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 Flucht vor der Wirklichkeit

 

Uri Avnery, 5.5.07

 

 

ICH BIN BEI vielen Demonstrationen auf Tel Avivs Rabin-Platz  gewesen, auch als er noch „Platz der Könige Israels“ genannt wurde.

 

Ich war bei der legendären „Demonstration der 400 000“ nach dem Sabra- und Shatila-Massaker dabei (tatsächlich waren es  etwa  200 000 – auch dies noch eine eindrucksvolle Zahl).  Ich war dort, als Yitzhak Rabin erschossen wurde. Ich war dort, als die Massen junger Leute dort auf dem Boden saßen, ihre Tränen trockneten und Kerzen für den Ermordeten  anzündeten. (Es wurde damals gesagt, die junge Generation sei endlich aufgewacht. Aber die junge Generation hörte mit dem Weinen auf und ging ihren Weg als  die Kameras verschwanden). Ich war dort, als 100 000  spontan auf den Platz strömten vor lauter Freude, dass Ehud Barak die Wahlen gewonnen  und Israel vom Alptraum Benyamin Netanyahu befreit hatte – auch wenn  viele von ihnen es später bereuten.

 

Aber die Demonstration, an der  ich vorgestern teilnahm, war anders als alle vorausgegangenen. Da waren Leute von der  Linken und Rechten, Religiöse und Säkulare, von den Orientalen und Ashkenasim, Siedler und Friedensaktivisten, junge Leute (viele junge Leute) und Ältere. Irgendwann begegnete ich dem Knessetmitglied Effi Eitan, den ich als Faschisten Nummer Eins in Israel betrachte – und der mich wohl als den Zerstörer Israels Nummer Eins betrachtet. Wir ignorierten einander, aber wir waren  beide dort.

 

Es war ein Aufstand der Bürger, die zusammenkamen, um  „Genug der Chuzpe!“  zu schreien. Nach dem schändlichen Fiasko im Libanon hätten die verantwortlichen Politiker sofort zurücktreten sollen.  Erst recht nach dem vernichtenden Bericht der Winograd-Kommission. Wie der Schriftsteller Meir Shalev, einer der Redner bei der Demonstration, sagte: „Herr Olmert, Sie sagten, sie arbeiten bei uns. Sie sind gefeuert!“

 

Es war eine Demonstration der Macht der israelischen Demokratie. Mindestens 120 000 Bürger hatten sich  auf dem Platz versammelt, um ihre Frustration und ihren Zorn zum Ausdruck zu bringen. Einige unter ihnen hatten Parteiinteressen, um die Olmert-Regierung zu stürzen , aber die meisten von ihnen waren einfach gekommen, um zu  sagen, dass sie die Nase voll hätten.

 

 

DIE DEMONSTRATION war gegen drei Personen gerichtet: den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und gegen den Generalstabschef des Krieges.

 

Dan Halutz hatte schon die Konsequenzen gezogen und war zurückgetreten. Im Buch der Sprüche ( 24,17) fordert die Bibel von uns: „Freu dich nicht über den Fall deines Feindes und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück!“ Aber ehrlich gesagt, ich erlaubte mir die Freude, und mein Herz  war froh.

 

Die Geschichte begann, als Halutz Kommandeur der Luftwaffe war. Um den Hamas-Führer Salah Shehade zu töten, befahl er, eine 1t-Bombe auf sein Haus zu werfen, die dann auch 15 Zivilisten, darunter neun Kinder, tötete.

 

Wir sandten ihm und seinen Kollegen Briefe, die sie warnten, dass wir sie wegen Kriegsverbrechen anklagen könnten. Als Halutz gefragt wurde, wie er sich fühle, wenn er solch eine Bombe fallen lässt, antwortete er, er fühle ein leichtes Zittern am Flügel. Er fügte noch hinzu, wir seien Verräter und sollten  vor Gericht gebracht werden. (Verrat ist das einzige Verbrechen, das nach israelischem Gesetz mit Todesstrafe geahndet wird).

 

Als Halutz zum Generalstabschef ernannt wurde, protestierten wir vor dem Gebäude des Generalstabs. Der Protest war nicht nur von moralischen Erwägungen motiviert, so ernst sie waren. Wir wollten auch davor warnen, einer Person das Oberkommando einer Armee anzuvertrauen, deren  Arroganz auf  eine leichtsinnige, unverantwortliche Person ohne Urteilsvermögen hinweist.

 

Nun kommt die Winograd-Kommission und wiederholt fast dieselben Worte.  Nur sind in der Zwischenzeit 119 israelische Soldaten, vierzig israelische Zivilisten und  etwa tausend Libanesen getötet worden – weil die politische Führung  dem  beflügelten Dummkopf hörig war.

 

 

DIE MENGE auf dem Platz konzentrierte ihren Zorn  auf Ehud Olmert und weniger auf den  pathetischen Amir Peretz. So wie es im Zeitalter des Fernsehen ist, können sich die Kameras nur auf die Gesichter konzentrieren, aber nicht auf die Ideen. So war auch hier alles personenzentriert. Der ganze Protest konzentrierte sich auf  die Individuen.

 

Das war völlig gerechtfertigt. Olmert  hat sich als  arroganter und  leichtfertiger Führer erwiesen, der uns mit minimalem Wissen über die Situation im Libanon und über die Fähigkeiten der Armee in einen Krieg gestürzt hatte. Er erkannte  die Gefahren durch die Raketen nicht, denen die Zivilbevölkerung Israels ausgesetzt war.  Er hatte auch keine Alternativen (zum Krieg) in Betracht gezogen. Das einzige Feld, auf dem er Experte war, waren Partei-Manipulationen, wie er jetzt wieder beweist.

 

Wegen was wird Olmert beschuldigt? Dass er entschieden hatte, überstürzt den Krieg zu beginnen; dass der Krieg keine klar definierten politischen und militärischen Ziele hatte; dass er die Reservetruppen nicht beizeiten mobilisiert  und sich nicht darum gekümmert hatte, dass das Militär  entsprechend trainiert und ausgerüstet war; dass er die Bodentruppen nicht beizeiten  in Einsatz brachte; dass er sich zu einem großen Bodenangriff  erst im letzten Augenblick entschieden hatte, nachdem die UN schon eine Resolution zur Feuerpause ausgearbeitet hatte – und so das Leben von  40  weiteren Soldaten  verschwendete.

 

All diese Anklagen sind richtig. Aber sie schließen auch ein großes Maß an  Wirklichkeits-flucht ein.

 

Das ist ein Charakterzug des israelischen Volkes (und vielleicht aller Völker). Sie tun alles, um der Diskussion über das wirkliche Übel aus dem Weg zu gehen und beschäftigen sich stattdessen mit zweitrangigen, zuweilen trivialen Symptomen.

 

Nach dem Krieg von 1973 wurde auch nicht gefragt:  Warum reagierte Golda Meir nicht  vor dem Krieg  auf Anwar Sadats Friedensangebot ? Warum verbrachten wir nach dem Krieg von 1967 sechs lange Jahre mit Siegesfeiern, prahlerischen Reden  und bauten Siedlungen, statt die einzigartige Gelegenheit am Schopfe zu packen und Frieden zu machen?  Warum wurde das Staatsschiff wie ein Narrenschiff geführt?

 

Statt diese Fragen zu stellen, konzentrierte  die israelische Öffentlichkeit ihre Frustration, ihren Zorn, ihre Proteste auf zwei Fragen: Warum wurden die Reservisten nicht einberufen? Warum wurden die Panzer und die Artillerie nicht   am Vorabend des Krieges nach  vorne gebracht? Berechtigte, aber sekundäre Fragen. Die Agranat-Kommission, die  ernannt wurde, um den Krieg von 1973 zu untersuchen, hatte sich auch nur auf diese Fragen  konzentriert. Die Massen demonstrierten deshalb. Menachem Begin ritt auf ihnen zum Sieg.

 

Dasselbe ereignete sich nach dem 1.Libanonkrieg. Die Verurteilung war ganz  auf das Massaker in Sabra und Shatila konzentriert. Deswegen wurde die Kahan-Kommission  berufen. Deswegen fand die legendäre Mega-Demonstration  auf dem „Platz der Könige Israels“ statt. Deswegen wurde Ariel Sharon aus dem Verteidigungsministerium getrieben. Aber die Hauptfrage wurde nicht gestellt: warum waren Ariel Sharon und Begin überhaupt  in den Libanon eingefallen? Warum waren ihnen die Golanhöhen mehr wert als Frieden, so wie Moshe Dayan Sharm-el-Sheik  für wertvoller hielt als den Frieden? Warum begannen sie ein Abenteuer, das 18 Jahre dauerte und das Leben von mehr als tausend israelischen Soldaten kostete, einen Krieg, dessen anhaltende  Folge das Zur-Macht-kommen der Hisbollah war?

 

 

NUN GESCHIEHT es noch einmal.

 

Sollen wir Olmert stürzen? Vielleicht wäre es besser, Olmert durch Zipi Livni  oder Shimon Peres zu ersetzen? (Nein, ich mache keinen Witz).  Oder vielleicht ist es besser, Neuwahlen abzuhalten, selbst wenn Netanyahu sie gewinnen  würde? Ist der gescheiterte Netanyahu besser als der gescheiterte Olmert, oder müssen wir den gescheiterten Barak zurückholen? Oder sollten wir Olmert an seinem Platz lassen in  der Hoffnung, dass er danach nicht wieder gedankenlos weitere Kriege  beginnen wird?

 

Doch die wirkliche Frage ist nicht, warum Olmert den Krieg so überstürzt begann, sondern warum er den Krieg überhaupt begann?

 

Jede klar denkende Person begreift, dass die  Hisbollah  nur dadurch neutralisiert werden kann, dass man mit Syrien Frieden schließt, einen Frieden, für den wir die Golanhöhen zurückgeben müssen. Was ist wichtiger für uns – Frieden oder der Golan?  Der Golan (und die gottverlassenen Sheeba-Farmen)  oder Frieden mit dem Libanon?

 

Genau darüber wird keine ernsthafte Debatte geführt – weder in der Knesset, noch in den Medien, noch bei öffentlichen Diskussionen. Das war nicht der Grund dafür, dass sich  die Massen  auf dem Platz versammelten. Das ist zu kompliziert.

Das ist auch zu kontrovers. Dazu ist  klares Denken notwendig,  um Schlussfolgerungen aus dem zu ziehen, was geschehen ist. Es ist leichter, „Olmert, geh nach Hause!“ zu schreien.

 

Ja, natürlich muss Olmert nach Hause gehen. Wir brauchen eine neue Führung, eine die begreift, dass Israel nur dann zur Ruhe kommt, wenn wir Frieden mit den Palästinensern schließen, selbst um den Preis, die Siedlungen auflösen zu müssen. Wird dies ernsthaft diskutiert? Würde dies Hunderttausende auf den Platz bringen? Natürlich nicht.

 

Bei der Donnerstagsdemonstration sprach zum Missfallen der Organisatoren Meir Shalev  auch das Thema „Besatzung“ und das Thema „Siedlungen“ an. Die Organisatoren wollten aber Einigkeit bewahren. Einige der Demonstranten protestierten. (Andere klatschten Beifall.) Dies ist schließlich  kontrovers. Warum also bei dieser festlichen Gelegenheit über so etwas reden?

 

Da es aber keine Diskussion über den  Punkt gab, der unser Schicksal bestimmt, wurde alles zu einer Übung der Flucht aus der Wirklichkeit.

 

 

WÄHREND ICH auf dem Platz stand -  zwischen  Männern, die gehäkelte Kipas trugen,  und anderen in T-Shirts,  zwischen orthodoxen Frauen mit langen Ärmeln und Frauen, die ganz unorthodox enge Jeans trugen, konnte ich einen bitteren Gedanken nicht  verscheuchen: Wo, zum Teufel, wart ihr, als eure Stimmen so viele Leben hätten retten können? Ihr habt schließlich Olmert als Helden  gepriesen, als er euch in den Krieg sandte.

 

Und ihr Journalisten, die ihr - fast alle - die Leute zur Protestdemonstration gerufen habt, habt ihr sie  nicht mit derselben Begeisterung aufgerufen, in den Krieg zu ziehen?

 

Was brauchen wir jetzt: eine bessere Vorbereitung für den nächsten Krieg – oder  die Anstrengung, den  nächsten Krieg zu verhindern? Eine Regierung, die noch einmal in den Libanon einfällt und  vielleicht auch in Syrien, um die „Abschreckungsmacht der Armee wieder herzustellen“ – oder brauchen wir eine Regierung, die ernsthaft mit Verhandlungen beginnt, um Frieden zu erlangen?

 

Meine Antwort, auf meine eigenen Fragen lautet etwa folgendermaßen: auch wenn es oberflächlich nicht so aussieht, so hat unser Volk schon einen langen Weg zurückgelegt  -- von „es gibt kein palästinensisches  Volk“, „Groß-Israel“, „vereinigtes Jerusalem in alle Ewigkeit“, und „unsere Brüder, die Siedler“ --  um der Realität  näher zu kommen. Trotz der Gehirnwäsche. Trotz des Machtkultes. Trotz der Ängste.

 

Wenn man die Zeiger einer Uhr betrachtet, dann scheinen sie sich nicht zu bewegen. Aber wenn man nach einiger Zeit wieder auf sie sieht, stellt man fest, dass sich ihre Position verändert hat.

 

Mit der Zeit wird sich  das Volk auf demselben Platz versammeln und das Ende der Besatzung und den Frieden mit den Palästinensern, den Syrern und den Libanesen fordern. Der größte Teil der Menge wird applaudieren und vielleicht sogar singen. Amen.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)