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Blut an unsern Händen

 

Uri Avnery, 14.4.07

 

IM AUGENBLICK sind Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch in vollem Gange.

Wobei der Ausdruck „Verhandlungen“ nicht wirklich passt. „Feilschen“ würde besser passen.

Man könnte sogar einen noch hässlicheren Ausdruck verwenden: „Menschenhandel“.

 

Bei dem geplanten Deal geht es um lebendige Menschen. Sie werden wie Waren behandelt, mit denen die Verantwortlichen auf beiden Seiten feilschen, als ob es sich um ein Stück Land oder eine Ladung Früchte handeln würde.

 

In ihren eigenen Augen und in denen ihre Ehepartner, Eltern und Kinder sind sie keine Waren. Sie sind das Leben selbst.

 

 

UNMITTELBAR nach der Unterzeichnung des Osloabkommens 1993 rief Gush Shalom, der israelische Friedensblock,  den Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin öffentlich dazu auf, sofort alle palästinensischen Gefangenen frei zu lassen. 

 

Die zugrunde liegende Logik  war einfach: es handelte  sich um Kriegsgefangene. Was sie getan hatten, war ein Dienst an ihrem Volk, genau wie der unserer eigenen Soldaten. Die Leute, die sie  in den Kampf sandten, waren die Führer der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), mit denen wir gerade ein weitreichendes Abkommen unterzeichnet hatten. Ist es sinnvoll, wenn  man mit  den Kommandeuren ein Abkommen unterzeichnet – ihre Untergeordneten aber weiter in Gefängnissen schmachten müssen?

 

Wenn man Frieden macht, erwartet man, dass Kriegsgefangene entlassen werden. In unserm Fall wäre dies nicht nur ein Anzeichen von Menschlichkeit, sondern auch eines von Weisheit. Diese Gefangenen kommen aus allen Städten und Dörfern.  Sie nach Hause zu schicken, würde in allen besetzten palästinensischen Gebieten einen Freudentaumel hervorrufen. Es gibt kaum eine palästinensische Familie, die nicht einen Verwandten im Gefängnis hat.

 

Wenn  das Abkommen nicht nur ein Stück Papier bleiben soll, sagten wir damals, sondern mit Inhalt und Geist gefüllt werden soll – dann gäbe es keinen weiseren Akt.

 

Leider hörte Rabin nicht auf uns. Er hatte viele positive Züge, aber er war eine ziemlich verschlossene Person ohne Phantasie. Er selbst war  Gefangener eines engstirnigen Sicherheitskonzepts. Auch für ihn waren die Gefangenen Waren, über die man verhandeln kann. Vor der Gründung des Staates Israel war er selbst zwar auch  eine Zeitlang in britischer Haft, aber wie viele andere, war er unfähig, die Lektion der eigenen Erfahrung auf die Palästinenser  anzuwenden.

 

Wir sahen dies – soweit es die Friedensbemühungen betrifft - für sehr verhängnisvoll an. Zusammen mit dem unvergesslichen Faisal Husseini, dem hoch verehrten Führer der palästinensischen Bevölkerung Ost-Jerusalems, organisierten wir eine Demonstration vor dem Jneid-Gefängniss in Nablus. Es war die größte gemeinsame israelisch-palästinensische Demonstration, die es je gab.  Mehr als zehntausend Leute nahmen daran teil.

 

Vergeblich. Die Gefangenen wurden nicht freigelassen.

 

 

VIERZEHN JAHRE später hat sich nichts  verändert.  Gefangene wurden entlassen, wenn sie ihre Strafe abgesessen hatten und andere nahmen ihre Stelle ein. Jede Nacht nehmen israelische Soldaten  etwa ein Dutzend neue „gesuchte“ Palästinenser fest.

 

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es etwa 10 000 palästinensische Gefangene, Männer und Frauen, Minderjährige und alte Leute.

 

Alle unsere Regierungen behandelten sie wie Waren. Und Waren  verschenkt man nicht. Waren haben einen Preis. Viele Male war vorgeschlagen worden, einige Gefangene als  „gute Geste“ gegenüber Mahmoud Abbas zu entlassen, um ihn gegenüber Hamas zu stärken. All diese Vorschläge wurden von Ariel Sharon und Ehud Olmert zurückgewiesen.

 

Jetzt sind die Sicherheitsdienste gegen  einen Deal, um den Soldaten Gilat Shalit freizubekommen. Und nicht etwa wegen des horrenden Preises – 1400 zu eins. Im Gegenteil, für viele Israelis scheint es ganz natürlich, dass ein Israeli 1400 „Terroristen“ wert ist. Aber die Sicherheitsdienste bringen viel gewichtigere Argumente vor. Wenn Gefangene für einen „gekidnappten“ Soldaten entlassen werden, so wird dies die „Terroristen“ ermutigen, noch mehr Soldaten gefangen zu nehmen.

 

Mindestens einige der entlassenen Gefangenen werden zu ihren Organisationen und ihren Aktivitäten zurückkehren, was noch mehr Blutvergießen verursachen wird. Israelische Soldaten werden so gezwungen, ihr Leben zu riskieren, damit diese wieder verhaftet  werden.

 

Und da lauert noch etwas im Hintergrund: einige der Familien von bei Angriffen umgekommenen Israelis, sind in einer sehr lautstarken Lobby organisiert, die eng mit der extremen Rechten verbunden ist – sie werden einen Höllenspektakel veranstalten. Wie könnte diese bemitleidenswerte Regierung bar jedes öffentlichen Rückhaltes solchem Druck widerstehen?

 

 

FÜR JEDES dieser Argumente gibt es ein Gegenargument.

 

Die Gefangenen nicht zu entlassen, motiviert „Terroristen“,  ständig mehr Soldaten zu „kidnappen“. Schließlich  scheint nichts anderes, uns davon zu überzeugen, Gefangene zu entlassen.  Unter diesen Umständen  werden solche Aktionen große Popularität innerhalb der palästinensischen Öffentlichkeit erreichen, die  Tausende von Familien mit umfasst, die auf die Rückkehr ihrer Angehörigen warten.

 

Vom militärischen Standpunkt aus gibt es noch ein anderes starkes Argument: „ Soldaten werden nicht auf dem Schlachtfeld gelassen“. Dies ist eine heilige Maxime, eine Säule der Armee-Moral. Jeder Soldat muss wissen: wenn er oder sie gefangen genommen wird, dann  wird die israelische Armee alles – wirklich alles – tun, um ihn oder sie frei zu bekommen. Wenn diese Überzeugung untergraben wird,  werden Soldaten dann  noch bereit sein, ihr Leben in der Schlacht zu riskieren?

 

Außerdem  zeigt die Erfahrung, dass ein großer Teil der palästinensischen Gefangenen nicht in den Teufelskreis der Gewalt zurückkehrt.  Nach Jahren der Gefangenschaft  haben sie nur noch den einen Wunsch, in Frieden zu leben und ihre Zeit mit  ihren Kindern  zu verbringen. Sie üben einen mäßigenden Einfluss auf ihre Umgebung aus.

 

Und was den Rachedurst der Familien von „Terroropfern“ betrifft – wehe der Regierung, die solchen Emotionen, die es natürlich auf beiden Seiten gibt, nachgibt.

 

 

DAS POLITISCHE Argument ist ein zweischneidiges Schwert: es gibt den Druck von Seiten der „Terroropfer“ – aber auch den noch stärkeren Druck von Seiten der Familie des gefangenen Soldaten.

 

Im Judentum gibt es ein Gebot, das „Freikauf von Gefangenen“ genannt wird. Es ging aus der geschichtlichen Realität einer verfolgten Glaubensgemeinschaft hervor, die über die ganze Welt zerstreut ist. Jeder Jude ist verpflichtet, jedes Opfer zu bringen und jeden Preis zu zahlen, um einen anderen Juden aus dem Gefängnis zu holen. Wenn türkische Piraten einen Juden aus England gefangen nahmen, dann bezahlten die Juden aus Istanbul das Lösegeld für seine Entlassung. Im heutigen Israel gilt diese Verpflichtung auch .

 

Versammlungen und Demonstrationen werden jetzt für die Entlassung von Gilad Shalit veranstaltet. Die Organisatoren sagen nicht offen, dass es ihr Ziel ist, Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie dem Gefangenenaustausch zustimmt. Aber da es keinen anderen Weg gibt, ihn noch lebend zurück zu erhalten, ist dies praktisch die Botschaft.

 

Die Regierungsmitglieder sind nicht zu beneiden, die sich in solch einer Zwickmühle befinden. Zwischen zwei schlechten Optionen gefangen, ist es die natürliche Tendenz eines Politikers wie Olmert, sich gar nicht zu entscheiden und alles aufzuschieben. Doch das ist eine dritte schlechte Option und  zudem eine mit  einem hohen politischen Preis.

 

 

DAS STÄRKSTE emotionale Argument, das von den Opponenten dieses Handels ausgesprochen wird, ist, dass die Palästinenser die Entlassung von Gefangenen  verlangen. an deren Händen „Blut klebt“. In unserer Gesellschaft genügen die Worte „jüdisches Blut“ – zwei besonders beliebte Worte der Rechten – um  auch viele Linke verstummen zu lassen.

 

Aber das ist ein dummes Argument. Es ist auch verlogen.

 

In der Terminologie des Sicherheitsdienstes wird diese Definition nicht nur für eine Person angewendet, die selbst an einer Aktion teilgenommen hat, in der Israelis getötet wurden, sondern für alle, die die Aktion mitkonzipiert,  dazu den Befehl gegeben,  sie  mit organisiert und bei der Durchführung geholfen haben -  also die Waffen vorbereitet, den Angreifer zum Tatort begleitet haben etc.

 

Nach dieser Definition hat jeder Soldat und Offizier der israelischen Armee und viele Politiker „Blut an seinen Händen“.

 

Ist jemand, der Israelis getötet oder verwundet hat, anders als der israelische Soldat der Vergangenheit und Gegenwart? Als ich ein Soldat im Krieg von 1948 war, in dem Zehntausende von Zivilisten, Kämpfern und Soldaten auf beiden Seiten umkamen, war ich ein Maschinengewehrschütze in der Kommando-Einheit der Samsonfüchse. Ich verschoss Tausende von Kugeln, vielleicht Zehntausende und zwar meistens nachts. Ich habe nicht gesehen, ob ich jemanden damit getroffen hatte und wenn ja, wen. Hab ich Blut an meinen Händen?

 

Das offizielle Argument ist, dass die Gefangenen keine Soldaten seien, und deshalb seien sie keine Kriegsgefangenen, sondern gewöhnliche Kriminelle, Mörder und deren Komplizen.

 

Das ist kein originelles Argument. Alle Kolonialregime der Geschichte haben genau dasselbe gesagt. Kein ausländischer Herrscher, der den Aufstand eines unterdrückten Volkes bekämpft, hat jemals den Feind als legalen Kämpfer anerkannt. Die Franzosen erkannten den algerischen Freiheitskämpfer nicht an; die Amerikaner erkennen den irakischen und afghanischen Freiheitskämpfer nicht an – das sind alles Terroristen, die gefoltert und in verabscheuenswürdigen Haftzentren gehalten werden dürfen. Das südafrikanische Apartheidregime behandelte Nelson Mandela und seine Kameraden wie Kriminelle, so wie die Briten Mahatma Gandhi und (vor 1948) die Kämpfer des hebräischen Untergrundes in Palästina . In Irland wurden die Mitglieder des irischen Untergrundes gehängt. Sie hinterließen  bewegende Lieder („Erschieße mich wie einen irischen Soldaten, häng mich nicht auf wie einen Hund; denn ich kämpfte für Irlands Freiheit an jenem dunklen Septembermorgen …“)

 

Die Fiktion, dass Freiheitskämpfer gewöhnliche Kriminelle sind, ist für die Legitimation eines Kolonialregimes nötig, und macht es für  einen Soldaten leichter, sie zu erschießen. Das ist natürlich verzerrt. Ein gewöhnlicher Krimineller handelt im eigenen Interesse. Ein Freiheitskämpfer oder „Terrorist“ ist – wie jeder Soldat – davon überzeugt, dass er seinem Volk oder  seiner Sache dient.

 

 

PARADOX  an dieser Situation ist, dass die israelische Regierung mit Leuten verhandelt, die selbst  in israelischen Gefängnissen saßen. Wenn unsere Führer über die Notwendigkeit sprechen, die „moderaten“ palästinensischen Kräfte zu stärken, meinen sie vor allem diese.

 

Das ist ein Kennzeichen der palästinensischen Situation, von der ich bezweifle, dass es sie in anderen besetzten Gebieten gibt. Leute, die fünf, zehn oder gar 20 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht haben und die alle Gründe der Welt haben, uns wie die Pest zu hassen, sind bereit, Beziehungen mit Israelis zu knüpfen.

 

Da ich einige  von ihnen kenne und einige als enge Freunde gewinnen konnte,  habe ich mich viele Male darüber gewundert.

 

Auf internationalen Konferenzen bin ich irischen Aktivisten  begegnet. Nach einigen Glas Bier erzählten sie mir, dass es für sie kein größeres Vergnügen im Leben gebe, als Engländer zu töten. Das erinnerte mich an das Lied unseres Dichters Nathan Altermann, der zu Gott betete: „Gib mir Hass – so grau wie ein Sack“ (gegen die Nazis). Nach Jahrhunderten der Unterdrückung waren das ihre Gefühle.

 

Natürlich hassen meine palästinensischen Freunde die israelische Besatzung. Aber sie hassen nicht alle Israelis, nur weil sie Israelis sind. Im Gefängnis haben die meisten gut Hebräisch gelernt , israelisches Radio gehört, israelische Zeitungen gelesen und israelisches Fernsehen gesehen. Sie wissen, dass es die verschiedensten Arten von Israelis gibt, so wie es  auch alle Arten von Palästinenser gibt. Die israelische Demokratie, die es Knessetmitgliedern erlaubt, den eigenen Ministerpräsidenten zu verunglimpfen,  hat eine tiefen Eindruck bei ihnen hinterlassen . Wenn die israelische Regierung Bereitschaft zeigt, mit Palästinensern zu verhandeln, wären die besten Partner dafür unter diesen früheren Gefangenen zu finden.

 

 

Dies trifft auch für die Gefangenen zu, die jetzt entlassen werden sollen. Wenn Marwan Barghouti frei kommt, wird er mit großer Selbstverständlichkeit Ansprechpartner bei allen Friedensbemühungen sein.

 

Ich wäre sehr glücklich darüber, wenn sie beide, er und Gilath Shalit, frei kämen.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)