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 Zwischen staatlicher Vernachlässigung und fehlendem Bewusstsein
Die Araber und das israelische Gesundheitssystem
Von Michal Schwartz

„Die palästinensische Minderheit in Israel hat eine niedrigere Lebenserwartung als die jüdische Mehrheit, sie ist häufiger krank und hat weniger Zugang zum Gesundheitssystem, aber auch zu gesundheitsfördernder Infrastruktur, also Kanalisation, Wasser, Elektrizität und Straßen“, so Shulamit Avni von den ,Ärzten für Menschenrechte’ in einem Interview mit der Zeitschrift
Challenge am 18. Juli 2007. Einer der Hauptindikatoren hierfür ist die hohe Kindersterblichkeit unter arabischen Israelis.

In den letzten Jahren ist die Kindersterblichkeit aufgrund des insgesamt hohen Standards der israelischen Gesundheitsversorgung gesunken, doch der Unterschied zwischen Juden und Arabern blieb. 2006 starben 3,23 von 1000 jüdisch-israelischen Kindern, von den arabisch-israelischen waren es 7,96 und bei Beduinen 15,8. Auch Kluft blieb auch bei zwei weiteren Indikatoren: der Sterblichkeitsrate insgesamt und der Lebenserwartung.
 
Zur ethnischen Diskriminierung kommt die soziale hinzu. Die Araber in Israel sind der ärmste Teil der Gesellschaft. Dementsprechend leiden sie am meisten unter der Privatisierung des Gesundheitswesens.


Arabische Wohngegend in Adjamee, einem Stadteil von Jaffa, Israel
 
Das neue Gesundheitsgesetz
 
Trotzdem sagen 91 % der Araber in Israel, sie seien mit der Gesundheitsversorgung des Landes zufrieden.. Der Grund liegt möglicherweise darin, dass das neue Gesundheitsgesetz von 1994 die gesamte Bevölkerung unter Strafandrohung verpflichtet hat, sich bei einer Krankenkasse registrieren zu lassen; die Beiträge sind niedriger als früher bei der freiwilligen Versicherung und werden direkt vom Gehalt abgeführt. Zuvor hatten ca. 190.000 Bürger des Landes – meist Araber – überhaupt keine Krankenversicherung.
 
Das neue Gesundheitsgesetz teilt den vier Krankenkassen die Gelder entsprechend der Zahl ihrer Mitglieder zu. Also begannen die Kassen mit der Werbung um Mitglieder, Sie fanden sie in entlegenen Regionen des Landes und unter den Arabern, die umgekehrt vom Bau neuer Praxen und damit leichterem Zugang zur ärztlichen Grundversorgung profitierten.

Den Ärzten für Menschenrechte zu Folge, schien das neue Gesetz zunächst eine „sehr fortschrittliche Integrationsmaßnahme (…). Doch bald wurde offensichtlich, dass das Gesetz nur ein weiteres Mittel zur Privatisierung der Gesundheitsversorgung war.“ Wie sie sagen, gestattete ein Ergänzungsgesetz zum Haushaltsplan von 1998 den Krankenkassen, „die Preise für Medikamente und medizinische Versorgung zu erhöhen und neue Beiträge für zusätzliche Dienstleistungen zu verlangen.“ 15 % aller Israelis berichteten 2005, sie könnten sich verordnete Medikamente nicht leisten. 2003 erklärten 39 % der Araber Israels diese entbehren zu müssen.
 
Die Verbindung zwischen Armut und Krankheit
 
Für den schlechten Gesundheitszustand der Araber in Israel sind auch die fehlende Infrastruktur, die beengten Wohnverhältnisse und die Sprachbarriere, die ihnen im Gesundheitssystem begegnet, verantwortlich (so findet man z.B. auf den Websites der Krankenkasse kein einziges arabisches Wort).
 
Doch der entscheidende Faktor ist die Armut. Zu diesem Schluss kam eine Studie mit dem Titel „Gleichheit und das israelische Gesundheitssystem: Relative Armut als Gesundheitsrisiko“ des Taub Center für Sozialpolitische Studien in Israel.
 
Die Studie stellt fest „das gesundheitliche Niveau in Israel“ gehöre „zu den höchsten der Welt“. Gleichwohl weist sie darauf hin, dass es extreme Unterschiede gibt, die in Zusammenhang mit der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage, Besonderheiten bestimmter Gruppen und der Verfügbarkeit medizinischer Dienstleistungen stehen. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Unterschiede zunehmen, wenn sich die derzeitige Entwicklung hinsichtlich der Einkommensunterschiede, der Subventionierung des Gesundheitssystems und der Verwendung der Mittel fortsetzt.“ Die Studie besagt, die zunehmende Ungleichheit verursache „eine Abnahme der Fähigkeit schwacher Bevölkerungsgruppen, gesundheitlich problematische Situationen zu meistern. (…) Dies gilt (…) insbesondere für die Randgebiete des Landes und den arabischen Bevölkerungsteil. Zusätzlich zum negativen Einfluss des Verteilungsmechanismus leiden sie auch darunter, dass es im Vergleich zu den zentralen Landesteilen weniger Krankenhäuser und Praxen gibt – obwohl der Gesundheitszustand dieser Teile der Bevölkerung schlechter ist.“


Sperrmüll in Jaffa, Israel

Die Taub Studie entdeckte sowohl bei Juden als auch bei Arabern einen Zusammenhang zwischen Sterblichkeitsrate und sozioökonomischem Index. Sie stellte fest, dass „das Problem unter der arabischen Bevölkerung akuter ist, weil dort die Armut verbreiteter ist.“ Sie konstatierte auch, dass „schwache Bevölkerungsgruppen, die unter (relativem) Mangel leiden, besonderen Risikofaktoren wie Tabak und Alkohol ausgesetzt sind. … Es gibt Hinweise darauf, dass Gesundheit auch durch psychologische Drucksituationen beeinträchtigt wird, wie soziale Isolation, niedriger sozialer Status, Druck am Arbeitsplatz und Arbeitsplatzunsicherheit.“ All dies passt auf die arabische Bevölkerung. Es schließt sich der Kreis, wenn der Verlust der Gesundheit des Verlust des Arbeitseinkommen nach sich zieht, ein Ansteigen der Arztkosten und folglich eine Zunahme der Armut.
 
Die Gesundheitsausgaben der Familien seien von 3,8 % auf 4,9 % gestiegen. Dies gehe auf Kosten anderer Ausgaben, wie der Zahnbehandlung, die in den Krankenkasse nicht inbegriffen ist, und verhinderr, dass die Leute die zusätzlichen Ausgaben für die ergänzende Gesundheitsversorgung auf sich nähmen. 2005 besaßen nur 47 % der arabischen Bevölkerung eine zusätzliche Krankenversicherung, verglichen mit 79 % der Gesamtbevölkerung.
 
Fehlender Zugang zu medizinischen Dienstleistungen
 
Obwohl die Zahl der Arztpraxen in arabischen Dörfern zunimmt, bleibt der Unterschied zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung Israels bestehen. In einem Artikel des Mossawa Centers im Juli 2007 heißt es, das Entwicklungsbudget des Gesundheitsministeriums belaufe sich auf 225 Millionen Schekel (NIS) – 55 Millionen US-$ – von denen 1,3 Millionen, etwa 0,4 %, für arabische Ortschaften gedacht seien, in erster Linie für den Bau von Familien-Gesundheitszentren. Dieser Art der Zuteilung ist typisch, jedoch sind fast 20 % der Gesamtbevölkerung Israels Araber.
 
2007 veröffentlichte das Mossawa Center Berichte über die Gesundheitsversorgung während des Libanonkriegs. Diese stellten fest, dass viele der Probleme, unter denen Araber während und nach dem Krieg litten, ihre Ursache in fehlender psychologischer Behandlung hatten. Den Schulen z.B. fehle es in beklagenswertem Maße an Arabisch sprechenden Psychologen. Ebenso fehle es an Notdiensten, wie Ambulanzen. Die drei Krankenhäuser in Nazareth, die einzigen arabischen Krankenhäuser in Israel übrigens, seien unzureichend ausgestattet.


Arabische Wohngegend im Süden Jaffas
Alle Fotos: Martina Schwarz


Versorgung zweiter Klasse

Seit der Ratifizierung des Gesundheitsgesetzes 1994 können sich Ärzte, die für dieselbe Krankenkasse arbeiten, zusammentun und eine eigene Praxis eröffnen - vorausgesetzt jeder von ihnen hat mindestens tausend Patienten in der Kartei. Die Ärzte arbeiten einen Teil ihrer Zeit in den normalen Praxen und danach arbeiten sie auf eigene Kosten. Die Krankenkassen weisen ihnen Patienten zu. Diese Praxen haben den Vorteil der Erreichbarkeit, denn viele von ihnen liegen in Dorfteilen ohne öffentliche Verkehrsanbindung, und sie bieten die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Andererseits entheben sie die Krankenkassen von der Verantwortung reguläre Polikliniken aufzubauen, ausgestattet mit Fachärzten und neuester Technik. 40 % der arabischen Patienten in Israel werden heute in solchen Praxen behandelt.

Patienten, die unter chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzleiden und Krebs leiden, werden an die Polikliniken oder Krankenhäuser überwiesen, doch die freien Praxen mit ihrem wenigen Personal und ihrer oft ungenügenden Ausstattung sind nicht in der Lage, die notwendige Weiterbehandlung durchzuführen. Den Patienten selbst ist im Allgemeinen der Notwendigkeit von Folgebehandlungen nicht klar. Diese Nachteile, sowie die weite Entfernung von Fachärzten und einer auf aktuellem Stand befindlichen Technik, machen einen Großteil der freien Praxen problematisch.

Umfassende Maßnahmen sind notwendig
 
Shulamit Avni wies auf den Kern des Problems hin: „Um die fortgesetzte Diskriminierung der palästinensischen Minderheit in Israel zu beenden, müssen der Staat – und seine diversen Behörden – eine langfristige Strategie entwickeln und die Verbesserung der Infrastruktur aktiv fördern. Eine solche Politik darf sich nicht nur darauf aus sein, die Unterschiede bei der Gesundheit auszugleichen, sondern muss eine erhebliche Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen im Auge haben (…). Dazu gehören Einkommens- und Bildungsunterschiede ebenso wie der Zugang zum Arbeitsmarkt.“ (YH)


Michal Schwartz, eine israelische Journalistin, schreibt u.a. für die israelische Zeitschrift ,Challenge', in der auch dieser Artikel im englischen Original entschieden ist. Frau Schwartz forscht und schreibt u.a. zur Lage der arabischen Bürger Israels und gilt als Expertin für die Situation der dort lebenden arabischen Frauen.

Aus dem Englischen von Endy Hagen

Online-Flyer Nr. 116  vom 10.10.2007