Israel-Palästina Nahost Konflikt Infos
Und
beim Essen, noch ein Sprengsatz – Ein Tag im Leben ..
von Gideon Levy,
Ha'aretz 16.5.07
Drei
Stunden Alltags-Hölle im Flüchtlingslager Jenin. Aufzeichnungen aus dem Haus in der unteren
Gasse.
Eben
haben wir uns auf die Plastikstühle im Wohnzimmer gesetzt, da fängt es an, laut
zu werden. Ein Bumm nach dem anderen, Gewehrsalven. Sie kommen näher, einzeln
und geballt, zwischendurch kleine Pausen. Jamal gießt Kaffee ein, wie immer.
Noch eine Tasse, noch eine Zigarette. Das Schießen lässt nicht nach. Wie
geht's? Was gibt's Neues? Zweifellos wird ganz in der Nähe geschossen, gleich
neben der Hauswand. Am Checkpoint Jalamé, auf dem Weg hierher, haben wir gar
nicht acht gegeben: Eine Reihe von Panzerfahrzeugen der Armee, die seitlich
parkten und wahrscheinlich auf ihren Einsatz warteten.
Flugzeuge
der Luftwaffe am Himmel. Sie lassen die dünnen Wände mitsamt den Fenstern
erzittern. Auf der Straße geht das Leben weiter: Mittag, die Kinder mit den
Schultaschen auf dem Rücken kommen aus der Schule. Ihre Mütter stehen auf der
Straße und unterhalten sich, der fliegende Gemüsehändler preist seine Ware an,
und die Geschosse rücken näher. Als wäre nichts. Jetzt ist sogar dem
kampferprobten und leidgewohnten Jamal Zbeidi klar, dass im Lager etwas
passiert.
Gestern
spät am Abend waren Soldaten der israelischen Armee ins Lager eingedrungen und
hatten einen bewaffneten Jugendlichen am Bein verletzt. Dem jungen Mann gelang
es, zu entkommen, und er schaffte es bis ins nächste Haus. Die Nachbarn
verbanden sein Bein und versuchten, ihn zu überreden, bis zum Morgengrauen zu
warten, aber seine Schmerzen wurden stärker, und er flehte sie an, ihn ins
Krankenhaus zu bringen. Jamal bestellte den Krankenwagen. Als der vor der
Haustür angekommen war, landete plötzlich ein Militärjeep daneben, das nachts
an der Straßenecke gelauert hatte. Die Insassen, Soldaten, die es nicht wagten,
den mit Panzerplatten verkleideten Jeep zu verlassen, wiesen die Sanitäter an,
den Verletzten auszuliefern. Sie setzten ihn in den Jeep, befahlen dem
Krankenwagen, vor ihnen her zu fahren, und fuhren ab.
Kurz
zuvor war ein anderer junger Mann notfallmäßig ins Krankenhaus nach Nablus
transportiert worden. Er war am Kopf verletzt worden, bei einer Rauferei im
örtlichen Internet-Café, die sich dann zu einem Familienstreit entwickelte.
Inzwischen hatte das Lager-Komitee seit Stunden versucht, die beiden Familien
Shalabi und Ararwi zu beruhigen. Die Leute im Lager hatten nicht geschlafen.
Noch eine schlaflose Nacht. Nichts Außergewöhnliches.
Das
rote Telefon zirpt. Jamal ist Mitglied des Lager-Komitees; die Leute rufen bei
ihm an, um die neusten Nachrichten zu erfahren. Auch er telefoniert mit
Nachbarn und Informanten. Erste Information: Gerüchte über 'Mista'arvim' [als
'Araber' verkleidete Agenten der israelischen Armee], die sich in einem der
Häuser oben in der Gasse, in der wir uns befinden, verbarrikadieren. Bewaffnete
aus dem Lager haben das Haus unter Beschuss genommen.
Ein
Angestellter der Stadt Jenin ist nicht zur Arbeit erschienen. Der Verdacht
liegt nahe, dass er von den 'Mista'arvim' festgehalten wird, die bei Nacht und
Nebel in sein Haus eingedrungen waren, um sich dort zu verstecken. Jetzt ist es
kurz nach 12 Uhr mittags. Jamal meint, wenn sich 'Mista'arvim' im Haus
aufhalten, wird die Armee Leute schicken, um sie dort heraus zu holen.
Von
der Straße her hört man eilige Schritte. Wir kleben am vergitterten Fenster.
Drei Bewaffnete rennen die Gasse hinauf, in Richtung Schusswechsel. Jamal sagt,
vielleicht ist es ein Fehlalarm. Im Fernseher, der ununterbrochen läuft, ohne
Ton, erscheint bei 'Al Jazeera' Verteidigungsminister Amir Peretz. Der Muezzin
im Lager ruft zum Mittagsgebet, als wäre nichts geschehen. Wenn es Tote gibt,
werden die jungen Männer zur Moschee laufen und über Lautsprecher verkünden,
wer erschossen wurde. Mehr Schüsse.
Meine
Hände überziehen sich ganz langsam mit kaltem Schweiß. Wer von außerhalb
hierher kommt, bekommt es mit der Angst zu tun. Viel Angst. Der Ventilator an
der Decke dreht sich lautlos. Er lindert die Hitze, aber nicht die Angst. Jamal
bleibt cool. Er telefoniert mit einem der Bewohner der Häuser oben in der
Gasse, um Genaueres zu erfahren. Wenn er jetzt keine Gäste aus Israel hätte,
wäre er schon unterwegs. Die Schüsse kommen näher. Hani Damaj, wohnhaft im Auge
des Sturms, berichtet am roten Telefon: Es heißt, Soldaten haben sich im
Nachbarhaus verbarrikadiert, das die jungen Männer beschießen, wo der
Vorarbeiter Abu Eimad Gharib wohnt. Jamal bittet Damaj, Genaueres in Erfahrung
zu bringen. Er erinnert uns daran, dass wir in dem belagerten Haus schon zu
Besuch waren, damals, als Ariel Scharon ins Krankenhaus kam.
Noch
ein Gespräch: Die Nachricht, ein Magnum-Lieferwagen mit 'Mista'arvim' fahre im
Lager umher. Nicht empfehlenswert, im Moment mit einem Lieferwagen im Lager
umher zu fahren. Gharib, ein Mann von etwa 50 Jahren, wohnt im belagerten Haus
mit seiner Frau. Sie haben keine Kinder. Eine Gruppe von Kindern rennt gerade
die Gasse hinauf, in Richtung Schusswechsel. Sie tragen die Schulranzen noch
auf dem Rücken. Eine Gruppe Mädchen in ihren gestreiften Schulkleidern steigt
ebenfalls hinauf, aber langsamer. Es ist sehr heiß draußen.
Noch
ein Gespräch: Damaj bestätigt: Die Soldaten haben sich im Haus verschanzt.
Jamal erlaubt uns nicht, hinauszugehen. Das ist nicht der richtige Moment für
einen Israeli, im Lager spazieren zu gehen. Die Kinder sind nicht zu Hause.
Anton ist noch bei der Arbeit in der Autoreparaturwerkstätte, Najim arbeitet
als Wächter, Youssef und Hamudi, die beiden Jüngsten, sind auf dem Heimweg von
der Schule neben dem neuen Friedhof für die Gefallenen der zweiten Intifada.
Ihr Vater geht davon aus, dass sie mit den anderen Kindern dorthin gerannt
sind, wo gefeuert wird, um Steine auf die Jeeps zu werfen. Vor einigen Monaten
wurde Youssef von einer Kugel am Bein getroffen. Jamal bleibt gelassen. Er hat
wirklich schon alles gesehen. Mit eigenen Händen hat er Dutzende von Leichen
aus den belagerten Vierteln geborgen, damals nach der "Operation
Schutzschild", er verlor seinen Schwager und zwei Neffen, sieben Mal war
er ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis ["administrative Haft"].
Das
Telefon: Khaled Abu Al Haija, ein Bauarbeiter, der neben dem belagerten Haus
arbeitet. Er berichtet, es gäbe zwischen dem Lager und der Stadt Jenin noch
Autoverkehr, aber man höre jede Menge Gewehrsalven und Explosionen.
Verkehrsbericht aus Jenin. Ein paar hundert Meter von hier wurde vor einigen
Tagen die junge Bushra Al Wahsh in ihrem Zimmer erschossen, als sie sich gerade
auf eine Prüfung vorbereitete. Gerade jetzt erinnere ich mich an sie.
Ein
kräftiger Knall. Es war eine der Straßenrandbomben, die die jungen Männer für
die Jeeps ausgelegt haben. In letzter Zeit empfangen sie die israelische Armee
auch mit Gasballons am Straßenrand, die in die erst vor wenigen Jahren
reparierten Straßen tiefe Löcher reißen. ".. Welch himmlische Ruhe, wenn
ich nichts brauch' und auch nichts tue..." kommt mir ein alter Schlager in
den Sinn, da gibt's noch einen Knall, näher als vorher. "..und überm Lager
scheint der Mond, mit all den Sternen – wie gewohnt...." geht's weiter. Ich
stelle mir vor, wie beängstigend es nachts hier im Flüchtlingslager sein muss,
wenn die Armee kommt.
Wir
zappen den Fernseher auf den lokalen Sender "Farah", vielleicht
wissen die was Neues. Kurznachrichten der Station "Ma'an" laufen als
Textband unten auf dem Bildschirm. "Die israelischen Sicherheitskräfte
haben die Zuwege nach Jenin blockiert." Gleich danach: "Die
israelischen Sicherheitskräfte sind ins Flüchtlingslager Jenin
eingedrungen."
In
'Al Jazeera' wird über die Wahlen in Frankreich berichtet. Das Schießen hört
nicht auf. Ein Schul-Minibus setzt draußen Kinder ab. Die meisten von ihnen
rennen sofort nach oben, wo gefeuert wird. Der einzige Ort im Lager, wo
'action' geboten wird.
Ali
Samoudi, 'Al Jazeera'-Korrespondent in Jenin, wird angerufen. Er ist schon vor
Ort. Atemlos erzählt er, es stünden schon 20 Armeejeeps neben dem Haus, und
eine ganze Reihe davon parkten noch weiter unten, neben der Pferdeskulptur, die
irgendwann ein deutscher Künstler aus kaputten Krankenwagen konstruiert hat, an
der Grenze zum Lager, vor dem Eingang zum staatlichen Krankenhaus. Dort wird
jetzt gestreikt, weil die Mitarbeiter seit Monaten kein Gehalt bekommen. Noch
eine Explosion. Samoudi sagt, es gibt schon Verletzte. "Ich hoffe, ihr
kommt sicher hier raus, und wir haben keine Toten", bemerkt Jamal, unser
Gastgeber, trocken. Die Flugzeuge der israelischen Armee bieten noch einen
Überschall-Knall. "Das hat nichts damit zu tun", beruhigt uns Jamal.
"Wenn etwas schief geht, kommen Apaches [Helikopter]. Mit Apaches ist
nicht zu scherzen."
Ein
Nachbarjunge kommt ins Haus gerannt, verschwitzt, mit gerötetem Gesicht, eine
Zitrone in der Hand. Er kommt von dort. Es gibt schon zwei Verletzte, einer
davon schwer. Die Sirene eines vorüberrasenden Krankenwagens übertönt seine Worte.
Der kleine Usseid sagt, er habe keine Angst. "Vor denen soll ich Angst
haben?", meint der zierliche Junge. Ja, er hat sie mit Steinen beworfen.
Drei unbewaffnete Jugendliche fahren in einem uralten Traktor den Hügel hinauf.
Ein Taxi wendet, als es merkt, woher die Schüsse kommen. Als das Feuer
intensiver wird, sagt Jamal, das ist wahrscheinlich das Ende: Bevor die
Soldaten gehen, drehen sie noch mal auf. Das ist die gefährlichste Phase. Es
ist ein Uhr zwanzig.
Sana'a
Zbeidi serviert das Mittagessen: Ein Tablett gebratenes Hackfleisch mit
Erdnüssen auf Reis, Schüsseln mit Yoghurt, noch mal Fleisch. "Zwei
Verletzte, einer schwer", sagt sie, während sie den Tisch aufdeckt.
Direkter Report aus der Nachrichtenstation Küche im zweiten Stock.
Der
deutsche Außenminister trifft sich in 'Al Jazeera' mit Abu Mazen [Mahmoud
Abbas]. Draußen ächzt ein Lieferwagen, hält an, ein Kind steigt aus. Ali
Samoudi meldet die Ankunft eines Bulldozers der Armee. Ein Nachbar läuft
schreiend auf die Straße: Er hat seinen Sohn zur Arbeit geschickt und jetzt ist
er nicht da; bestimmt ist er 'dort hin' gelaufen. Dieser Nachbar hat vor
einigen Jahren innerhalb weniger Tage zwei Neffen verloren. Jetzt weiß er vor
Sorge um seinen Sohn nicht ein noch aus. Er läuft auf der Gasse hin und her,
murmelnd und fluchend. "Wenn du meinen Sohn siehst", brüllt er dann
in sein Handy, "sag ihm, Papa sucht ihn!" Wieder Gewehrsalven und das
Heulen eines Krakenwagens oben in der Gasse. Der Nachbar beschließt, ins
Krankenhaus zu fahren, um nachzusehen, ob sein Sohn, Gott behüte, dort gelandet
ist. Auch er hat von den Verletzten gehört.
Hamudi
ist nach Hause gekommen. Mit kindlicher Stimme und einem gewinnenden Lächeln
berichtet der Elfjährige direkt vom Ort des Geschehens: Es werden Steine auf
die Jeeps geworfen, man erzählt, die
Soldaten hätten versucht, jemanden kalt zu machen, der einen Soldaten
angeschossen hat. Ein Gerücht. "Hast Du Steine geworfen?" fragt der
Vater. "Nein, nur zugeschaut."
Und beide, Vater wie Sohn, wissen die Wahrheit. Nachts springt Hamudi zu den
Eltern ins Bett, wenn im Lager geschossen wird. Aber tagsüber ist er mutig wie
seine großen Brüder.
Das
Telefon kommt nicht mehr zur Ruhe. Gerade ist ein Mitarbeiter von
"Betzelem" [Menschenrechtsorganisation aus Israel und Palästina]
dran, Atef Abu Al Rub, der wissen möchte, was los ist. Sollen wir jetzt essen?
Ein Uhr fünfzig. Besorgte Frage: Wer ist jetzt an der Tür? Der fünfzehnjährige
Youssef ist noch nicht zurück. Sana'as Essen ist wie immer köstlich. Beim
zweiten Bissen noch ein Sprengsatz, ganz nah. Ein Traktor, der sich wie ein
Panzer anhört, jagt uns ans vergitterte Fenster mit den Plastik-Jalousien. Ein
Jeep mit behelmten Journalisten in schusssicheren Westen rast die Gasse hinauf.
Noch ein Krankenwagen in der selben Richtung, diesmal ohne Sirene. Youssef
kommt nach Hause. "Ich hab' nur zugeschaut", sagt er. Vier Kinder
sind von Gummigeschossen leicht verletzt
worden, meldet er. "Hast du den Schulranzen dabei?", fragt der Vater.
Ja, er hat ihn auf dem Hinweg an der Seite abgelegt, auf dem Rückweg wieder
mitgenommen. Es ist nach drei Uhr jetzt, und ruhig.
Der
Sprecher der israelischen Armee lässt verlauten, "Im Rahmen einer
Operation der Armee in Judäa und Samaria zum Schutz der Sicherheit der Bürger
des Staates Israel und zur Zerstörung der Terror-Infrastruktur, führt die Armee
Aktionen in der Gegend von Jenin durch, um die Infrastruktur des Terrors zu
eliminieren und Angriffe auf die Heimatfront zu verhindern. Am fraglichen Tag
wurden gegen die Armee Sprengsätze abgefeuert und die Sicherheitskräfte wurden
bei ihrem Einsatz in Jenin in mehreren Fällen unter Beschuss genommen. Es gab
keine Verletzten. Die Truppen schossen zurück."
Die
Straße ist mit Steinen übersät. Leise rieselt Wasser darüber; eine der
Wasserleitungen ist geborsten. Ein zerschlagenes Fenster, eine zerbrochene
Wand, Löcher in der Straße, von den Sprengsätzen. Die Wände sind verkohlt und
durchsiebt von Geschossen. Hier fand ein kleiner, alltäglicher Krieg statt.
Eine Gruppe bewaffneter junger Männer steht auf der Straße, neben dem Haus, das
belagert war. Um sechs Uhr nach dem Krieg. Sie kichern und lächeln, winken mit
dem Gewehr. Die Freude über einen kleinen Sieg, die Freude der Armen.
(dt.
Gudrun Weichenhan-Mer)