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Nach ihr!
Gideon Levy, 17.3.07 – Haaretz
Als
alles vorüber war, gaben ihr die Soldaten
Keks und etwas Halva. Und um ganz sicher zu
sein, fügten sie noch eine Drohung hinzu: „Wage nur nicht, dies deinen Eltern
zu erzählen, sonst bringen wir dich um!“ Dies sagten sie zu ihr, bevor sie sie
gehen ließen; denn sie wussten, dass sie etwas Schreckliches getan hatten. Aber
die kleine Jihan erzählte es ihren Eltern. Die IDF
benützt kleine Kinder als menschliche Schutzschilde.
Was
diese Praxis betrifft, die als „frühe Warnung“ oder als „Nachbar-Prozedur“
bekannt ist, so schrieb der Präsident des Obersten Gerichtshofes Aharon Barak im Oktober 2005: „
Ich kam zu dem Schluss, dass die „frühe Warnung“-Prozedur nicht im Einklang mit dem Völkerrecht ist. Sie kommt sehr nah
an den Kern des Verbotenen und liegt in der Grauzone des Unvorschriftsmäßigen.“
(Er hat es noch viel komplizierter ausgedrückt – ER) …Wir erklären hiermit,
dass die „frühe Warnung“-Prozedur dem Völkerrecht
widerspricht“. So wurde diese Praxis als illegal erklärt, vom Obersten Gericht
also verboten. Na und? Anstelle von Männern, warum nicht kleine Mädchen dazu benützen? Die
„Nachbar-Prozedur“ ist verboten – wir werden die „Nachbars Tochter-Prozedur“
anwenden.
Jihan Dadush, 11, die in der Altstadt von Nablus
wohnt, wurde mit süßer Halwa und einem Keks belohnt,
nachdem Soldaten sie eines frühen Abends
veranlassten das Haus zu verlassen,
um sie zu einem Versteck von gesuchten Verdächtigen zu führen: einer dunklen,
verlassenen Wohnung, um nachzusehen, ob sich jemand dort versteckt hält oder ob
es dort Sprengkörper gibt. Sie machten
dann dasselbe mit Amid Amira,
einem 15jährigen Jungen in einem anderen Teil von Nablus.
Auch er wurde während der Dämmerung in eine dunkle Wohnung geschickt, um den
Ort genauer zu untersuchen. Arfa Amira,
12, wurde beauftragt, seine eigene Wohnung
zu überprüfen. Anstelle der berühmten „Nach mir!“-Ethik
des IDF-Erbes, heißt es nun „Nach ihr!“ – ein junges
Mädchen, das von bewaffneten Soldaten weggeführt wird, um sich hinter ihr zu
verstecken.
Wir
gingen mit zwei ausgezeichneten
Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisation B’tselem
durch die Gassen der Altstadt von Nablus – tausend
Jahre alte Gebäude, die es mit denen in der Jerusalemer Altstadt aufnehmen
können. Es waren Salma Dabi
und Abdel Karim Sa’adi. Zwei Wochen nach der letzten IDF-Operation war die Altstadt jetzt voller Leute. Es ist
die Zeit von Aqub, einer Pflanze, die nur kurze Zeit
in den Bergen wächst. Der Preis wird schon höher. Diese Woche wurde sie in der
Altstadt verkauft – 25 NIS das Kilo – es sind die Trüffel von Nablus.
Während
wir an Ständen mit Weintraubenblättern und Lammrippen vorbeigingen, betraten
wir ein halbdunkles Steingebäude. In seinem inneren Hof, in dem Wolldecken
gelüftet wurden, wurden während der „Operation Schutzschild“ 14 Leute getötet.
Fünf Jahre später während der „Operation warmer Winter“ haben Soldaten diesen unübersichtlichen, mysteriösen Bau mit
seinen schmalen Treppen, die in alle Richtungen führen, vier mal überfallen.
Nur die Einheimischen kennen diese engen Gassen und Durchgänge. Die Soldaten
suchten nach Tunnels. Aber in der Altstadt kann man über die Dächer von einem Gebäude zum andern
gehen.
Steile
Stufen führten uns zu der Wohnung der Dadush-Familie:
Tahni, Nimr und ihre vier
Kinder wohnen in drei kleinen sauberen Räumen mit Gewölbedecken. Während wir
auf Jihan warten, die bald von der Schule kommt,
erzählt uns Tahni, ihre Mutter, von ihren Alpträumen
während der 2Operation warmer Winter“ . Als die
Operation am 25. Februar begann, besetzten Soldaten zwei benachbarte Wohnungen.
Die Hawah und Jadallah-Familie
sollten sich in einem kleinen Raum zusammendrängen. Als eine Gruppe Soldaten in
die Wohnung der Hawah-Familie einbrachen, war dort schon eine andere Gruppe
Soldaten. „Sie waren geschockt, als sie andere Soldaten in der Wohnung
vorfanden,“ lachte Tahni.
Ein
paar Stunden später kamen sie zu ihrer Wohnung. Zu Neunt – einschließlich
Schwager und einer Schwester – waren sie gezwungen, sich in einem winzigen
Wohnzimmer, in dem wir jetzt saßen, sich aufzuhalten. Der Vater Nimr wurde verhaftet und zum Hawarra-Verhörzentrum
gebracht. Er kehrte nach 14 Stunden zurück. Er wird zu uns kommen, wenn er
seine Schicht im Restaurant in der Altstadt beendet hat. Mittags wollten die Soldaten aufs Dach,
nachmittags gingen sie wieder. In der Nacht war die Familie zu verängstigt, um
zu schlafen. Rund herum waren Soldaten. Es war eine sehr gespannte Lage.
Am
nächsten Abend etwa um sechs Uhr kamen die
Soldaten zurück, dieselben wie am Tag zuvor und waren überrascht, dass Nimr entlassen worden war. Diesmal brachten die Soldaten
sehr viel Ausrüstung mit, was Tahni noch ängstlicher
machte. Sie bat darum, in ihre Küche gehen zu können, um sich für eine längere
Besetzung des Hauses vorbereiten zu können. Die Soldaten waren damit
einverstanden. Wie wurde sie behandelt? Einige waren nett, einige nicht. Sie
befahlen den beiden Töchtern Jihan und Hanan, 11 und
15, nach draußen zu gehen. Dort wurden
sie getrennt und gefragt, ob sie wüssten, wo sich die gesuchten Männer verstecken würden. …
Die
beiden Mädchen kamen von dem kurzen Verhör zurück - direkt in die Arme ihrer erschrockenen
Mutter. Kurz danach kam ein Soldat wieder zurück und sah nach Jihan. Er befahl dem Kind, nach draußen zu gehen. Tahni schrie den Soldaten an: „Sie ist noch so klein, sie
ist ein kleines Mädchen und sie hat solche Angst!“ Aber er ignorierte dies.
Ihre Mutter war auch in Sorge um sie, weil sie einen angeborenen Herzfehler
hat. Der Soldat hinderte Tahni daran, das Haus zu
verlassen, um nachzusehen, was mit ihrer Tochter geschieht. Sie war nahe dran,
in Ohnmacht zu fallen. Sie versuchte eine Hilfsorganisation anzurufen, wie Medical Relief; dort sagte man ihr, sie könnten wegen der
Ausgangssperre nicht kommen.
Nimr, 36,
sagte zu den Soldaten: „ Nehmt mich mit ins Gefängnis oder zur Hölle, aber rührt das Mädchen nicht
an“ Aber sie stießen ihn beiseite, sagten ihm , er
solle still sein und im Raum bleiben. Tahni wagte, die Tür zu öffnen und sah, dass die Soldaten
und Jihan nicht mehr in der Nähe der Tür waren. Nun
begann der Alptraum der Familie.
Jihan
konnte ihren Eltern nicht gleich erzählen, was geschehen war – erst einige Tage
später. Die Soldaten hatten sie – wahrscheinlich – mit einem Shin Bet-Mann in Zivil nach
draußen genommen und ihr gesagt, ihr Vater hätte ihnen gesagt, sie wüsste, wo
sich gesuchte Männer verstecken würden. Sie sagten dem Mädchen außerdem, der
Vater hätte auch gesagt, sie kenne auch den Tunnel, in dem die gesuchten Leute
sich verborgen halten. Sie sagte zu ihnen, dass sie von einem Tunnel oder einer Wohnung keine
Ahnung habe. Sie sagten, sie lüge. Jihan sagte, die
Soldaten versuchten ihre Hände zu fesseln, aber sie ließt
es nicht zu. „Vor lauter Angst hätte sie auf eine seit langem leere Wohnung
gezeigt und gesagt, dort würden sich Leute verstecken,“
sagte die Mutter.
Drei
Soldaten nahmen sie zu der verlassenen Wohnung. Man befahl ihr die dunkle
Wohnung zu betreten und folgten ihr, die Gewehre auf
sie gerichtet. Einer der Soldaten beleuchtete den Weg. Jihan
bettelte darum, sie nach Hause gehen zu lassen.
Jetzt
kam Hanan, die ihre gestreifte
Schuluniform trug. Dann kam Nimr von der Arbeit. Er
spricht auch Hebräisch. Schließlich kam Jihan, auch in Schuluniform. Eine Sechs-Klässlerin,
die allerdings älter und reifer aussieht – ein fröhliches und energisches
Mädchen mit Pferdeschwanz. Sie überraschte uns mit der Bereitschaft, ihre
Geschichte zu erzählen.
„Die
Soldaten sagten mir, ich solle mit ihnen kommen. Einer fragte mich nach Tunnels
und nach den jungen Leuten. Ich sagte zu ihnen, dass ich nichts wüsste. Einer
sagte, ich sei eine Lügnerin. Sie drohten mir mit Haft. Ich hatte solche Angst.
Also erzählte ich ihnen, dass es da eine leere Wohnung gebe – vielleicht schlafen dort die gesuchten
Leute. Die Soldaten nahmen mich zu der von mir genannten Wohnung und danach brachten sie mich wieder zurück.
Nach einer halben Stunden kamen noch einmal zwei Soldaten und baten mich, nach
draußen zu kommen. Sie ließen mich vorneweg gehen, gingen hinter mir her und
hielten das Gewehr auf mich. Als ich zu der Wohnung kam, sagten sie, ich solle
hinein gehen. Mit einem Laserstrahl von ihrem Gewehr beleuchteten sie den Weg für
mich. Sie sagten mir, ich solle in die Küche gehen und in alle andern Räume.
Dann fragten sie mich, wie man aufs Dach komme.“
Jihan
kannte den Weg in und um die Wohnung; denn bis vor einiger Zeit lebte eine
ihnen befreundete Familie dort. Jihan sagt, die
Soldaten hätten in der Wohnung mit einander hebräisch gesprochen, das sie nicht verstand. Sie ließen sie in einem der Räume
und gingen zum Dach hinauf. Das Ganze dauerte anderthalb Stunden.
Nachdem
sie von den Soldaten entlassen worden war, kehrte sie etwa gegen 10 Uhr nach
Hause zurück und ging direkt ins Bett, zog sich die Bettdecke über den Kopf und
sagte kein Wort mehr. Ihre Mutter sagte, sie habe sehr ängstlich ausgesehen.
Oft rief sie nach der Mutter und fragte, ob die Soldaten noch mal gekommen seien.
In der Hand hielt sie Halva und ein Keks, das ihr die
Soldaten gegeben hatten. Sie habe in letzter Zeit wieder ins Bett gemacht.
Im
Al-Balat-Viertel von Nablus,
nur wenige Minuten Autofahrt von der Altstadt entfernt, wacht Amid Amira, 15, mit der Familie
bei einem lauten Knall auf. Das war etwa um 5 Uhr morgens am 25. Februar, am
Tag als die „Operation warmer Winter“ begann. Sieben Familienmitglieder waren
zu Hause, der Vater war gerade in Amerika. Eine Lärmgranate explodierte direkt
vor der Haustür. Die Rußflecken sind noch immer zu sehen. Die Löcher in der
Tür, in den Wänden und der Decke weisen darauf hin, dass innerhalb des Hauses
auch geschossen wurde.
Naima die
Mutter, öffnete die Tür und war erschrocken, dort Soldaten zu sehen. Man sagte
ihr, alle im Haus sollten herauskommen. Die ganze Familie, einschließlich zwei
Babys und einer 80jährigen Großmutter
mussten in die Wohnung der Nachbarn. Schließlich drängten sich drei Familien in
einem Raum. Die Soldaten befahlen Manal, Naimas 17 jähriger Tochter,
in ihre Wohnung zu gehen, alle Lichter anzumachen, alle Fenster zu öffnen, alle
Schränke und Türen zu öffnen. Manal verstand aber das gebrochene Arabisch der Soldaten
nicht. Deshalb nahmen sie Arfa, 12, und befahlen ihm,
alles zu öffnen und alle Lichter für sie anzumachen.
In
seiner noch kindlichen Sprache, erzählte Arfa, dass
einer der Soldaten ihn mit seinem Helm in die Stirne stieß. „Mein Kopf
schmerzte ein wenig,“ sagte er. Die Soldaten suchten
nach Amer, einem der Söhne, und nach Ala, dem Verlobten von Manal,
deren Bruder Omar Aqub auf der Liste der Gesuchten
steht. Sie fragten einen Sohn, Ahmed, 28, und als er ihnen erzählte, dass er
keine Ahnung habe, wo die beiden steckten, nahmen sie Amid
mit sich.
Amid:
„Sie sagten, sag uns, wo dein Bruder
Amer ist oder wir erschießen dich. Ich sagte den Soldaten
, dass ich es nicht wüsste. Er schlug mich von hinten. Dann fragten sie
mich, wem die Wohnung nebenan gehören würde. Ich sagte ihnen, sie gehöre meinem
Onkel. Dann sollte ich mit ihnen dorthin gehen. Dort hießen sie mich ins Haus
gehen, alle Türen und alle Schränke
öffnen und alle Lichter an machen. Sie warfen eine Rauchgranate hinein
und befahlen mir, hinein zu gehen. Sie folgten mir und gingen in alle Räume.
Mich steckten sie in den letzten Raum. Als sie nichts/ niemanden fanden, ließen
sie mich laufen. Er erhielt kein Halva und kein Gebäck.
Der
IDF-Sprecher antwortete, dass die Vorfälle untersucht
werden sollten.