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Ohne Grenzen

 

Uri Avnery, 24.3.07

 

ES IST unglaublich! In den palästinensischen Schulbüchern gibt es nicht die Spur einer Grünen Linie! Sie erkennen die Existenz Israels nicht einmal  in den Grenzen von 1967 an!  Sie sagen, die „zionistische Banden“ haben das Land von den Arabern gestohlen. So vergiften sie den Verstand ihrer Kinder!

 

Diese grauenhaften Enthüllungen wurden in dieser Woche in Israel und rund um die Welt veröffentlicht. Die Schlussfolgerung ist selbstverständlich: die palästinensische Behörde, die für die Schulbücher verantwortlich ist, kann also kein Partner bei Friedensverhandlungen sein.

 

Welch eine Schock!

 

Die Wahrheit ist, dass nichts daran neu ist. Alle paar Jahre, wenn all die andern Ausreden für eine Weigerung, mit der palästinensischen Führung zu sprechen, abgetragen sind, taucht es als letztes Argument wieder auf: Palästinensische Schulbücher rufen zur Zerstörung Israels auf!

 

Die Munition wird immer von einem  der „professionellen“ Institute geliefert, die sich mit dieser Sache beschäftigen. Es sind Stiftungen  der extremen Rechten, als „wissenschaftlich“ getarnt, die großzügig von jüdisch-amerikanischen Multi-Millionären gesponsert werden. Teams von gut bezahlten Angestellten durchkämmen  jeden Text, jedes Wort arabischer Medien und Schulbücher mit dem vorherbestimmten Ziel, zu beweisen, dass sie antisemitisch sind, Hass gegen Israel predigen und zum Mord an Juden aufrufen. Im Meer der Wörter wird es nicht schwierig, passende Zitate zu finden – und  alles andere zu ignorieren.

 

Es ist also wieder einmal völlig klar: die palästinensischen Schulbücher predigen Hass gegen Israel. Sie helfen mit, eine neue Generation von Terroristen heranzuziehen. Deshalb ist es für Israel  und die Welt absolut unmöglich, die Blockade gegenüber der Palästinensischen Behörde aufzuheben.

 

 

NUN, WIE steht es denn damit auf unserer Seite? Wie sehen denn unsere Schulbücher aus?

 

Erscheint denn die Grüne Linie in ihnen? Erkennen sie das Recht der Palästinenser an, auf der anderen Seite der 1967er-Grenze einen Staat zu errichten? Lehren sie Nächstenliebe für das palästinensische Volk (oder auch nur die Anerkennung des palästinensischen Volkes) oder Respekt für die Araber im allgemeinen oder lehren sie Grundkenntnisse über den Islam?

 

Die Antwort auf all diese Fragen: Absolut nicht!

 

Vor kurzem platzte die Bildungsministerin Yuili Tamir mit einer bombastischen Ankündigung heraus: sie beabsichtige, die Grüne Linie wieder in die Schulbücher eintragen zu lassen, aus denen sie vor 40 Jahren entfernt wurden. Die Rechte reagierte wütend – und danach hörte man nichts mehr davon.

 

Vom Kindergarten bis zum Abitur lernen die israelischen Schüler nicht, dass die Araber  überhaupt ein Recht auf irgendeinen Teil dieses Land hier haben. Im Gegenteil – es ist klar, dass das Land uns allein gehört, dass Gott es uns persönlich gegeben hat, dass wir tatsächlich von den Römern nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 vertrieben worden sind (ein Mythos !), dass wir aber mit Beginn der zionistischen Bewegung zurückgekehrt seien. Seitdem versuchen die Araber immer wieder, uns zu vernichten, so wie es die Goyim (Nicht-Juden) in jeder Generation getan haben. 1936 haben uns die „Banden“ (der offizielle israelische Terminus für die Kämpfer des arabischen Aufstandes) angegriffen und uns ermordet. Und so weiter bis auf den heutigen Tag.

 

Wenn der jüdisch-israelische Schüler aus der pädagogischen Mühle entlassen wird, „weiß“ er, dass die Araber ein primitives Volk mit einer mörderischen Religion und einer erbärmlichen Kultur sind. Er nimmt diese Ansichten  mit sich, wenn er – oder sie  - ein paar Wochen später zur Armee geht. Dort wird dies automatisch  bestätigt. Die tägliche Demütigung der alten Leute und Frauen an den Kontrollpunkten – geschweige denn all der anderen – wäre sonst nicht denkbar.

 

 

DIE FRAGE IST natürlich, ob Schulbücher wirklich solch großen Einfluss auf die Schüler haben.

 

Kinder nehmen von frühester Kindheit ihre Umgebung auf, die Gespräche zu Hause, was sie im Fernsehen sehen, was sich auf der Straße ereignet, die Meinungen der Klassenkameraden in der Schule – all dies beeinflusst sie viel mehr als die geschriebenen Texte in den Schulbüchern, die vom Lehrer interpretiert werden, die selbst diesen Einflüssen ausgesetzt sind/ waren.

 

Ein arabisches Kind sieht im Fernsehen, wie eine alte Frau über die Zerstörung ihres Hauses jammert. Es sieht an den Hauswänden die Fotos der heroischen Märtyrer, Söhne des Stadtviertels, die ihr Leben für ihr Volk und ihr Land geopfert haben. Es hört, was mit seinem Cousin geschehen ist, der von den bösen Juden ermordet wurde. Er hört von seinem Vater, dass er kein Fleisch und keine Eier mehr kaufen kann, weil die Juden ihm nicht zu arbeiten erlauben. Zu Hause gibt es die meiste Zeit des Tages kein Wasser. Die Mutter erzählt von den Großeltern, die seit 60 Jahren in einem elenden Flüchtlingslager im Libanon  schmachten. Es weiß, dass seine Familie aus ihrem Dorf vertrieben wurde, das heute zu Israel gehört und wo heute Juden wohnen. Der Held seiner Klasse ist ein Junge, der auf einen vorbeifahrenden israelischen Panzer sprang oder der es wagte, aus einer Entfernung von 10 Metern einen Stein auf einen Soldaten zu werfen, der mit einem Gewehr auf ihn zielte.

 

Wir fuhren einmal zu einem palästinensischen Dorf, um den Einwohnern beim Wiederaufbau eines Hauses zu helfen, das tags zuvor vom Militär zerstört worden war . Während die Erwachsenen daran waren, das Dach fertig zu stellen, sammelten sich die Dorfkinder um Rachel, meine Frau, und zeigten großes Interesse an ihrem Photoapparat. Ein Gespräch entwickelte sich zwischen ihnen: „Woher kommst du?  Aus Amerika?“ „Nein, von hier“  „Bist du Christin ?   „Nein, Israeli“ „Israeli?“ (Allgemeines Gelächter)“ Israelis machen bum, bum bum!“ (Sie machten die Gebärden des Schießens nach). „Nein, wirklich, woher kommst du?“ „Aus Israel, wir sind Juden“. (Sie wechselten fragende Blicke unter einander.) „Warum kommst du hierher?“ „Um bei der Arbeit zu helfen“. ( Flüstern und Gelächter). Einer der Jungs rannte zu seinem Vater: „Diese Frau sagt, sie seien Juden“. „Stimmt!“ bestätigt der in Verlegenheit gebrachte Vater,“ es sind Juden, aber gute Juden“. Die Kinder ziehen sich zurück. Sie schauen wenig überzeugt aus.

 

Was können Schulbücher hier schon verändern?

 

Und auf der jüdischen Seite? Schon im frühesten Alter sieht ein Kind im Fernsehen Bilder von Selbstmordanschlägen, von zerfetzten Leichenteilen. Die Verletzten werden in Ambulanzen  weggebracht, deren Sirenen einem das Blut gefrieren lassen. Es hört, dass die Nazis Mutters ganze Familie  in Polen umgebracht haben – und in seinem Bewusstsein verschmelzen Nazis mit Arabern. Jeden Tag hört es in den Nachrichten von den schlimmen Dingen, die die Araber tun, dass sie den Staat zerstören und uns ins Meer werfen wollen. Es weiß, dass die Araber seinen Bruder, den Soldaten, völlig ohne Grund umbringen wollen – eben weil sie Mörder sind. Nichts erfährt es über das Leben in den „Gebieten“, die nur wenige Kilometer weit entfernt sind. Bis es zum Militär einberufen wird, sind die einzigen Araber, die es trifft, israelische Araber, die niedrige Arbeit verrichten. Wenn er zur Armee kommt , sieht er sie nur durch das Zielfernrohr seines Gewehrs, jeder ist dann  ein potentieller „Terrorist“.

 

Damit eine Veränderung in den  Schulbüchern Sinn hat,  muss sich  zuerst die Realität vor Ort verändern.

 

 

DAS HEISST nicht, dass die Schulbücher keine Bedeutung haben. Sie sollten nicht unterschätzt werden.

 

Ich erinnere mich, dass ich einmal in den späten 60ern in einem Kibbuz einen Vortrag hielt. Nachdem ich über  die Notwendigkeit der Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels  sprach (damals eine ziemlich revolutionäre Idee), stand einer der Kibbutzbewohner auf und fragte. „Ich versteh das nicht. Sie wollen, dass wir die Gebiete, die wir erobert haben, zurückgeben. Die Gebiete sind etwas Reales, Land, Wasser. Was bekommen wir dafür? Abstraktes wie „Frieden“?  Was bekommen wir - tacheles?“ ( Tacheles ist jiddisch für etwas Handfestes, Reales).

 

Ich antwortete, dass  es Zehntausende von Klassenzimmer zwischen Marokko und  dem Irak gibt und in jedem hängt eine Landkarte. Auf all diesen Landkarten steht anstelle von Israel „besetztes Palästina“ oder es wurde einfach  leer gelassen. Alles, was wir brauchen, ist, dass der Name Israel auf all diesen Tausenden von Landkarten eingezeichnet ist.

 

Seitdem sind 40 Jahre vergangen, und der Name „Israel“ erscheint nicht in den palästinensischen Schulbüchern und vermutlich auch nicht auf den Landkarten  Marokkos bis zum Irak. Und der Name Palästina erscheint natürlich  nicht auf den israelischen Schulkarten. Erst wenn der junge Israeli in die Armee kommt, sieht er eine Karte mit den „Gebieten“ mit dem verrückten Wirrwarr der  Zonen A, B und C, den Siedlungsblöcken und den Apartheidstraßen.

 

Eine Landkarte ist wie eine Waffe. Aus meiner Kindheit in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen  erinnere ich mich an eine Landkarte, die an der Wand meines Klassenzimmers

hing. Auf dieser hatte Deutschland zwei Grenzen. Die eine war – wenn ich mich recht erinnere  - grün. Es war die bestehende Grenze, die nach dem Versailler Vertrag nach dem 1. Weltkrieg aufgezwungen wurde. Die andere war in leuchtendem Rot – es war die Grenze, die vor dem Krieg gültig war. In Tausenden von Klassenzimmern überall in Deutschland – damals von den Sozialdemokraten regiert – sahen die Schüler täglich, welch schreckliches Unrecht man Deutschland gegenüber getan hat, als man  ihm von jeder Seite Stücke weggerissen hatte. So wurde die Generation herangezogen, die dann die Reihen der Nazis für die Kriegsmaschinerie des 2. Weltkrieges gefüllt hat.

 

(Nebenbei gesagt: etwa 50 Jahre später durfte ich freundlicherweise diese Schule besuchen. Ich fragte den Schulleiter nach dieser Karte. Nach wenigen Minuten wurde sie aus dem Archiv gebracht.)

 

 

NEIN, ich nehme Landkarten nicht auf die leichte Schulter. Ganz besonders keine Landkarten in Schulen.

 

Ich wiederhole, was ich damals sagte: es muss das Ziel sein, dass das Kind in Ramallah vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Israel eingezeichnet ist. Und dass das Kind in Rishon-le-Zion vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Palästina eingezeichnet ist. Nicht durch Zwang, sondern durch ein Abkommen.

 

Das ist natürlich  unmöglich, solange Israel keine Grenzen hat. Wie kann man auf eine Karte einen Staat einzeichnen, der sich vom ersten Tage an bewusst und unnachgiebig weigerte, seine Grenzen zu definieren. Können wir wirklich vom palästinensischen Ministerium für Bildung und Erziehung erwarten, dass es eine Karte veröffentlicht, in dem alle Gebiete Palästinas innerhalb Israels liegen?

 

Und auf der andern Seite: wie kann man auf einer Landkarte „Palästina“  markieren, wenn es keinen palästinensischen Staat gibt? Sogar die meisten jener Politiker, die  sich  - wenigstens pro forma - zu einer „Zwei-Staatenlösung“ bekennen, vermeiden klar zu sagen, wo denn die Grenze zwischen  den beiden Staaten verlaufen soll. Zipi Livni, die Außenministerin, ist absolut gegen die angekündigte Absicht ihrer Kollegin, der Bildungsministerin Yuli Tamir, die Grüne Linie zu markieren, damit sie nicht als Grenze angesehen wird.

 

Frieden bedeutet Grenze. Eine durch ein Abkommen festgelegte Grenze. Ohne eine Grenze kann es keinen Frieden geben. Und ohne Frieden ist es eine Chutzpa (Frechheit), von der andern Seite etwas zu verlangen, das wir selbst  absolut verweigern zu tun.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert.)