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Die Gefahr der „demographischen Bedrohung“

 

Gideon Levy, 22.7.2007

 

Teilen wir das Glück mit A. einem Bewohner des Haredi (ultraorthodoxen) –Stadtviertels von Mea Shearim in Jerusalem, der 450 Nachkommen hat. Wer kümmert sich schon  darum, dass sie Haredi sind. Man muss auch nicht traurig darüber sein, dass 23 % der Erstklässler  Haredi sind und 22 % Araber. Das ist eine natürliche Entwicklung in der Gesellschaft und es ist zweifelhaft, ob es irgendwelche legitime Mittel gibt, die das verhindern. Jeder , der dies als Gefahr ansieht, gefährdet den Charakter der Gesellschaft weit mehr als die tektonischen Demographieverschiebungen. Sollten wir tatsächlich das „Ende des Zionismus“ erreicht haben, wie der Titel eines Artikels von Nehemia Shtrasler  am letzten Donnerstag auf den Seiten dieser Zeitung geheißen hat, dann ist es nicht wegen der Demographie sondern wegen der Geographie (und der Moral).

 

Es gibt keine „demographische Bedrohung“ . Es gibt aber eine Bedrohung der Werte der Gesellschaft, die nicht von Statistiken  bestimmt wird, sondern vom Ausmaß der sozialen Gerechtigkeit. Die Rede von „demographischer Bedrohung“ ist nicht legitim. Man stelle sich einmal vor, was geschehen würde, wenn in den USA oder Europa eine Diskussion über das  „beunruhigende  natürliche Wachstum der Juden“ stattfinden würde. Und wer würde hier öffentlich die „Fruchtbarkeitstendenz“ der Mizrahim – der Juden aus dem Mittelmeerraum – zu betrachten wagen. Die wirklich gefährliche Bedrohung ist die Diskussion selbst.  Sie bestätigt der Entwicklung unserer Gesellschaft  sehr tiefgehende rassistische Normen gegenüber Minoritäten unter uns, auch wenn sie auf verschiedene Weisen  verdeckt sind.

 

Haredim oder Araber – sind beide Kinder dieses Landes . Es gibt keine demokratischen Mittel, um zu verhindern, dass sie ein größerer Teil unserer Gesellschaft werden. Kampagnen, um die Geburtenrate zu reduzieren, sind nicht weniger  abscheulich als Konzepte für Bevölkerungstransfer und ethnische Säuberung. 

 

Beide, die Linke und die Rechte, leiden unter diesem tödlichen Rassismus, der aus der Arroganz und der Furcht vor den anderen kommt. Der  politisch rechte Flügel versucht, uns  mit den  unheilvollen Voraussagen über das natürliche Wachstum der Araber des Landes zu erschrecken, während er gleichzeitig 3 Millionen Palästinenser  zu annektieren versucht. Die Linke – auch rassistisch – versucht uns mit abscheulichen Voraussagen über das Anwachsen der ultra-orthodoxen Bevölkerung zu erschrecken. Von verschiedenen Standpunkten ist der Rassismus gegenüber den Haredim noch ernster zu nehmen: er benützt antisemitische Terminologie und  es fehlt ihr nur die Ausrede für  nationale Feindseligkeit gegenüber den Arabern.

Der rassistische Diskurs ist in Israel und  der ganzen jüdischen Welt  zur Norm geworden. Es begann mit der „Gefahr der Assimilation“ und den „gemischten Ehen“ – ein äußerst rassistischer Terminus. Es ging dann weiter mit der „Gefahr der Haredimisation“ und endete mit der „Gefahr der arabischen Mehrheit.“  Demographen und Geographen veröffentlichen ständig  Voraussagen und Vorausplanungen und sind mit einander im Wettbewerb, wer der größere Unheilprophet ist. Ein fauler Geruch verbreitet sich von der Rede über „Fruchtbarkeitstendenzen“ und der vor ein paar Jahren  von Seiten der Regierung  errichteten „allgemeinen Beratungsstelle für Demographie“, unter deren Mitgliedern sich drei hochrangige Gynokologen befinden. Dies zeigt den Ernst der Pathologie, in der wir schon stecken.

 

Es ist wirklich wichtig, ob 3,5 Millionen Palästinenser in den (besetzten) Gebieten wohnen, wie die P.A behauptet oder 2,4 Millionen, wie ein amerikanisch-israelisches Team behauptet. Egal wie viel – Israel  wird ihnen nicht die Bürgerrechte gewähren. Zuweilen  wird  eine andere Million Juden in den USA gefunden, die aus der Statistik  verschwindet, weil sie  ihre Jüdischkeit  zu verdunkeln  vorzieht. Gibt es da einen Unterschied? Die Zukunft der jüdischen Gemeinde  wird weit mehr vom Engagement seiner jüdischen Mitglieder bestimmt, denn von ihrer Anzahl – genau wie die Zukunft der israelischen Gesellschaft weit mehr von  den Beziehungen zwischen seinen Gemeinden bestimmt ist als vom zahlenmäßigen Verhältnis.

 

Israel ist  eine Einwanderungsgesellschaft, die mit der einheimischen vermischt ist, ein multikulturelles Mosaik mit dem Potential, eine gerechte Gesellschaft zu werden. Wenn die Haredim keinen Armeedienst tun und nicht produktiv genug sind, bleibt die Verantwortung bei der säkularen Mehrheit, die dieses Phänomen zulässt. Wenn die Araber nicht genügend beisteuern oder dem Staat gegenüber  feindselig eingestellt sind, dann trägt der Staat dafür die Verantwortung. Man kann die ultra-Orthodoxen und die Araber kritisieren – man kann aber  nicht über ihre Gebärmutter bestimmen.

Kinder – Haredi, säkulare oder arabische – bereiten Freude, wenn man sich ordentlich und liebevoll um sie kümmert. Ihre Zahl ist nicht von den finanziellen Mitteln abhängig, sondern vom Glauben und den (inneren) Werten.  Diejenigen, die ein eigenes Land nach ihrem Geschmack wünschen, müssen darum kämpfen, dass  ein israelischer Ethos  aufkommt, der mit allen Teilen der Gesellschaft geteilt werden kann,  ganz gleich wie groß sie sind, die aber die rassistische Buchhaltung ablehnen.

 

(dt. Ellen Rohlfs)