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Mohammed al Dura lebt weiter

 

Gideon Levy, 7.10.07

 

Das Interesse, das Israel für das Schicksal eines palästinensischen Jungen zeigt, ist bewegend. Welches Theater wird doch um den Mord von Mohammed Al-Dura gemacht. Für das Schicksal der anderen getöteten Kinder interessiert man sich nicht. Nur gerade der kleine Mohammed verfolgt uns weiter. Aber die Frage, wer Al-Dura  erschossen hat, ist unwichtig. Einige Exzentriker meinen sogar, dass er lebt. Vielleicht hat er Selbstmord begangen, wie die seltsamen Untersuchungen leicht vermuten lassen.

 

All dies sind geschmacklose Fragen, die die Aufmerksamkeit  von den wirklich wichtigen Fragen ablenken: nach den von der Menschenrechtsorganisation B’tselem gesammelten Daten, ist Israel seitdem Al-Dura getötet wurde  für den Tod von mehr als 850 Kindern und Jugendlichen verantwortlich – 92 allein im letzten Jahr. Im letzten Oktober töteten wir 31 Kinder im Gazastreifen. Dies hätte eigentlich einen Sturm auslösen sollen und nicht die Maßnahmen durch den früheren Chef der IDF des südlichen Kommandos, Yom Tov Samiyeh, die beweisen sollten, dass nicht seine Soldaten  Al-Dura getötet haben. Oder die „Nachforschungen“  durch den Physiker Nahum Shahaf. In exzentrischer Manie widmete er die letzten Jahre dieser Sache, nachdem er vor kurzem „erstaunliches Material“ um den Mord an Yitzhak Rabin gefunden hatte.

 

Al-Dura weigert sich, von der Bühne abzutreten, weil er für den palästinensischen Kampf eine Ikone und für israelische Brutalität ein Symbol geworden war. Ein Tausend Nahum Sharafs wird es nicht gelingen, die eindeutige Tatsache des skandalösen Mordens von Kindern zu verzerren, das in den besetzten Gebieten stattfindet.

 

Selbst wenn der Direktor des Regierungspresseamtes, Danny Seaman, Recht hat, wenn er bestimmt, dass der Film, der vom zuverlässigen und erfahrenen französischen Journalisten Charles Enderlin gemacht wurde „gestellt“ worden sei und selbst wenn es ihm gelingt, Israel von diesem Mord  frei zu sprechen, was wollen wir denn über den Mord an den anderen Kindern sagen? Dass ihr Töten auch „gestellt“ war? Dass die IDF sie nicht aus Sorglosigkeit oder aus Verachtung gegenüber ihrem Leben tötete? Dass sie schießwütig sind oder gar vorsätzlich gehandelt hätten? Wenn Israel wirklich daran interessiert wäre, seine „PR“ zu verbessern, dann würde es die al-Dura-Familie annehmen, statt törichte Untersuchungen anstellen. Israel würde die Familie entschädigen und der Welt zeigen, dass  ihm  der Tod dieses einen Kindes wirklich und ernsthaft leid tut.

 

Die Frage, wer Al-Dura tötete ist wie die Frage, was murmelte Joseph Trumpeldor vor seinem Tod. Der Mythos ist in beiden Fällen stärker als  irgendeine Ermittlung. Al-Dura wurde ein Symbol, weil sein Töten auf einem Videofilm festgehalten wurde. Alle anderen Kinder wurden ohne Präsenz eines Filmgerätes getötet, deshalb ist keiner an ihrem Schicksal interessiert. Wenn es ein Filmgerät in Busharas Barjis Zimmer  im Jeniner Flüchtlingslager gegeben hätte, während sie für eine Prüfung lernte, würden wir einen Film haben, der zeigt, wie ein Scharfschütze auf ihren Kopf zielt. Wenn es einen Photographen  in der Nähe von  Jamal Jabaji aus dem Askar-Flüchtlingslager gegeben hätte, würden wir Soldaten sehen, die aus einem gepanzerten Jeep steigen und mit ihren Waffen auf den Kopf eines Kindes zielen, das Steine in ihre Richtung warf. Aber diese Kinder sind keine Symbole geworden. Es gibt keine Briefmarken, die ihre Portraits tragen, es gibt keine Straßen, die nach ihnen genannt werden und keine Lieder, die für sie komponiert wurden wie für al-Dura, weil sie  während ihres Todes  nicht gefilmt wurden.

 

Al-Dura wurde ein Symbol, weil jeder Kampf ein Symbol benötigt, eine Grab/Gedenkstätte für die Massen von toten und die anonymen Helden. Die Vermutung, dass die IDF-Soldaten,  die an der Netzarim-Kreuzung auf Palästinenser schossen, den Jungen töteten, wie er genau vor  sieben Jahren in den Armen des Vaters lag, ist die plausibelste. So weit wir uns erinnern können, gibt es keinen anderen Fall, in dem Palästinenser auf die IDF feuerten und ein palästinensisches Kind trafen.

 

Aber selbst wenn es darüber Zweifel gäbe, ist es sicher, dass die IDF Kinder getötet hat und weiter Kinder tötet. Also ist diese lächerliche im Mittelpunkt stehende Frage eine Frage, die nie beantwortet werden wird. Sie ist wie ein Sturm  im Wasserglas. Es sollte einen Sturm geben und zwar einen großen und mächtigen über ein völlig anderes Problem: Warum fährt die IDF mit solch erschreckender Geschwindigkeit fort, Kinder zu töten, und warum übernimmt Israel nicht die Verantwortung dafür und entschädigt die Familien der Getöteten?

Aber niemand führt über dieses Phänomen Ermittlungen durch.

 

(dt. Ellen Rohlfs)