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Der israelisch-palästinensische Konflikt: Chancen und Herausforderungen für eine Nahost-Friedenskonferenz

Die Rolle des Völkerrechts und der UNO-Beschlüsse

von Norman Paech *

 Vortrag in Kairo, 24.02.2007

 

aus http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Nahost/paech-kairo.html

Die Palästina-Frage ist seit fast 40 Jahren ungelöst. Die permanente Verschärfung des Besatzungsregimes durch militärischen Terror, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die Verschärfung der Lebensbedingungen der Palästinenser haben immer wieder blutige Gegengewalt und Terror gegen israelische Zivilisten erzeugt. Der Zirkel von Gewalt und Gegengewalt ist entgegen den weitverbreiteten Hoffnungen auch nicht durch den Rückzug der Israelis aus dem Gaza-Streifen durchbrochen worden. Er hätte ein Signal der Entspannung und des Beginns eines Friedensprozesses sein können. Er wurde jedoch von dem weiteren Ausbau der Siedlungen in der Westbank und dem ausdrücklichen Bekenntnis Ariel Scharons begleitet, den größten Teil der Westbank Israel einzuverleiben. Sein Nachfolger Ehud Olmert hat diese Politik umzusetzen versucht, als er mit seinem sog. „Konvergenz-Plan“ ganz offen die Annexion auch jener Gebiete ankündigte, die von der Mauer aus dem palästinensischen Territorium herausgeschnitten werden. Dieser Plan hat nicht nur keine Perspektive für einen Friedensprozess eröffnet, sondern die Widersprüche der propagierten Zwei-Staaten-Lösung weiter radikalisiert. Diese haben schließlich Formen eines Bürgerkrieges im Gaza-Streifen angenommen, als Israel, die USA und die EU-Staaten das Ergebnis der demokratischen palästinensischen Wahlen nicht akzeptieren wollten und mit Boykott und Blockade der Hamas-Regierung die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen weiter schürten. Die Staaten müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie mit der gezielten militärischen Unterstützung der von Präsident Abbas geführten Fatah die eskalierende Gewalt im Gaza-Streifen gezielt gefördert haben.

 

Betrachten wir angesichts dieser zugespitzten Situation die Möglichkeiten einer politischen und friedlichen Lösung auf der Basis der anerkannten Prinzipien des universellen Völkerrechts (international law). Danach sind es vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um den permanenten Kriegszustand zwischen Israelis und Palästinensern zu beenden und in einen dauerhaften Frieden zu überführen:

Räumung aller Siedlungen auf der Westbank und Rückzug aller militärischen und zivilen Einrichtungen von palästinensischem Territorium nach Israel.

Aufgabe der Annexion Ost-Jerusalems und Einrichtung einer geregelten Kohabitation aller Völker und Regionen in dieser Stadt.

Übereinkommen über die Rückführung der Flüchtlinge und Vertriebenen, den Umfang, die Entschädigung bzw. die Alternativen.

Bildung eines souveränen palästinensischen Staates.

Dieses Konzept entspricht dem aktuellen Standard völkerrechtlicher Regeln, wie sie die UNO in ihren Resolutionen seit Jahrzehnten angewandt und der Internationale Gerichtshof in Den Haag in seinem jüngsten Gutachten noch einmal zusammengefasst hat. Ich werde versuchen, diese Regeln an zwei zentralen Ereignissen der israelisch-palästinensischen Geschichte darzulegen: die Annexion Ost-Jerusalems und der Bau des aus Mauer und Zaun bestehenden Grenzwalls entlang der Waffenstillstandslinie. Die Umstände und Folgen beider Maßnahmen machen zugleich die außergewöhnlichen Schwierigkeiten und Hindernisse deutlich, die einer Restitution des ursprünglichen Zustandes bzw. einem vertraglichen Ausgleich der vitalen Interessen beider Seiten entgegenstehen.

 

Die Annexion Ost-Jerusalems

Am 30. Juli 1980 verkündete die israelische Knesset das «Grundgesetz», mit dem sie Jerusalem zur Hauptstadt erklärte und den 1967 eroberten Ostteil Jerusalems faktisch annektierte. Eine «historische Tat», die die Verhältnisse in und um Jerusalem nicht grundlegend veränderte, allerdings einen Zustand besiegelte, den die israelische Politik seit der Staatsgründung 1948 systematisch verfolgt und in stetigen Schritten der Enteignung, Vertreibung und Zerstörung palästinensischen Lebens in der bis 1967 zweigeteilten Stadt durchgesetzt hatte.

 

Die Situation im Jahre 1980 war gekennzeichnet durch den Terror, den die Likud-Regierung unter Begin und Sharon im Frühjahr gegen die palästinensischen Bürgermeister verschärft hatte, und dem die Bürgermeister von Hebron, Chalchul, Ramallah und Nablus durch Attentate und Deportationen zum Opfer fielen. Der Geist des Camp-David-Abkommens von 1978, für welches Begin den Friedensnobelpreis bekommen hatte, entpuppte sich als der, der ihm von Begin eingehaucht worden war: ein weiterer Schritt zur Zerstörung der palästinensischen Identität.

 

Die Vereinten Nationen hatten das Camp-David-Abkommen umgehend als völkerrechtswidrig abgelehnt, da die Palästinenser an ihm nicht beteiligt worden waren. Noch im Juni 1980 hatten sie die Regierung gewarnt, «dass alle legislativen und administrativen Maßnahmen und Aktionen der Besatzungsmacht Israel, die eine Veränderung des Charakters und des Status der Heiligen Stadt Jerusalem zum Ziel haben, keine Rechtsgültigkeit besitzen, eine flagrante Verletzung des Vierten Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten darstellen und außerdem ein ernstes Hindernis auf dem Weg zu einem umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten bilden», ferner «dass alle derartigen Maßnahmen, die den geographischen, demographischen und historischen Charakter und Status der Heiligen Stadt Jerusalem verändert haben, null und nichtig sind und in Befolgung der diesbezüglichen Resolutionen des Sicherheitsrats rückgängig gemacht werden müssen» (UN-Sicherheitsrat Res. 476). Drei Wochen nach Verabschiedung des «Grundgesetzes» hat der Sicherheitsrat es für null und nichtig erklärt und die Regierung wegen der Völkerrechtsverletzungen scharf verurteilt (Res. 478). Die Einstimmigkeit der beiden Resolutionen wurde nur durch die Stimmenthaltung der USA getrübt, die jedoch für die Durchsetzung der Resolutionen nichts Gutes verhieß.

 

Inzwischen sind 43,5 Prozent des palästinensischen Territoriums in Ost-Jerusalem konfisziert und weitere 41 Prozent dürfen von Palästinensern nicht mehr bebaut werden. Unter den knapp 200.000 arabischen Einwohnern, die durch Vertreibung, Deportation und Ausbürgerung ständig dezimiert werden, haben sich inzwischen über 200.000 jüdische Siedler festgesetzt. 1972 war die Einwohnerschaft des dichtbesiedelten Ost-Jerusalems noch zu 98 Prozent arabisch gewesen. Nach dem Bau des jüdischen Viertels sank der Anteil 1983 auf 84 Prozent, weitere zehn Jahre später wurde er nur noch auf 70-75 Prozent geschätzt.[1] Am 10. Juli 2005 beschloss nun das israelische Kabinett, den Mauerbau auch durch Ost-Jerusalem zu führen und damit weitere 55.000 arabische Einwohner von dem Rest der Stadt abzutrennen. Damit wäre endgültig der alte Plan der «Judaisierung» Jerusalems, den Ariel Sharon als Wohnungs- und später als mächtiger Infrastrukturminister in der Likudregierung verfolgt hatte, durch das jüdische Übergewicht auch im alten arabischen Teil von Jerusalem gesichert.

 

Die israelische Regierung hatte bereits im letzten Sommer 2004 die Entscheidung getroffen, dass Grundbesitz in Ost-Jerusalem, welcher Palästinensern gehört, die dort jedoch nicht leben, entschädigungslos enteignet werden kann.[2] Die Grundlage dieser Maßnahme ist das Gesetz über das Eigentum Abwesender (Absentee Property Law) von 1950, mit dem bereits Tausende von Häusern und Ländereien der Palästinenser enteignet wurden, die während des Krieges von 1948 geflohen oder vertrieben worden waren.

 

Die neue „geheime“ Entscheidung ist jedoch in Verbindung mit der Mauer zu sehen, die viele Palästinenser von ihren Gärten, Olivenhainen und Ackerland trennt. Die besondere Situation Ost-Jerusalems ist nicht nur durch die Annexion im Jahre 1980 gekennzeichnet. 1967 hatte die israelische Regierung das Stadtgebiet Ost-Jerusalems verdreifacht und die Kommunalgrenzen ohne Rücksicht auf die palästinensischen Eigentümer quer durch ihre Gärten und Häuser gezogen. Nun können zahlreiche Palästinenser, die etwa in Bethlehem wohnen, ihres Landes beraubt werden. Im November 2004 sandte das Militär etlichen Landbesitzern einen Brief, in dem es ihnen mitteilte, dass ihre Gärten und Haine der Behörde für das Eigentum Abwesender (Custodian of Absentees Properties) Israel unterstellt würden.

 

Teil dieses annektierten Gebietes ist auch die Ortschaft Silwan, die sich von den südlichen Altstadtmauern Jerusalems bis in das Kidron-Tal erstreckt „ein Ort sowohl alter jüdischer (König David) als auch muslimischer (Prophet Mohammed) Vorväter“. Seit über zehn Jahren läuft hier schon ein Häuserkampf zwischen der Jerusalemer Stadtverwaltung und den arabischen Einwohnern, deren Wohnungen und Gärten enteignet und z.T. zerstört oder an jüdische Siedler vergeben werden.[3] Heute wohnen über 200 Siedler in Silwan, subventioniert und militärisch geschützt durch die Regierung. Jüngst jedoch hat der Oberbürgermeister von Jerusalem beschlossen, das Bustan-Viertel in Silwan mit seinen 88 Gebäuden komplett abzureißen und in einen Park, «die Landschaft der Vorväter», zu verwandeln, in dem auch archäologische Ausgrabungen vorgenommen werden sollen. 1000 Bewohner sind davon betroffen. Die «Park-Planungen» werden von vielen bezweifelt. Sie weisen darauf hin, dass dort mittelfristig weiterer Wohnraum für Siedler geschaffen werden soll, der die vereinzelten Häuser der Siedler in Silwan miteinander verknüpfen wird: «In Verbindung mit Siedlungen auf dem Ölberg und weiter östlich bildet sich quasi ein jüdischer Korridor von der Jerusalemer Altstadt bis nach Maale Adumin weit im Osten ... Zudem geht es darum, die Altstadt mit jüdischen Bewohnern zu umzingeln. So soll verhindert werden, dass sie Teil der Hauptstadt eines palästinensischen Staates wird, der irgendwann einmal gegründet wird. »[4] Ein genauerer Blick auf die Karte[5] zeigt, dass Silwan bereits durch die Mauer von seiner palästinensischen Nachbarschaft abgeschnitten und die Mauer bis Maale Adumin projektiert ist. Die Verbindung soll mit dem Bau von 3.500 Wohnungen verwirklicht werden. Darüber hinaus sind zwei weitere Siedlungen zwischen der Grünen Linie und der Mauer geplant: «Gevaot» im Etzion Block und «Zufim North» nahe Kalkilya.[6] Die Mauer wird den suburbanen Raum Jerusalems durchschneiden und willkürlich palästinensische Vororte voneinander isolieren. Der Mauerstreifen folgt weitgehend der östlichen Grenze des eigenmächtig definierten israelischen Stadtverwaltungsbezirks. Damit wird Ost-Jerusalem aus den palästinensischen Gebieten geradezu herausamputiert. Ja, man muss für die Palästinenser den noch weitergehenden deprimierenden Schluss ziehen, dass die Mauer vorwiegend die Siedler schützen soll und die Siedlungen wiederum den Verlauf der Mauer bestimmen, was in der Summe einen eigenständigen palästinensischen Staat verhindern soll.

 

Der Bau des Grenzwalls
Seit 1996 soll die israelische Regierung Pläne zur Abriegelung erwogen haben, um die Infiltration aus der nördlichen und zentralen Westbank zu unterbinden. Im Juli 2001 wurde ein erster Plan eines «Sicherheitszaunes» von 80 km im Kabinett verabschiedet, der sich bis Oktober 2003 zu einem in drei Phasen gestaffelten Plan eines 720 km langen Bauwerkes entlang der gesamten West Bank entwickelte. Diese von den Israelis «Sicherheitszaun» genannte Konstruktion besteht aus a) einem Zaun bzw. einer über 8 m hohen Betonmauer mit elektronischen Sensoren, b) einem bis zu 4 m tiefen Graben, c) einer zweispurigen asphaltierten Straße für Patrouillen, d) einem Spurenstreifen aus Sand parallel zu Mauer oder Zaun, um Fußspuren zu identifizieren und e) einem Stapel von 6 Rollen Stacheldraht, der die Umzäunung des gesamten Komplexes markiert. Das Ganze hat einen Durchmesser von 50 bis 70 m, der sich allerdings bis auf 100 m ausdehnen kann. Im Norden begonnen, schieben sich die Bauarbeiten im Osten Israels fast ausschließlich auf palästinensischem Gebiet bereits weit in den Süden bis nach Jerusalem vor. Die Grenzmauer weicht im Durchschnitt 7,5 km von der Grünen Linie zu Lasten palästinensischen Gebietes ab, bezieht Siedlungen ein, durchschneidet Dörfer und schnürt selbst größere Ortschaften von ihrem Hinterland ab. Nur im Bereich Tulkarem weicht der Wall 1 bis 2 km auf israelisches Gebiet aus.

 

Wird der Grenzwall entsprechend den vorliegenden Plänen vollendet „weder Scharon noch Olmert haben jemals eine Unterbrechung der Arbeiten wie auch des Ausbaus der Siedlungen in Aussicht gestellt“ , dann werden weitere 16,6 Prozent des Territoriums von den Westbank abgeschnitten mit 237.000 Palästinensern und 320.000 jüdischen Siedlern, das sind etwa 80 Prozent der Siedler in den Westbank. 160.000 Palästinenser werden dann in fast vollkommen durch die Grenzmauer eingekreisten Kommunen leben wie heute schon in Kalkilya. In dieser ca. 40.000 Einwohner zählenden Ortschaft haben seitdem etwa 600 Läden schließen müssen, und an die 8.000 Menschen haben die Region verlassen. Im Oktober 2003 haben die israelischen Streitkräfte Verordnungen erlassen, die das palästinensische Gebiet zwischen der Grünen Linie und der Mauer zu einer «closed area» erklärten. Das bedeutet, dass Palästinenser, die dort leben oder dort ihre Gärten und Felder haben, nicht mehr das Gebiet betreten dürfen, wenn sie nicht über eine von den israelischen Behörden ausgestellte Erlaubnis oder Ausweis verfügen. Diese werden aber nur für eine begrenzte Zeit ausgegeben. Israelische Bürger hingegen und solche Ausländer, die nach dem Rückkehrergesetz befugt sind, nach Israel einzuwandern, können sich ohne Erlaubnis in der «closed area» bewegen oder dort bleiben. Sie können nunmehr auch auf dem freien Markt Olivenbäume erwerben, die von jenem durch die Mauer abgeschnittenen Land stammen, wie Haaretz jüngst berichtete. Palästinenser können ihre Wohn- und Arbeitsplätze nur durch bestimmte Tore erreichen oder verlassen, die unregelmäßig und nur für kurze Zeiten geöffnet werden.

 

Gleichzeitig meldet Agence France Press, dass israelische Bulldozer die Arbeiten an einem der am meisten umstrittenen Abschnitte des Grenzwalls um die Siedlung Ariel herum wieder aufgenommen haben. Diese Siedlung ist eine der größten mit etwa 20.000 jüdischen Siedlern und ragt tief in die West Bank hinein. Die Arbeiten an dem Grenzwall waren im Sommer 2004 auf Grund palästinensischer Einsprüche vor israelischen Gerichten gestoppt worden. Nun sollen individuelle Zäune um Ariel und einige benachbarte Siedlungen errichtet werden, über deren Verbindung mit der übrigen Mauer später entschieden werden soll.

 

Von Anfang an war der internationalen Öffentlichkeit klar, dass dieses gigantische Bauwerk nicht nur der Sicherheit vor der Infiltration von Selbstmordattentätern diente, sondern die weitere Beschneidung und Zerstückelung palästinensischen Territoriums zur Unterminierung eines separaten palästinensischen Staates zum Ziel hatte. Dies bewog die UN-Generalversammlung auf ihrer 10. Notstandssondertagung am 8. Dezember 2003 eine Resolution zu verabschieden, mit der sie den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag zur Beantwortung folgender Frage aufforderte:

 

«Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus der Errichtung der Mauer, die von der Besatzungsmacht Israel in dem besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich in Ost-Jerusalem und seiner Umgebung, gebaut wird, wie in dem Bericht des Generalsekretärs beschrieben, unter Berücksichtigung der Normen und Grundsätze des Völkerrechts, einschließlich des Vierten Genfer Abkommens von 1949, und der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung?» (UNGV Res. ES-10/14).

 

Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH)
Der IGH hat am 9. April 2004 ein umfassendes Gutachten veröffentlicht, in dem er sich sehr intensiv mit den juristischen Fragen auseinandergesetzt hat. Am Ende seiner Prüfung kommt er zu dem fast einstimmigen Ergebnis, dem nur der US-amerikanische Richter Buergenthal widersprochen hat, daß der Bau der Mauer und das mit ihm eingeführte Grenzregime eine Verletzung des Völkerrechts bedeuten.

 

Der Gerichtshof hat in dem ganzen Komplex einen schweren Verstoß gegen den Internationalen Pakt über die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte sowie die Konvention über die Rechte der Kinder gesehen.[7] Bereits in der ersten Phase des Baus wurden nach Feststellung des Gerichtshofes etwa 10.000 ha fruchtbarsten Ackerlandes, Olivenhaine, Zitrusplantagen, Gewächshäuser und Brunnen konfisziert und zerstört. Der Gerichtshof hat sich auch nicht von Israels Begründung überzeugen lassen, dass der «Sicherheitszaun» aus Sicherheitsgründen notwendig sei, da er zu diesem Zweck ohne weiteres auf israelischem Territorium ohne Verletzung der Rechte der Palästinenser hätte errichtet werden können.[8]

 

Der IGH konnte auch nicht das wohl schwierigste und für die kommenden Verhandlungen wichtigste Thema, die Siedlungen, umgehen. Wir erinnern uns: nachdem sich auch die PLO zu einer definitiven Trennung von Juden und Arabern und einer Zwei-Staaten-Lösung durchgerungen hatte, bot sie den jüdischen Siedlern an, dort zu bleiben, wo sie jetzt wohnen, wenn sie die palästinensische Souveränität in gleichem Maße anerkannten wie es die palästinensischen Einwohner in Israel mit der israelischen Souveränität tun. Die jüdischen Siedler hatten entrüstet abgelehnt, so dass es in den zukünftigen Verhandlungen darum gehen wird, ihre Umsiedlung nicht nur aus dem Gaza-Streifen sondern auch aus der Westbank und von den Golan-Höhen zu vereinbaren. Nun hat der Gerichtshof erneut klar gemacht, dass die Mauer und die ihn begleitenden Regelungen eine unübersehbare demographische Veränderung bewirken werden, die der Vierten Genfer Konvention von 1949 und zahlreichen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats widersprechen: «Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder entsenden», heißt es in Artikel 49 Abs. 6 der Vierten Genfer Konvention.

 

Der Sicherheitsrat hat seine Position immer wieder bestätigt und die israelische Siedlungspolitik als «flagrante Verletzung» der Vierten Genfer Konvention verurteilt.[9] Der IGH hat diese Bewertung noch einmal unterstrichen und zugleich klargestellt, dass die berühmte Resolution 242 vom 22. November 1967 den Rückzug der Besatzungsmacht aus dem gesamten besetzten Gebiet und nicht nur aus Teilen fordert.[10] Er ließ es dabei an Deutlichkeit nicht fehlen, wie z.B. in der Resolution 298 v. 25. September 1971, in der er feststellte, «dass alle legislativen und administrativen Aktivitäten Israels, um den Status von Jerusalem zu verändern, einschließlich Enteignung von Land und Eigentum, der Übersiedlung von Bevölkerung und dem Erlass von Gesetzen zur Einverleibung besetzten Gebietes, vollkommen unwirksam sind und den Status nicht verändern können».[11]

 

Es ist also vollkommen klar, dass alle einseitigen Maßnahmen Israels, sei es der Siedlungs- oder Mauerbau auf palästinensischem Gebiet oder die Annexion Jerusalems und der Golanhöhen, rechtlich unwirksam sind und zurückgenommen werden müssen. Sie dürfen im übrigen auch von keinem anderen Staat anerkannt werden. Das besagt allerdings nicht, dass sich die Parteien nicht vertraglich anders einigen können, als es der völkerrechtliche Kodex bestimmt.

 

Der Internationale Gerichtshof ist nicht bei der Feststellung des Völkerrechtsbruches stehen geblieben, sondern hat Israel aufgefordert, die Bauarbeiten einzustellen, die bereits errichteten Teile der Mauer abzureißen und alle damit in Zusammenhang stehenden Verordnungen und Regelungen zurückzunehmen. Gleichzeitig hat Israel alle verletzten natürlichen und juristischen Personen zu entschädigen oder, wenn möglich, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Alle anderen Staaten fordert der Gerichtshof auf, den rechtswidrigen Bau nicht anzuerkennen, keine Unterstützung für die Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, sondern sich im Gegenteil für ihre Beendigung einzusetzen.

 

So klar und unzweideutig die rechtliche Wertung des IGH ist, so hat das Gutachten dennoch nicht die Verbindlichkeit eines Urteils. Doch kann sich Israel nicht darauf berufen, denn der Gerichtshof hat all das Völkerrecht, in der UNO-Charta kodifiziert oder als Gewohnheitsrecht allgemein anerkannt, aufgezeigt und angewandt, an das jeder Staat, auch Israel, ohne Ausnahme gebunden ist. Die Weigerung der israelischen Regierung, sich an das Gutachten gebunden zu fühlen, der Weiterbau der Mauer und die wohlwollende Duldung durch die USA und die Staaten der EU bedeuten einen schwerwiegenden Verlust internationaler Rechtskultur, die ohnehin in den vergangenen Jahren gerade von diesen Staaten stark strapaziert worden ist.

 

Leider beteiligt sich daran nicht nur die israelische Regierung sondern auch der Oberste Gerichtshof Israels. Drei Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens hob das Oberste Gericht eine einstweilige Verfügung wieder auf, mit der es den Bau einer 8 m hohen Betonmauer direkt durch die Ortschaft Ar Ram auf dem Weg zwischen Jerusalem und Ramallah untersagt hatte. Diese Mauer schneidet die meisten der Einwohner von ihren Arbeitsplätzen, Schulen, der Gesundheitsversorgung und selbst dem Friedhof ab. Östlich von Ar Ram sind mehrere größere Wohnprojekte geplant. Das Gericht räumte zwar ein, dass die Palästinenser vor «übertriebener» Beeinträchtigung zu schützen seien,[12] sah in diesem Fall jedoch den Schutz der Sicherheitsinteressen Israels, namentlich der Siedlungen, als höherrangig an. Es brachte mit diesem Spruch nicht nur seine “völkerrechtswidrige“ Ansicht von der Legalität der Siedlungen, sondern auch die völlige Missachtung des Gutachtens des IGH und des internationalen Rechts zum Ausdruck.

 

Eine Nahost-Konferenz
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Das Bild ist uneinheitlich und eher deprimierend. Es gibt aber auch Regionen, in denen zumindest ein Fortschritt auszumachen ist, wo wie in Afrika die letzten Bastionen des alten Kolonialismus überwunden werden konnten, wo Militärdiktaturen beseitigt wurden wie in Lateinamerika und Staaten wie in Asien einen eigenständigen Weg aus der Unterentwicklung und alten kolonialen Abhängigkeit mit einigem Erfolg unternommen haben. Israel und Palästina gehören allerdings nicht zu diesen Plätzen des Fortschritts. Wir müssen uns eingestehen, dass es derzeit kaum eine andere Region in der Welt gibt, in der der Anspruch des Völkerrechts und der Zivilisation so weit von seiner Durchsetzung entfernt ist wie in Palästina. Die Spirale von Terror und Gegenterror hat zu einer völligen Erosion der zivilisierenden Regeln des Völkerrechts geführt, deren letzter Grund in der seit bald vierzig Jahre dauernden Besetzung Palästinas liegt. Dass der Abzug der jüdischen Siedler aus dem Gaza-Streifen nicht zum ersten Schritt aus der Barbarei des wechselseitigen Terrors geführt hat, ist von vielen skeptischen Beobachtern innerhalb und außerhalb Israels vorausgesagt worden. Nirgends woanders wie hier wird deutlich, dass die Ohnmacht der UNO nicht ihrer eigenen Unfähigkeit zuzuschreiben ist, sondern der Weigerung, die Vermittlungsdienste der UNO zu akzeptieren. So ist die UNO abgesehen von der Gründungsphase des israelischen Staates in allen späteren blutigen Konflikten auf die Rolle der Beobachterin und Kommentatorin beschränkt und in ihrer Aufgabe der Friedenssicherung und der Durchsetzung des Völkerrechts blockiert worden. Hier hat sich nichts verändert.

 

Es geht nicht nur um die Existenz eines Staates, des Staates Israel. Es geht um die Existenz zweier Völker und ihre friedlichen Koexistenz in zwei souveränen und unabhängigen Staaten, wenn denn die Chance ihres Zusammenlebens für die nahe Zukunft gescheitert ist. Das Völkerrecht definiert die Grundregeln der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern, wie sie jetzt der IGH mit seinem Gutachten noch einmal aufgezeigt hat. Diese Regeln können nicht einseitig aufgehoben werden. Wo das versucht wird, wird nie Frieden eintreten. Diese Regeln bleiben auch in den künftigen Verhandlungen um eine Lösung die Matrix, innerhalb derer sich die Übereinkunft bewegen muss. Sie definieren die Grenzlinien einer gerechten und akzeptablen Lösung, ob in der Frage der territorialen Grenzen, der Nutzung der Wasservorräte oder der Rückkehr der Flüchtlinge. Innerhalb ihrer Vorgaben gibt es eine Vielzahl möglicher vertraglicher Lösungen. Werden aber die Mindestanforderungen an Selbstbestimmung, Souveränität, territorialer Integrität und Menschenrechte missachtet, wird auch eine Übereinkunft am Widerstand der Völker scheitern, wie wir es bei den Verträgen von Camp David und Oslo erlebt haben. Die völkerrechtlichen Regeln sind, bis auf wenige absolut zwingende Prinzipien wie das Gewalt- und Folterverbot, Vorschläge für freie vertragliche Übereinkünfte. Selbst das strikte Annexionsverbot steht einer vertraglichen Abtretung besetzten Gebietes nicht entgegen, wenn sich die Parteien über die Bedingungen einigen. Hier liegt auch die Verantwortung der Staaten, die diesen Konflikt bis zu einem permanenten Kriegszustand haben eskalieren lassen.

 

Recht oder Gewalt, das ist die kurze Formel der Lehre aus fast sechzig Jahren Gewalt in den israelisch-palästinensischen Beziehungen. Dass die Alternative jetzt nur in der Beachtung des Rechts liegen kann, dürfte allen klar sein. Um sie in die Realität umzusetzen, dafür bedarf es allerdings mehr als die schlichte Hoffnung auf den selbsttätigen Lauf der Geschichte. Es bedarf der Kraft zum radikalen Wandel der Politik und der Einsicht in die Notwendigkeit eines souveränen palästinensischen Staates ohne jüdische Siedler auf dem Territorium der Westbank, des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems. Diese Kraft wird von den beiden Parteien allein nicht aufgebracht werden können, sie wird von den Staaten des sog. Quartetts zu fordern sein, die die Jahre der Konfrontation und zerstörerischen Politik in einen Prozess der Vertrauensbildung und Friedensstiftung umkehren müssen. Und sie werden in diesen Prozess alle Nachbarstaaten der Region einbeziehen müssen, die durch den anhaltenden Kriegszustand in Palästina selbst in ihrer Sicherheit, Stabilität und Entwicklung gefährdet sind. So läuft alles auf die Forderung nach einer umfassenden Nahost-Konferenz hinaus, die nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit Geduld und Verzicht auf die alten Positionen der Machtpolitik eine Region der höchsten Instabilität und des Krieges in eine Region des Friedens umwandeln muss.

 

Fußnoten

1. Vgl. N. Paech, Das verlorene Territorium des palästinensischen Staates. Israels Siedlungspolitik nach dem Oslo-Abkommen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1996 S. 1252 ff.

2. Greg Myre, Palestinians Fear East Jerusalem Land Grab, The New York Times v. 25. Januar 2005.

3. Vgl. N. Paech, Bantustan Palästina. Landenteignung und Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten. In: Demokratie und Recht 2/1992, S. 190 ff.; N. Paech, Das verlorene Territorium des palästinensischen Staates.1996.

4. So Meir Margalit von der Meretz-Partei, zit. nach Peter Schäfer, Wie Ost-Jerusalem geteilt wird. In: Telepolis v. 15. Juni 2005, www.heise.de/tp/r4/artikel/20/202999/1.html.

5. Vgl. B'tselem - The Israeli Information Center for Human Rights in the occupied Territories, The West Bank, Jewish Settlements and the Separation Barrier, Jerusalem, August, 2004.

6. Ha'aretz v. 25. Februar 2005.

7. IGH Gutachten v. 9. Juli 2004, Rz. 132 ff.

8. IGH Gutachten, Rz. 135 ff.

9. Vgl. z.B. Resolution 452 (1979) v. 20. Juli 1979 und Res. 465 (1980) v. 1. März 1980.

10. Die umstrittene Passage der Resolution lautet: «Withdrawal of Israel armed forces >from territories occupied in the recent conflict

11. Res. 298 v. 25. Sept. 1971: «All legislative and administrative actions taken by Israel to change the status of the City of Jerusalem, including expropriation of land and properties, transfer of populations and legislation aimed at the incorporation of the occupied section, are totally invalid and cannot change the status

12. Mit dieser Begründung hatte er die Trassenführung der Mauer an einigen Stellen korrigiert. So hat er etwa am 30. Juni 2004 den Verlauf in der Nähe des Dorfes Beit Sourk näher an die Grüne Linie verlegt.

* Vortrag in Kairo, 24.02.2007



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