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Der palästinensische Mandela

 

Uri Avnery, 15.9.07

 

DIE TEILUNG der palästinensischen Gebiete in Hamastan im Gazastreifen und Fatahland auf der Westbank ist  eine Katastrophe.

 

Eine Katastrophe für die Palästinenser, eine Katastrophe für den Frieden und deshalb auch eine Katastrophe für die Israelis.

 

Die israelische, politische und militärische Führung ist glücklich über diese Teilung, entsprechend der Doktrin „was schlecht für die Palästinenser ist, ist gut für Israel“. Diese Doktrin leitete die zionistische Politik von Anfang an. Chaim Arlosoroff, der zionistische Führer, der 1933 am Strand von Tel Aviv ermordet wurde, verurteilte in seiner letzten Rede schon diese Doktrin: „Nicht alles, was für die Araber schlecht ist, ist für die Juden gut – und nicht alles, was für die Araber gut ist, ist schlecht für die Juden.“

 

 

WERDEN DIE Palästinenser diese Teilung überwinden?

 

Es sieht so aus, als würden die Chancen dafür von Tag zu Tag kleiner. Die Kluft zwischen beiden Parteien wird immer breiter.

 

Die Fatahleute in der Westbank - mit Präsident Mahmoud Abbas an ihrer Spitze - verurteilen die Hamas als Bande von Fanatikern, die den Iran imitieren und von ihm geleitet werden und die, wie die Ayatollahs, ihr Volk ins Unglück führen.

 

Die Hamasleute dagegen klagen Abbas an, ein palästinensischer Marschall Petain zu sein, der mit dem Besatzer einen Bund gemacht hat und sein Volk den schlüpfrigen Hang der Kollaboration hinabführt.

 

Die Propaganda beider Seiten ist voller Gehässigkeit, und die Gewalt gegeneinander erreicht neue Höhen.

 

Es sieht wie eine Sackgasse aus. Viele Palästinenser sind verzweifelt, da sie keinen Ausweg finden. Andere suchen nach kreativen Lösungen. Afif Safieh, der Chef der palästinensischen Vertretung in Washington, schlägt z.B. vor, eine palästinensische Regierung aus völlig neutralen Experten zu bilden, die weder Mitglieder bei der Fatah noch bei der Hamas sind. Die Chancen dafür sind allerdings sehr gering.

 

Aber bei privaten Gesprächen in Ramallah taucht immer öfter ein Name auf: Marwan Barghouti.

 

„Er hält den Schlüssel in der Hand“, sagen sie dort, „für beide Konflikte, für den Fatah-Hamas-Konflikt und den israelisch-palästinensischen.

 

 

EINIGE SEHEN Marwan als den palästinensischen Nelson Mandela.

 

Ihrer Erscheinung und in ihrem Auftritt nach sind die beiden sehr verschieden, physisch und in ihrem Temperament. Aber sie haben auch viel Gemeinsames.

 

Beide wurde im Gefängnis zu Nationalhelden. Beide wurde wegen Terrorismus angeklagt. Beide unterstützen  den gewalttätigen Kampf. Mandela unterstützte 1961 die Entscheidung des Afrikanischen Nationalkongresses, einen bewaffneten Kampf gegen die rassistische Regierung (aber nicht gegen weiße Zivilisten) zu beginnen. Er blieb 28 Jahre im Gefängnis, weil er sich weigerte,, seine Freilassung mit einer Erklärung zu erkaufen, in der er auf Gewalt verzichtet hätte. Marwan unterstützte den bewaffneten Kampf der Fatah-Tanzim-Organisation und ist deshalb zu mehrfach lebenslänglich verurteilt worden.

 

Aber beide sind für Frieden und Versöhnung – auch bevor sie ins Gefängnis gingen. Ich sah Barghouti zum 1. Mal 1997, als er sich einer Gush-Shalom-Demo in Harbata, einem Dorf in der Nähe Bilins, anschloss. Es war eine Demo gegen den Bau der Modiin-Illit-Siedlung, mit dem gerade angefangen worden war. Fünf Jahre später demonstrierten wir während seiner Gerichtsverhandlung im Gericht mit dem Slogan: „Barghouti an den Verhandlungstisch, nicht ins Gefängnis!“ 

 

 

LETZTE WOCHE besuchten wir Marwans Familie in Ramallah.

 

Ich hatte Fadwa Barghouti zum ersten Mal bei der Beerdigung von Yasser Arafat getroffen. Ihr Gesicht war feucht von Tränen. Wir standen mitten in der Menge der Trauernden, und der Lärm um uns war ohrenbetäubend; wir konnten also nur wenige Worte mit einander austauschen.

 

Dieses Mal war sie ruhig und beherrscht. Sie lachte nur, als sie hörte, dass Teddy Katz, ein Gush-Shalom-Aktivist, der bei dem Treffen teilnahm, einen Zehennagel für Marwan geopfert hatte: während unseres Protestes im Gericht waren wir gewalttätig von der Gerichtspolizei angegriffen worden, und einer war kräftig mit seinen Stiefeln auf Teddys Fuß in einer Sandale getreten.

 

Fadwa Barghouti ist  von Beruf Anwältin  und Mutter von vier Kindern (drei Söhnen und einer Tochter). Der Älteste, Kassem, war auch schon ein halbes Jahr  im Gefängnis gewesen – ohne Gerichtsverhandlung. Sie ist eine gepflegte Person mit dunkelblonden Haaren ( „Alle Familienmitglieder, außer Marwan sind blond,“ erklärte sie und fügte mit einem seltenen Lächeln hinzu, „vielleicht wegen der Kreuzfahrer“.)

 

Die Barghoutis sind eine große Hamula (eine weitläufige Familie), die sechs Dörfer in der Nähe Bir Zeit bewohnen. Dr. Mustafa Barghouti, der für sein Engagement für Menschenrechte bekannte Arzt, ist ein entfernter Verwandter. Marwan und Fadwa, die auch eine geborene Barghouti ist – stammen aus Kobar.

 

Marwan Barghoutis Familie lebt in einer netten Eigentumswohnung. Auf meinem Weg dorthin fiel mir die große Bautätigkeit in Ramallah auf. Es sieht so aus, als würden an jeder Ecke neue Häuser entstehen, einschließlich  Geschäftshochhäuser.

 

Neben der Wohnungstür wünscht ein gestickter Gruß auf Englisch: „Willkommen in meiner Wohnung!“ Die Wohnung selbst ist mit vielen Fotos und Zeichnungen von Barghouti geschmückt, auch eine große Zeichnung, die von einem bekannten Foto inspiriert wurde: es zeigt Marwan im Gericht, wie er seine in Handschellen gefesselten Hände  wie ein siegreicher Boxer  über seinem Kopf hält. Als die Sicherheitskräfte nach ihm suchten, nahmen sie drei Tage lang die Wohnung in Besitz und hissten eine große israelische Fahne auf dem Balkon.

 

Fadwa ist eine der wenigen Personen, die ihn besuchen dürfen. Nicht als Anwältin, sondern nur als  „nahe Verwandte“  - eine Definition, die Eltern, Ehepartner, Geschwister und Kinder unter 16 einschließen.

 

Im Augenblick sind etwa 11 000 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen. Wenn man annimmt, dass zu „nahen Verwandten“ im Durchschnitt fünf Personen zählen, dann wären es 55 000 mögliche Besucher. Doch auch diese benötigen für jeden Besuch eine Genehmigung, und viele werden aus „Sicherheitsgründen“ abgewiesen. Auch Fadwa benötigt für jeden Besuch eine Genehmigung, die ihr nur erlaubt, direkt zum Gefängnis und zurück zu fahren – ohne irgendwo in Israel zu halten. Den drei Söhnen ist es nicht erlaubt, ihren Vater zu  besuchen, da alle drei inzwischen älter als 16 sind. Nur die junge Tochter darf ihn besuchen.

 

ES GIBT kaum jemand, der beim palästinensischen Volk so populär ist wie Marwan Barghouti. In diesem Punkt ähnelt er auch Mandela, während er im Gefängnis saß.

 

Die Ursache seiner Autorität ist schwierig zu erklären. Sie kommt nicht von seiner hohen Position in der Fatah, da die Bewegung nicht durchorganisiert ist, und es kaum eine klare Hierarchie gibt. Seit der Zeit als er noch ein einfacher Aktivist in seinem Dorf war, kam er nur dank seiner Persönlichkeit in der Organisation hoch. Es ist jenes Mysteriöse, das man Charisma nennt. Er strahlt eine ruhige Autorität aus, die nicht von äußerlichen Zeichen abhängig ist.

 

Der Diffamierungskrieg  zwischen Fatah und Hamas berühren ihn nicht. Die Hamas achtet darauf, ihn nicht anzugreifen. Im Gegenteil, als diese eine Liste von Gefangenen  zum Austausch  mit dem gefangenen Soldaten Gilad Shalit aufstellte, stand Marwan Barghouti - obwohl  ein Fatahführer -  als erster auf der Liste.

 

Er war es, der zusammen mit den gefangenen Führern anderer Organisationen das berühmte „Gefangenen-Dokument“ zusammenstellte, das zu nationaler Einheit aufrief. Alle palästinensischen Fraktionen akzeptierten dieses Dokument. Das war die Basis für das „Mekka-Dokument“, das die (kurzlebige) Regierung der nationalen Einheit schuf. Bevor es  von den Parteien unterzeichnet wurde, wurden eilige Boten zu Marwan gesandt, um sein Einverständnis zu erhalten. Erst als dies gegeben worden war, unterzeichneten es auch die anderen.

 

 

MEINEN BESUCH in Ramallah nütze ich auch aus, um einen Eindruck der Meinungen von Barghoutis Anhängern zu bekommen. Sie versuchen, nicht vom Klima des gegenseitigen Hasses mitgerissen zu werden, das gerade die Führung beider Seiten beherrscht.

 

Einige von ihnen sprechen sich deutlich gegen die Aktionen von Hamas aus, doch versuchen sie, die Ursachen zu verstehen. Nach ihnen waren  Hamasleute im Gegensatz zu  Fatahleuten nie im Westen gewesen und haben keine ausländischen Universitäten besucht. Ihre geistige Welt wurde durch das religiöse Bildungssystem geformt. Ihr Horizont ist ziemlich eng. Die komplexe internationale Situation, in der die palästinensische Befreiungsbewegung zu operieren  sich gezwungen sieht, ist ihnen ziemlich fremd.

 

Bei den letzten Wahlen hoffte die Hamas 35-40%  der Stimmen zu gewinnen, um so die Legitimität ihrer Bewegung zu stärken, erklärten mir meine Gesprächspartner. Sie war vollkommen überrascht, als sie die Mehrheit erhielten. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte keine fertigen Pläne. Es war ein Fehler ihrerseits, auf eine Regierung zu setzen, die nur aus Hamasmitgliedern bestand, statt auf einer Einheitsregierung zu bestehen. Sie hatten die internationale und  israelische Reaktion falsch eingeschätzt.

 

Marwans Anhänger schrecken nicht vor Selbstkritik zurück. Ihrer Meinung nach ist Fatah nicht ohne Schuld an dem, was im Gazastreifen passierte. Die Bewegung hatte nicht weise gehandelt, als sie Hamasführer verhaftete und demütigte. Zum Beispiel verhaftete sie Mahmoud al-Zahar, den Außenminister der Hamasregierung, demütigte ihn, indem sie ihm den Bart abschnitt und ihn beim Namen einer berühmten ägyptischen Tänzerin nannte. Dies ist einer der Gründe für den brennenden Hass al-Zahars und seiner Kollegen gegen die Fatah.

 

Ich hörte keine Dementis zur Behauptung von Hamas, dass Muhammed Dahlan, der frühere Vertraute und Sicherheitsberater von Mahmoud Abbas, zusammen mit den Amerikanern  einen Militärcoup geplant hatte. Dahlan, der Liebling der Amerikaner (und der Israelis), glaubte, ihrer Meinung nach, dass er, wenn er mit Waffen und Geld ausgerüstet wäre, den Gazastreifen übernehmen könnte. Das brachte die Hamas zu der Entscheidung, zuerst zu handeln und selbst einen bewaffneten Schlag auszuführen. Da die Mehrheit der Öffentlichkeit die Hamas unterstützte und Dahlan verachtete, der der Kollaboration mit der Besatzung  bezichtigt wurde, gewann die Hamas leicht. Dahlan war von Abbas ins Exil geschickt worden.

 

Das Zentrum von Hamas liegt im Gazastreifen. Dies ist das Problem von Khaled Mashal, dem Hamasführer, der in Damaskus lebt. Im Gegensatz zu seinen beiden Vertretern, hat er keine Wurzeln im Gazastreifen. Deshalb benötigt er Geld, um seine Stellung dort zu stärken. Er erhält es aus dem Iran.

 

(Ich hätte hier gern einige Eindrücke der Gesichtspunkte der Hamas gegeben, aber es ist ganz unmöglich, den Gazastreifen zu betreten, während unsere  Hamas-Gesprächspartner von Ostjerusalem alle ins israelische Gefängnis geschickt worden waren.)

 

 

WIE WOLLEN die Palästinenser aus dieser Klemme herauskommen? Wie können sie noch einmal eine nationale Führung aufbauen, die von allen Teilen der Bevölkerung in der Westbank und im Gazastreifen akzeptiert werden wird, und die in der Lage ist, den nationalen Kampf zu führen und mit Israel Frieden zu machen, wenn Frieden möglich wird ??

 

Barghoutis Anhänger glauben, dass im richtigen Augenblick, wenn Israel zu der Schlussfolgerung kommt, dass es Frieden braucht, er aus dem Gefängnis entlassen wird und eine zentrale Rolle bei der Versöhnung spielen wird – ähnlich wie Mandela, der aus dem Gefängnis in Südafrika entlassen wurde, als die weiße Regierung zu dem Schluss kam, dass das Apartheidregime nicht länger aufrecht erhalten werden konnte. Um uns in solch eine Situation zu bringen, müssten die israelischen Friedenskräfte schon jetzt eine große öffentliche Kampagne für Barghoutis Entlassung  starten.

 

Was wird unterdessen geschehen?

 

Kaum einer auf der palästinensischen Seite glaubt, dass Ehud Olmert ein Friedensabkommen schließen und dieses danach auch erfüllen wird. Kaum einer glaubt, dass irgendetwas bei dem „Internationalen Treffen“ herauskommen wird, das vermutlich im November stattfinden wird. Die Palästinenser sind davon überzeugt, dass dies ein Knochen ist, den Präsident Bush Condoleezza Rice hinwirft, deren Stellung dramatisch sinkt.

 

Und wenn dieses keine Resultate haben wird?

 

„Es wird kein Vakuum geben,“ sagte mir einer der Fatahführer, „wenn die Bemühungen von Präsident Abbas keine Früchte bringt, dann gibt es eine weitere Explosion wie die Intifada nach Camp David.“

 

Wie ist das möglich, nachdem die  Fatahaktivisten ihre Waffen abgegeben  und der Gewalt abgeschworen haben? „Eine neue Generation wird kommen,“ sagte mein Gesprächspartner, „so wie es vorher geschehen ist – die eine Altersgruppe wird müde und  die nächste Gruppe wird ihren Platz einnehmen. Wenn die Besatzung nicht zu einem Ende kommt und es keinen Frieden gibt, einen Frieden, der die nächste Generation zu den Universitäten, zur Familie, zur Arbeit und zum Geschäft zurückkehren lässt, dann wird eine neue Intifada ausbrechen.“

 

Um Frieden zu erreichen, brauchen die Palästinenser nationale Einheit, genau so wie die Israelis einen Konsens brauchen. Der Mann, der für die Palästinenser die Hoffnung auf  Einheit symbolisiert, sitzt jetzt im Hasharon-Gefängnis.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)