst nichts geholfen – er musste zurücktreten,
weil er eine Wolke von Korruptionsaffären um seinen Kopf schweben hatte.
Die Armee
hat ihr Selbstvertrauen wieder erlangt. Sie hat bewiesen, dass die militärischen
Defizite, die bei jedem Schritt im Libanonkrieg ans Licht kamen, oberflächlich
waren. Die Öffentlichkeit glaubt, dass die Armee im Gazastreifen gut
funktioniert hat. Die Tatsache, dass im Ganzen nur sechs israelische Soldaten
durch feindliches Feuer getötet wurden,
aber mehr als ein Tausend
Leute auf der anderen Seite starben,
hat diesen Glauben bestärkt. Nur wenige Leute werden von moralischen
Skrupeln geplagt.
DIE FRAGE,
ob das dritte Ziel erreicht worden
ist, ist eng verknüpft mit einer
anderen Frage. Wer hat den Krieg militärisch gewonnen?
In einem
Krieg zwischen einer regulären Armee und einer Freischärlergruppe ist es
schwierig zu entscheiden, wer gesiegt hat. Bei einer klassischen Schlacht
zwischen Armeen wird angenommen, dass der Sieg denen gehört, die nach dem Kampf
auf dem Schlachtfeld bleiben. Offensichtlich kann man dies bei einem
asymmetrischen Kampf nicht sagen. Die israelische Armee wollte nicht im
Gazastreifen bleiben – im Gegenteil, sie
war daran interessiert, solch eine Möglichkeit zu vermeiden.
Einige
behaupten, die Hamas habe den Krieg gewonnen: wenn eine kleine Gruppe schlecht
bewaffneter Guerillas ganze drei Wochen gegen eine der stärksten Armeen der Welt
durchhalten kann, dann bedeutet das einen Sieg. Da steckt eine Menge Wahrheit
drin.
Auf der
andern Seite ist die Abschreckungskraft der Armee gewiss wieder hergestellt
worden. Alle palästinensischen Fraktionen und alle arabischen
Kräfte im Allgemeinen wissen jetzt, dass die israelische Armee bereit
ist, bei jeder militärischen Konfrontation rücksichtslos zu töten und zu
zerstören. Ab jetzt werden
Hamasführer – wie auch Hisbollahführer - zweimal nachdenken, bevor sie Israel
provozieren.
DIE
KASSAMRAKETEN sind fast vollständig gestoppt worden. Hamas hat sogar ihre
Autorität bei den kleinen extremen Fraktionen durchsetzen können, die
anscheinend weiter machen wollten.
Zweifellos
hat die wieder hergestellte Abschreckungskraft der Armee dazu beigetragen. Aber
es stimmt auch, dass die Armee sehr darauf achtet, keine Vorfälle zu
verursachen, wie es vor Cast Lead der Fall war. Wenigstens beruht die
Abschreckung im Gazatheater jetzt auf
Gegenseitigkeit.
Es könnte
gefragt werden, ob die
Kassamraketen auch ohne Krieg hätten
gestoppt werden können? Wenn
die israelische Regierung die Hamasregierung im Gazastreifen – wenigstens de
facto - anerkannt hätte, und
geschäftliche Beziehungen mit ihnen aufgebaut
und es nicht die Blockade verhängt hätte – hätten dann die Raketen
gestoppt werden können? Ich bin davon überzeugt.
DIE
BEFREIUNG Shalits – ein sekundäres
aber wichtiges Ziel in sich – ist noch nicht erreicht worden. Wenn Shalit
befreit werden wird, dann wird dies zusammen mit einem Gefangenenaustausch
geschehen – und das sieht dann für
die Hamas wie ein großer Sieg aus.
WENN MAN all
diese Ergebnisse zusammen betrachtet, könnte man den Schluss ziehen, dass der
Krieg in etwa unentschieden ausgegangen ist.
Wenn
Goldstone nicht gewesen wäre.
Dieser Krieg
hat Israels Ruf in der Welt einen fatalen Schlag versetzt.
Ist das
bedeutsam? David Ben Gurion sagte einmal den berühmten Satz: „Es ist unwichtig,
was die Goyim sagen, wichtig ist, was die Juden tun.“ Thomas Jefferson
sagte dagegen, dass es sich keine Nation leisten könne,
nicht eine anständige Achtung vor der Meinung der Menschheit zu haben“.
Jefferson hatte Recht. „Was die Goyim sagen“ hat eine immense Auswirkung auf
alle unsere Lebensgebiete – von der
politischen Arena bis zu
Sicherheitsangelegenheiten. Der Ruf unseres Staates in der Welt ist ein
lebenswichtiger Faktor unserer nationalen Sicherheit.
Der
Gaza-Krieg – von der Entscheidung, die Armee in ein dicht bewohntes Gebiet zu
schicken, bis zur Anwendung von
weißem Phosphor- und Flechette-Munition -
hat einen dunklen Schatten
über Israel geworfen. Der Goldstone-Bericht hat mit den schaurigen Bildern, die
während des Krieges aus dem TV-Netzwerk aus aller Welt verbreitet wurden,
einen schrecklichen Eindruck hinterlassen. Hunderte von Millionen Menschen sahen
und hörten dies, und ihre Haltung gegenüber Israel hat sich verändert. Dies wird
einen weitreichenden Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen haben, auf
die Einstellung der Medien und
auf Tausende von großen und kleinen Entscheidungen, die Israel betreffen.
Fast all
unsere Sprecher und Journalisten vom Präsidenten bis zum letzten
TV-Talkshowmeister plapperten wie Papageien nach, der Goldstone-Bericht sei
„einseitig“, „niederträchtig“ und „verlogen“. Aber die Leute rund um die Welt
wissen, dass es ein Bericht ist, wie er ehrlicher nicht hätte sein können,
nachdem unsere Regierung entschieden hat, die Untersuchung zu boykottieren. Der
Schaden wächst von Tag zu Tag. Einiges ist nicht wieder gut zu machen.
Es ist
unmöglich, die Folgen des Krieges zu messen, ohne diese Tatsachen mit auf die
Wagschale zu legen. Das Ergebnis: der Schaden, den wir uns durch den Krieg
selbst zufügten, ist größer als jeder Vorteil.
Einige Leute
unserer Führung akzeptieren diese Schlussfolgerung schweigend. Aber es fehlt
nicht an Stimmen – in der Führung und auf der Straße – die
offen davon reden, Cast Lead 2 sei nur eine Zeitfrage.
Eine
Redewendung, die man Bismarck zuschreibt, sagt: „Toren lernen aus der eigenen
Erfahrung, kluge Leute lernen aus der Erfahrung anderer.“ Zu welchen Leuten
gehören wir?
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)