Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
21.
Februar 2015
ANTISEMITISMUS
nimmt zu. In ganz Europa erhebt er seinen hässlichen Kopf. Juden sind überall in
Gefahr. Sie müssen sich schnell aufmachen und nach Hause nach Israel kommen,
bevor es zu spät ist.
Stimmt das?
Oder stimmt es nicht?
Unsinn.
PRAKTISCH
HATTEN alle alarmierenden
Ereignisse, die kürzlich in Europa stattfanden – besonders in Paris und
Kopenhagen – und bei denen Juden getötet oder angegriffen wurden, nichts mit
Antisemitismus zu tun.
All diese
Gewalttaten wurden von jungen Muslimen begangen, die meistens von arabischer
Abstammung sind. Sie waren ein Teil des fortwährenden Krieges zwischen Israelis
und Arabern; das hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie haben nichts mit dem
Pogrom in Kishinew und nichts mit den
Protokollen der Weisen von Zion zu tun.
Theoretisch
ist arabischer Antisemitismus ein Widerspruch , da Araber Semiten sind.
Tatsächlich mögen die Araber semitischer sein als Juden, weil Juden sich seit
vielen Jahrhunderten mit der einheimischen Bevölkerung des Landes, in dem sie
lebten vermischt haben.
Aber der
deutsche Publizist Wilhelm Marr, der wahrscheinlich den Terminus Antisemitismus
1880 erfunden hat (nachdem er den Terminus Semitismus sieben Jahre vorher
erfunden hatte) ist natürlich in seinem Leben keinem Araber begegnet. Für ihn
waren nur die Juden Semiten, und sein Feldzug war nur gegen sie gerichtet.
(Adolf Hitler,
der seinen Rassismus ernst nahm, wandte ihn gegen alle Semiten an. Er konnte
auch Araber nicht ausstehen. Im Gegensatz zur Legende lehnte er den nach
Deutschland geflohenen Großmufti von Jerusalem, Hadj Amin al-Husseini, ab. Nach
einem Treffen mit ihm zu einem Fototermin, der von der Nazi-Propagandamaschine
arrangiert worden war, war er nie damit einverstanden, ihn wieder zu treffen.)
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WARUM ALSO
schießen junge Muslime in Europa auf Juden, nachdem sie Karikaturisten
töten, die den Propheten beleidigt hatten?
Experten
sagen, dass der Hauptgrund ihr tiefer Hass
gegen ihr Gastland sei, in dem sie sich - wohl zu Recht – verachtet,
gedemütigt und diskriminiert fühlen. In Ländern wie Frankreich, Belgien,
Dänemark und vielen andern braucht ihre gewalttätige Wut ein Ventil.
Aber warum
gegenüber den Juden?
Da gibt es
mindestens zwei Hauptgründe.
Der erste ist
lokal. Französische Muslime sind meistens Immigranten aus Nordafrika. Während
des verzweifelten Kampfes für algerische Unabhängigkeit sympathisierten fast
alle algerischen Juden mit dem Kolonialregime gegen die lokalen
Freiheitskämpfer. Als alle Juden und viele Araber aus Algerien nach Frankreich
auswanderten, brachten sie ihren Kampf mit sich. Da sie jetzt in den
übervölkerten Ghettos rund um Paris
und anderswo nebeneinander wohnen, lebt ihr gegenseitiger Hass weiter, und führt
oft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Der zweite
Grund ist der fortwährende arabisch-zionistische Konflikt, der mit
der Masseneinwanderung der Juden ins arabische Palästina begann und sich
mit der langen Liste von Kriegen fortsetzte und jetzt in voller Blüte steht.
Praktisch ist jeder Araber in der
Welt und die meisten Muslime gefühlsmäßig mit dem Konflikt verbunden.
Aber was haben
französische Juden mit dem weit entfernten Konflikt zu tun? Alles.
Da
Benjamin Netanjahu keine Gelegenheit versäumt, zu erklären, dass er alle
Juden auf der Welt vertritt, macht er alle Juden der Welt für die israelische
Politik und ihre Aktionen mit verantwortlich.
Wenn jüdische
Institutionen sich in Frankreich, den US und anderswo
total und unkritisch mit der Politik und den Operationen Israels, wie den
letzten Gazakrieg identifizieren, machen sie sich freiwillig selbst zu
potentiellen Opfern von Rache-akten. Die französisch-jüdische Führung, CRIF, tat
es gerade jetzt.
Keine dieser
Gründe hat etwas mit Antisemitismus zu tun.
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ANTISEMITISMUS
ist ein integraler Teil der europäischen Kultur.
Viele Theorien
sind vorgebracht worden, um dieses total unlogische Phänomen zu erklären, das an
eine kollektive psychische Erkrankung grenzt.
Meine eigene
bevorzugte Theorie ist religiöser Art. In ganz Europa und jetzt auch in beiden
Amerikas hören christliche Kinder in ihren prägenden Jahren die Geschichten des
Neuen Testamentes. Sie lernen, dass ein jüdischer Mob nach dem Blut Jesu (Math.
27,26), dem sanften und milden Prediger, schrie, während der römische Präfekt
Pontius Pilatus verzweifelt versuchte, sein Leben zu retten. Der Römer wird als
menschliche, liebenswürdige Person dargestellt, während die Juden als ein
gemeiner, verachtenswerter Mob angesehen werden.
Diese
Geschichte kann nicht wahr sein. Die römischen Herrscher pflegten im ganzen
römischen Reich potentielle Unruhestifter zu kreuzigen. Das Verhalten der
jüdischen Behörden in der Geschichte entspricht nicht dem jüdischen Gesetz. Aber
die Geschichte im Neuen Testament wurde lang nach dem Tode Jesu (sein Name auf
Hebräisch lautet Jeshua) geschrieben und war für eine römische Zuhörerschaft
gedacht, die die Christen zu missionieren versuchte – im heißen Wettbewerb mit
jüdischen Missionaren.
Auch
das: die frühen Christen waren eine kleine verfolgte Sekte im jüdischen
Jerusalem und ihr Groll lebt (bei
Evangelikalen und anderen Fundamentalisten) bis zum heutigen Tage fort.
Das Bild der
bösen Juden, die für den Tod Jesu schrien, hat sich unbewusst in das Gedächtnis
der christlichen Menge eingeprägt und Judenhass in jeder neuen Generation
geweckt. Die Folgen waren Morde, Massenvertreibungen, Inquisition, Verfolgung in
jeder Form, Pogrome und schließlich der Holocaust.
SO ETWAS hat
es niemals in der muslimischen Geschichte gegeben.
Der Prophet
hatte einige kleine Kriege mit den benachbarten jüdischen Stämmen, aber der
Koran enthält strikte Anweisung, wie man mit Juden und Christen, den „Völkern
des Buches“ umgehen soll. Sie sollten fair behandelt werden und waren vom
Militärdienst befreit, sollten dafür aber eine Kopfsteuer zahlen. Während der
Jahrhunderte gab es selten hier und da anti-jüdische (und anti-christliche)
kriegerische Ausbrüche, aber Juden lebten in muslimischen Ländern
unvergleichlich 3
besser als in
christlichen.
Wenn es nicht
so gewesen wäre, hätte es nie ein „Goldenes Zeitalter“, eine muslimisch-jüdisch
kulturelle Symbiose im mittelalterlichen Spanien gegeben. Es wäre
für das muslimisch-ottomanische Reich
unmöglich gewesen, die Hundert-Tausenden jüdischer Flüchtlinge aus dem
mittelalterlichen Spanien aufzunehmen, die von ihrer katholischen Majestät
Ferdinand und Isabella vertrieben worden waren. Der herausragende jüdisch
religiöse Denker Moses Maimonides (der „Rambam“) hätte nicht der persönliche
Arzt und Berater des hervorragenden
muslimischen Sultan Salah-al-Din al-Ayubi (Saladin) werden können.
Der
gegenwärtige Konflikt begann als Zusammenstoß zwischen zwei großen nationalen
Bewegungen, dem jüdischen Zionismus und dem säkularen arabischen Nationalismus,
und hatte nur schwache religiöse Obertöne. Wie meine Freunde und ich viele Male
gewarnt haben, ist es jetzt zu einem religiösen Konflikt geworden – eine
Katastrophe mit möglichen ernsten Konsequenzen.
Das hat nichts
mit Antisemitismus zu tun.
WARUM
ALSO besteht die ganze israelische
Propagandamaschinerie, einschließlich aller israelischen Medien darauf, dass
Europa einen katastrophalen Anstieg von Antisemitismus erlebt? Um die
europäischen Juden nach Israel zu rufen (In der zionistischen Terminologie:
„Aliya machen“)
Für einen
wahren zionistisch Gläubigen ist die Ankunft jedes Juden ein ideologischer Sieg.
Es ist egal, dass einmal in Israel neue Immigranten – besonders aus Ländern wie
Äthiopien und der Ukraine -
vernachlässigt werden. Wie ich oft
zitiert habe: „Die Israelis lieben die Immigration- aber nicht die Immigranten“.
Als Folge der
letzten Ereignisse in Paris und Kopenhagen hat Benjamin Netanjahu öffentlich die
französischen und dänischen Juden aufgerufen, einzupacken und
um ihrer eigenen Sicherheit willen sofort nach Israel zu kommen. Die
Ministerpräsidenten beider Länder haben wütend gegen diese Aufrufe protestiert,
die den Anschein wecken, dass sie nicht bereit oder nicht willens seien, ihre
eigenen Bürger zu schützen. Ich vermute, dass kein Führer einen ausländischen
Politiker liebt, der seine Bürger auffordert, das Land zu verlassen.
In diesem
Aufruf liegt etwas Groteskes: Wie der verstorbene Professor Yeshayahu Leibowitz
bemerkte, ist Israel der einzige Ort in der Welt, wo jüdisches Leben ständig in
Gefahr ist. Mit einem Krieg alle zwei Jahre und gewalttätigen Vorfällen fast
jeden Tag, hatte er Recht.
Aber als Folge
der dramatischen Ereignisse mögen viele „französische“ Juden – ursprünglich aus
Nordafrika – verleitet werden, Frankreich zu verlassen. Sie werden nicht alle
nach Israel kommen. Die US, Französisch -Kanada und Australien bieten
verführerische Alternativen.
Es gibt viele
gute Gründe für einen Juden, nach Israel zu kommen: ein mildes Klima, die
hebräische Sprache, das Leben unter Juden und anderes mehr. Aber kein Weglaufen
vor dem Antisemitismus.
GIBT ES in
Europa wirklichen Antisemitismus? Ich vermute, dass es ihn gibt.
In vielen
europäischen Ländern sind alte und neue supernationalistische Gruppen, die die
Massen durch Hass auf den anderen anzuziehen versuchen. Juden sind (mit Sinti
und Roma) die Anderen par Excellence. Eine ethnisch-religiöse Gruppe, die über
viele Länder verteilt ist, die zu ihren Gastländern gehört und nicht gehört, mit
fremden – und deshalb unheimlichen Glauben und Ritualen. Alle europäischen
nationalistischen Bewegungen, die im 19. Und 20. Jahrhundert entstanden, waren
mehr oder weniger antisemitisch.
Juden sind
immer – und sind es noch – die idealen Sündenböcke für die
europäischen Armen gewesen. Es war der deutsche (nicht jüdische)
sozialistische August Bebel, der sagte: „der Antisemitismus ist der Sozialismus
der Ignoranten.“
Mit häufigen
wirtschaftlichen Krisen und einer größer werdenden Diskrepanz zwischen den
lokalen Armen und den multinationalen Superreichen wächst die Notwendigkeit
eines Sündenbockes. Aber ich glaube nicht, dass diese Randgruppen,
obgleich einige nicht mehr so marginal sind, eine wirkliche
antisemitische Welle darstellen.
Egal wie es
ist, die Gewalttaten in Paris und Kopenhagen haben nichts mit Antisemitismus zu
tun.
(Aus dem Engl. Ellen Rohlfs. vom Verfasser autorisiert)
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