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Eine noch nicht verlorene Hoffnung

 

Uri Avnery, 28.4.07

 

AM MORGEN des Unabhängigkeitstages berichtete eine Zeitung, ein arabisches Kind habe sich geweigert, während des Singens der Nationalhymne aufzustehen. Die Zeitung war wütend. Ich nicht; denn aus den Tiefen meiner Erinnerung kam eine Erfahrung aus meiner Kindheit hoch.

 

Es war in Hannover in Deutschland einige Monate, nachdem Adolf Hitler zur Macht gekommen war. Ich war ein Schüler  der ersten Klasse des Gymnasium, das den Namen der letzten Kaiserin Auguste Viktoria trug.

 

Die Machtergreifung der Nazis verursachte im allgemeinen keine  unmittelbaren dramatischen Veränderungen in Deutschland. Das Leben ging weiter. Aber in der Schule wurde eine Veränderung deutlich: alle paar Wochen gab es eine Gedenkfeier für den einen oder anderen der vielen  militärischen Siege, mit denen die deutsche Geschichte  reichlich ausgestattet ist. An solchen Tagen versammelten sich alle Schüler in der Aula, der Direktor hielt eine pathetische Rede und die Schüler sangen patriotische Lieder.

 

Bei einer dieser Gelegenheiten – ich meine, es war die Gedenkfeier der Eroberung Belgrads durch Prinz Eugen 1717 von den Türken – versammelten wir uns wieder in der Aula, und am Ende  der Feier wurden zwei Hymnen gesungen, die Nationalhymne: „Deutschland, Deutschland über alles“  und das Horst-Wessel-Lied. Alle Schüler standen auf und erhoben ihren rechten Arm zum Hitlergruß und sangen mit Inbrunst.

 

Ich war neun Jahre alt, ein Schüler in der untersten Klasse und der Klassenjüngste. Ich war auch der einzige jüdische Schüler in dieser Schule. Ich hatte keine Zeit nachzudenken. Ich stand auch auf, hob aber meinen Arm nicht und sang nicht mit. Ein kleiner Junge in einem Meer von erhobenen Händen. Ich zitterte vor Aufregung.

 

Nichts Schreckliches geschah. Aber danach drohten einige meiner Klassenkameraden, falls ich dies noch einmal täte, würden sie mir die Knochen brechen. Vor diesem Test wurde ich bewahrt. Ein paar Wochen später floh meine Familie aus Deutschland nach Palästina, dem Land meiner Träume.

 

 

HUNDERT TAUSENDE arabischer Kinder sehen sich nun einem ähnlichen Test gegenüber. Man erwartet von ihnen, dass sie eine Nationalhymne singen, die ihre Existenz ignoriert und sie an die Niederlage ihres Volkes  erinnert. In dieser Woche hat der Herausgeber von Ha’aretz  Amos Schocken, der Sohn eines Immigranten aus Deutschland, vorgeschlagen, die Nationalhymne zu verändern.

 

Hatikwa“ („Die Hoffnung“) wurde vor mehr als hundert Jahren geschrieben. Zu jener Zeit gab es schon eine kleine zionistische Gemeinschaft in diesem Land, aber das Lied reflektiert die Weltanschauung der Diaspora. „So lange eine jüdische Seele / tief  im Herzen bebt, / und zum Rande des Ostens, zum Orient,  / das Auge nach Zion späht …“( Meine wörtliche Übersetzung).

 

Seitdem hat  sich die Situation der Juden und dieses Landes radikal verändert. Im Land ist eine große und starke hebräische Gemeinschaft entstanden. Warum sollten wir über den „Rand des Ostens“ singen, wenn wir in Zion leben?

 

Die Tatsache, dass ein Lied sich überholt, oder gar lächerlich wird, macht es zwar noch nicht als Nationalhymne ungeeignet. Die französische Hymne ruft die Söhne des Vaterlandes auf, gegen die blutigen Tyrannen ( d.h. die Deutschen u.a.) aufzustehen und die Felder mit deren unreinem Blut zu tränken. Die holländische Hymne spricht von den Ungerechtigkeiten, die die Spanier vor 400 Jahren begingen. Die britische Hymne betet zu Gott,  er möge die schmählichen Tricks der Feinde der Königin vereiteln. Dann mag es uns Israelis erlaubt sein, unsere Hoffnung nicht zu verlieren, „ein freies Volk in unserm Land zu sein“ – als ob wir unter Besatzung leben würden. (Unter wessen Besatzung genau? Unter jüdischer, britischer oder türkischer?) Im Originaltext heißt es übrigens „ zurückzukehren ins Land der Vorväter, in die Stadt Davids.“ Dies wurde später verändert.

 

Es geht aber gar nicht um den Text der Hatikwa oder um die Melodie, die aus Osteuropa geklaut wurde. Es geht darum, dass die arabischen Bürger ausgeschlossen sind, die nun immerhin mehr als 20 % von Israels Bevölkerung ausmachen.

 

Ich will nicht noch einmal  eine Diskussion beginnen, ob Israel ein „jüdischer Staat“ ist  oder nicht .(Was bedeutet das? Dass er zur jüdischen Religion gehört? Oder der jüdischen Mehrheit?) Selbst, wenn jemand wünscht, dass es so sei, der sollte sich fragen: ist es klug, jedem arabischen Bürger das Gefühl zu geben, dass er oder sie nicht dazu gehört? Dass dies für sie ein fremder und feindlicher Staat ist?

 

Die Hatikwa kann weiterhin die Hymne der zionistischen Bewegung bleiben und Juden in Los Angeles oder Kiryat Malachi ( beides „Städte der Engel“) können sie singen. Aber sie sollte nicht die Hymne des Staates sein.

 

Während des 2. Weltkriegs entschied Stalin, dass die damalige Nationalhymne – die Internationale – nicht mehr ihrem Zweck dient. Er wollte einen Patriotismus und benötigte die Unterstützung der kapitalistischen Verbündeten. Deshalb ließ er einen Wettbewerb für eine neue Nationalhymne ausschreiben. Ein aufrüttelndes Lied wurde ausgewählt, das sich so tief im Volk verwurzelte, dass selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Russen dieses  Lied der alten Hymne aus der Zarenzeit bevorzugen . (Es ist uns aus Tschaikowskys „1812“ bekannt).

 

Nun ist die Zeit gekommen, über eine Veränderung unserer Nationalhymne zu diskutieren – nicht nur um der arabischen Bürger willen, sondern auch um unsretwillen, um eine Hymne zu haben, die unsere Realität widerspiegelt. Vor 38 Jahren hatte ich  in der Knesset in diesem Sinne das erste Mal eine Eingabe gemacht. Aber sie wurde abgeschmettert. Nun ist es an der Zeit, die Idee wieder aufzunehmen.

 

 

DASSELBE GILT auch für die Flagge.

 

Die blauweiße Flagge ist das Banner der zionistischen Bewegung. Sie nahm den jüdischen Gebetsschal, den Tallith, fügte ihm den Davidstern  hinzu ( ein altes jüdisches Symbol, das auch in anderen Kulturen auftaucht) und schuf so eine  Nationalflagge. Sie hat einen offensichtlichen Fehler: das Blau und Weiß hebt sich nicht von ihrem Hintergrund dem blauen Himmel, den weißen Wolken  und grauen Gebäuden ab. Es genügt, sie mit der lustigen amerikanischen „Stars and Stripes“ zu vergleichen, dem feierlichen britischen „Union Jack“ und der ästhetischen französischen Trikolore.

 

Aber der  Hauptfehler dieser Flagge liegt darin, dass sie die arabische Gemeinschaft aus der Familie des Staates ausschließt. Ein Araber, der diese Flagge grüßt, belügt sich selbst, wenn er versucht, sich mit Symbolen wie dem Tallith und dem Davidstern zu identifizieren. Es schließt ihn aus und spricht ihn  nicht an.

 

(Um so mehr, als viele Araber glauben, dass die beiden blauen Streifen für den Nil und den Euphrat stehen und dass die Flagge auf das zionistische Bestreben hinweist, einen jüdischen Staat gemäß dem biblischen Versprechen zu schaffen (Genesis15,18):  „Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben vom Strom Ägyptens bis an den großen Strom Euphrat.“  Dies ist eine Phantasie, aber es macht  es für arabische Bürger noch schwieriger, diese Flagge anzunehmen.)

 

Das  Wesen einer Nationalflagge ist es, zu vereinen. Diese Flagge spaltet. Sie berührt nicht das Innerste einer bedeutenden Gemeinschaft im Staat. Sie reißt sie aus einander. Und nicht nur sie. Wie Gideon Levy in dieser Woche schrieb: sie wurde von der extremen Rechten enteignet und ist in den Augen der Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit  mit der Schande der Straßensperren, den Siedlungen und der Besatzung verbunden.

 

Vor noch nicht so langer Zeit war der kanadische Staat mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Die Nationalflagge, die sich vom Union Jack Großbritanniens ableitete, wurde von der französisch sprechenden Minderheit abgelehnt. Obwohl diese nur 10% der Bevölkerung darstellte ( zusätzlich der Nachkommen aus gemischten Paaren), entschied die Mehrheit sehr klug, die Einheit des Landes sei wichtiger als ihre eigenen britischen Gefühle. Man entschied sich für eine neue Flagge, eine Fahne, die in ihrer Mitte ein Symbol hat, mit dem sich jeder Kanadier identifizieren kann: das Ahornblatt.

 

 

DIE OPPOSITION gegen den Wechsel der Hymne und die Flagge rührt natürlich nicht nur von der Verehrung der bestehenden Symbole her. Es ist hauptsächlich eine Opposition gegen eine Veränderung der jüdischen Identität Israels.

 

Der Wunsch, Israel als „jüdischen Staat“ zu bewahren, ist stark und profund. Vor kurzem wurde dieser sogar noch durch den Wunsch arabischer Intellektueller, Bürger Israels, sehr verstärkt, die Beziehungen zwischen dem Staat und der arabischen Minderheit  neu zu ordnen.

 

Fast täglich kommen neue Vorschläge auf. In dieser Woche kam Otniel Shneller, ein Knessetmitglied und naher Freund von Ehud Olmert mit einer neuen Idee: die arabischen Orte im sog. Dreieck, ein Gebiet auf der israelischen Seite der Grünen Linie,  zum palästinensischen Staat zu schlagen, wenn er erst einmal gegründet ist – im Austausch für die Siedlungsblöcke auf der palästinensischen Seite, die Israel angeschlossen werden sollten. Auf diese Weise würde die Zahl der Araber im Staat abnehmen und die Zahl der Juden wachsen.

 

Anders als Avigdor Liberman, der Ähnliches vorgeschlagen hat, schlug dieses Kadima-Mitglied der Knesset vor, es ohne Gewalt zu machen. Er bekennt sich zu einem Wunsch, mit den Bewohnern ein Abkommen zu erreichen, so dass sie einige ihrer sozialen Rechte in Israel behalten würden, auch wenn sie Bürger des palästinensischen Staates werden. Für ihn ist nur wichtig, dass sie und vielleicht auch die arabischen Bewohner Galiläas aufhören, Bürger zu sein, damit Israel mehr „jüdisch und demokratisch“ werde,  oder, besser gesagt, „jüdisch und demographisch“.

 

Shneller und Liberman – beides Siedler, die beide der extremen Rechten angehören – schlagen nicht vor, Ost-Jerusalem aufzugeben, wo fast eine Viertelmillion Palästinenser lebt. Das stört sie nicht, weil diesen Arabern nie die israelischen Bürgerrechte gegeben wurde. Als sie 1967 von Israel annektiert wurden, wurde ihnen nur der Status  eines „permanenten Bürgers“ gegeben. Deshalb fordert man von ihnen auch nicht, dass sie die blau-weiße Flagge hissen und die Hatikwa singen.

 

Übrigens zeigen diese Vorschläge, dass diese beiden Rechten die Hoffnung auf ein Groß-Israel verloren und sich mit einem palästinensischen Staat neben Israel abgefunden haben. Sonst würden ihre Vorschläge bedeutungslos sein.

 

 

WIE HABEN die arabischen Bürger Israels auf die Ideen von Shneller reagiert?. Sie haben sie einfach ignoriert. Bis jetzt wurde keine einzige arabische  Stimme laut, um diesen Vorschlag zu unterstützen, genau wie keine arabische Stimme gehört wurde, die Libermans Idee unterstützte.

 

Das wirft ein Licht auf eine Tatsache, die den meisten entgangen ist: die arabischen Bürger Israels sind viel mehr mit dem Staat Israels verbunden, als es schien. Obwohl sie unter Diskriminierung in praktisch allen  Lebensbereichen leiden, sind sie mit dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen System des Staates verbunden. Sie haben nicht den geringsten Wunsch, die israelische Demokratie aufzugeben, die Vergünstigungen der sozialen Versicherung und die wirtschaftlichen Vorteile. Gewiss wünschen sie, dass die Beziehungen zwischen ihnen und dem Staat auf eine neue Basis gebracht werden – doch wünschen sie entschieden, nicht von ihm getrennt zu werden.

 

Vor vielen Jahren prägte ein arabisches Mitglied der Knesset, Abd-al-Aziz Zuabi, den Satz: „mein Staat ist im Krieg mit meinem Volk“. Das bringt den arabischen Bürger in ein Dilemma. Er ist ein Teil dieses Staates, und er gehört  gleichzeitig zum palästinensischen Volk.

 

Jeder „israelische Araber“ wird mit dieser Realität konfrontiert und jeder versucht, für sich darauf eine Antwort zu finden. Die Azmi Bishara-Affäre (auf die ich nächstens eingehen werde) symbolisiert dieses Dilemma. Und so lange es keinen israelisch-palästinensischen Frieden gibt, wird auch dieses Dilemma bleiben.

 

Eine neue Nationalhymne und eine neue Flagge werden dieses Problem nicht lösen, aber sie werden einen wichtigen Schritt in Richtung einer Lösung darstellen, mit der beide Seiten leben können.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser   autorisiert)